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Titel
Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne


Autor(en)
Krieger, Verena
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Cvetkovski, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Es gab im Zarenreich nicht wenige, die die russische Wirklichkeit mit ihrem sozialen Gefälle als bitter und entwürdigend bezeichnet haben. Ihnen war diese Wirklichkeit vor allem ein Widerstand, der politisch überwunden werden müsse, um eine andere, bessere Wirklichkeit nach Maßgabe der tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen gestalten zu können. Der Gegendruck der Realität stellte schon immer die sicherste Antriebsfeder eines jeden Wandels dar, denn er öffnete zugleich einen Raum für unterschiedliche utopische Entwürfe. Und daran ist die russische und sowjetische (Geistes-)Geschichte gewiss nicht arm. Utopien mussten in Russland vor 1917 jedoch nicht notwendig politische Züge tragen – sie konnten sich der Politik gegenüber durchaus indifferent verhalten, dafür aber einen gleichsam universellen Charakter annehmen. Die Monographie von Verena Krieger behandelt nun eine dieser Utopien, die eine „für die russische Kultur spezifische“ Verschränkung ästhetischer und lebensweltlicher Elemente vorweist und deren „radikale Ausprägung“ allein in Russland zu beobachten sei (S. 7) .

Ihre überwiegend ideengeschichtliche Untersuchung konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen 1890 und 1930 und versucht die gedanklichen Bezüge derjenigen offen zu legen, die davon träumten, die Wirklichkeit durch Kunst nicht nur umzubilden, sondern sogar neu zu erschaffen. Dabei richtet sie ihr Interesse besonders auf das Wechselverhältnis zwischen Kunstauffassungen von Philosophen und Künstlertheorien. Dieses „Paradigma von Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit“ (S. 40) stellt Verena Krieger anhand seiner wichtigsten russischen Vertreter vor und beleuchtet die russische Diskussion im Licht der um die Jahrhundertwende überall in Europa intensiv rezipierten verschiedenen ästhetischen Konzepte.

Der Maler Aleksander Iwanow war in Russland wohl der erste, der den radikalen Gedanken äußerte, dass Kunst wirklichkeitsschaffende Wirkung hervorbringe. Der eigentliche Begründer dieses Paradigmas sollte aber erst der Philosoph Wladimir Solowjow werden. Sein religiös aufgeladenes, an Dostojewski angelehntes ästhetisches Konzept kreist um den Begriff des Schöpfertums, dem es in einem theurgischen Akt auferlegt ist, die Welt in eine All-Einheit umzuwandeln und alle bestehenden Grenzen in einer letzten großen Synthese aufzuheben. Dem liegt die mystische Vorstellung zugrunde, dass das Göttliche im menschlichen Handeln verwirklicht werden müsse, um die Schöpfung zu vollenden. Die Sphäre dieses göttlichen Prinzips verlegt Solowjow auf die Kunst, ohne aber dabei näher auszuführen, was er genau darunter versteht. Angesichts dieser schweren Bürde dürfe nun die Kunst keinen rein fiktionalen Charakter mehr im Sinn einer romantischen Gegenwelt besitzen, sondern müsse notwendig ontologisch wirksam werden. Schöpferisches Handeln sei demnach universale Kunst, und diese für die (Neu-)Organisierung der Wirklichkeit unabdingbar (S. 63). Die Vagheit, in der Solowjow seinen Begriff von Kunst belässt, ist zwar problematisch, weil es die konkrete ästhetische Umsetzung des von ihm geforderten theurgischen Akts verdunkelt, bietet dafür aber genügend Deutungsspielraum für seine späteren Rezipienten.

Verena Krieger versucht nun, diesen Gedanken der künstlerischen Weltumwandlung bei verschiedenen Repräsentanten der russischen Avantgarde herauszuarbeiten und stellt damit Solowjow als wichtigsten Ahnherrn der russischen Moderne dar. Dieses Konzept spürt sie etwa bei dem symbolistischen Dichter Wjatscheslaw Iwanow auf, dessen Schriften die Solowjowsche Idee teilweise mit dionysischen Elementen, teilweise mit Synthesekonzepten versetzten, ebenso wie sie aus den Texten des Philosophen Nikolai Berdjajew bisher von der Forschung eher wenig berücksichtigte Bezüge zu Solowjow herausschält. Aber auch zur Musik oder bildenden Kunst ergeben sich Verknüpfungen: Neben dem Komponisten Aleksander Skrjabin und dem Maler Kasimir Malewitsch stellt sie überraschenderweise auch den Maler Pawel Filonow in die Reihe der unmittelbaren Rezipienten Solowjows – zweifellos das stärkste Kapitel in ihrem Buch. Auf beeindruckende Weise zeigt Verena Krieger anhand der von Filonow selbst als „analytisch“ (S. 153) bezeichneten Bilder und seiner wenigen hinterlassenen Schriften, wie er eine säkularisierte Form der All-Einheit konzipierte, indem er seine Anleihen aus der Romantik mit den von Ernst Haeckel vertretenen evolutionistisch-biologistischen Ideen zu einer höheren Synthese zu verbinden versuchte.

Diese Idee der Synthese und Wirklichkeitsschöpfung stieß aber offenbar genau dann an ihre Grenzen, als sich ihr zumindest theoretisch die Möglichkeit bot, tatsächlich eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Denn bereits in der frühen Sowjetunion erstarb diese universell gedachte weltschaffende Utopie, und ihr Lebenslicht flackerte bei den russischen Konstruktivisten noch ein letztes Mal auf. Die anfängliche Euphorie der meisten avantgardistischen Künstler, nun ihren Traum endlich verwirklichen zu können und in dem neuen geistigen Klima federführend an der Erschaffung einer neuen Wirklichkeit beteiligt zu sein, wurde recht bald unter der in dieser Hinsicht anfangs noch schwankenden, doch rasch ihre utilitaristische Linie findenden sowjetischen Ideologie begraben. Diese sprach sich eindeutig für das Primat der Ökonomie und Politik aus und wies so der Kunst nur eine untergeordnete Rolle im staatlichen Propagandaapparat zu. Der ursprünglich unpolitische Synthesegedanke, der bei den unterschiedlichen Utopisten vor allem auf die Überwindung der Grenzen zwischen Leben und Kunst gerichtet war, fiel seiner Politisierung zum Opfer – in einer klaren Grenzziehung wurde er nun von der sowjetischen Politik als System gefährdend eingestuft.

Verena Krieger gelingt es, ein differenziertes Bild zur Ideengeschichte der russischen Avantgarde zwischen 1890 und 1930 zu zeichnen. Sie verweist gleichzeitig auf die zunehmende Säkularisierung des utopischen Potenzials. Ebenso hervorzuheben ist, dass sie die Widersprüchlichkeit, Heterogenität und Inkonsistenz der russischen Moderne aufzeigt, die keinesfalls einem fest umrissenen und klaren Programm folgte. Wladimir Solowjow galt gewissermaßen als ein prominenter Orientierungspunkt, dessen Idee von vielen unterschiedlichen Seiten angereichert werden konnte. Der größte Verdienst ihres Buches wird wohl darin zu finden sein, dass – im Gegensatz etwa zu den italienischen Futuristen – der russischen Avantgarde mit ihrer Figur des Künstler-Schöpfers nun nicht mehr der Vorwurf gemacht werden kann, sie habe dem Stalinschen Totalitarismus ästhetisch vorgegriffen: Die von ihr geforderte Entgrenzung – gleichsam ihre Anti-Ästhetik – bezeichnete ja genau das Gegenteil dessen, was die psycho-technische Indienstnahme der Kunst unter der sowjetischen Ideologie zu leisten hatte: Manipulation.

Gleichwohl wird sich dieses Buch auch Kritik gefallen lassen müssen – wie selbstverständlich schreibt Verena Krieger, dass „die Idee der Neuschöpfung der Wirklichkeit durch die Kunst in der russischen Kultur (...) tief verwurzelt“ (S. 211) sei. Dies verwundert, zumal an keiner Stelle darauf verwiesen wird, warum dies so sein sollte. Umso bedauerlicher ist es, dass sie es versäumt, einen kürzlich vom Slawisten Dirk Kretzschmar unterbreiteten Erklärungsversuch kritisch zu diskutieren.1 Dessen systemtheoretischer Zugang erklärt nämlich diese Besonderheit des engen Verhältnisses zwischen Leben und Kunst damit, dass sich in Russland kein autonomes Kunstsystem habe herausbilden können und es entsprechend keine eindeutigen Systemgrenzen besitze. Aus dieser Perspektive müsste man bei der Beschreibung des Phänomens nicht gleich von einer „radikalen Ausprägung“ (S. 7) sprechen, sondern von einem gewöhnlichen systemimmanenten Mechanismus. Dessen Konstanz hätte man sich auch weiter über die Scheidemarke von 1917 zunutze machen und sich – von dort und nicht von der Utopie kommend – die Frage stellen können, in welchem neuen Zusammenhang Kunst, Leben und Politik standen. Dass jede Utopie stirbt, sobald es an deren Umsetzung geht, liegt auf der Hand. Dass aber die Kunst und die Politik beispielsweise in der Werbung oder in der Kunstproduktion eine (neue) Allianz eingehen müssen, bringt die Wirklichkeit nicht nur auf der Staffelei, sondern tatsächlich ins Wanken.2

Anmerkungen:
1 Kretzschmar, Dirk, Identität statt Differenz. Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 2002.
2 Cox, Randi, »NEP Without Nepmen!« Soviet Advertising and the Transition to Socialism, in: Kiaer, Christina; Naiman, Eric (Hrsg.), Everyday Life in Early Soviet Russia. Taking the Revolution Inside, Bloomington/Ind. 2006, S. 119-52; Jenks, Andrew, The Art Market and the Construction of Soviet Russian Culture, in: Siegelbaum, Lewis H. (Hrsg.), Borders of Socialism. Privat Spheres of Soviet Russia, New York u.a. 2006, S. 47-64.

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