Titel
Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie


Herausgeber
Reinhard, Wolfgang; Stagl, Justin
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V.
Erschienen
Anzahl Seiten
XXII, 502 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Maß, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Wirtschaft funktioniert nicht nach Marktgesetzen, sondern stellt ein Glaubenssystem dar: Vertrauen, die säkularisierte und modernisierte Variante des Glaubens, sichert das Funktionieren von Institutionen und reduziert in komplexen Entscheidungsprozessen bedrohliche Kontingenz. Der Mangel an Vertrauen und nicht etwa Missmanagement, Kapitalinteressen oder andere systemimmanente Logiken führten wiederum dazu, dass das ökonomische System momentan nicht mehr recht funktioniert – so wird uns derzeit von denjenigen gepredigt, die für ihre Sünden Vergebung erhalten wollen. Die Erleichterung derjenigen, die schon immer Zweifel am Narrativ von den Marktgesetzen hatten, ist allerdings mittlerweile der Skepsis gewichen, ob ein globales Wirtschaftssystem, das vor allem auf Vertrauen basieren soll, eine adäquate Versorgung der Menschheit bieten kann.

Historiker und Anthropologen können zwar in der Regel keine Alternativen anbieten, aber zeigen, dass Wirtschaftssysteme schon immer nach Regeln und Gebräuchen funktionierten, die den Raum zwischen den beiden vermeintlich entgegen gesetzten Polen der Marktgesetze und des Vertrauens füllen. Der schon vor der aktuellen Krise des globalen Kapitalismus von Wolfgang Reinhard und Justin Stagl herausgegebene Sammelband rekonstruiert ein vielfältiges Panorama ökonomischer Handlungsweisen und Diskurse. Der Fokus der dem Sammelband vorangegangenen Tagung lag auf der Wirtschaftsanthropologie, auf dem handelnden Menschen und seinen Institutionen. Entgegen einer neoklassischen Verkürzung betonen die Herausgeber die konstruktivistische Perspektive eines sich immer wieder selbst erschaffenden Subjekts im Kontext wirtschaftlichen Handelns: „Im wirtschaftlichen Handeln, in der tätigen Aneignung der Welt gestalten und definieren sich die Beziehungen der Menschen als soziale, als wertorientierte, als zweckorientierte, als kreative Wesen ständig neu.“ (Einleitung, S. XI). Ganz bewusst werden die Aufsätze demnach als Alternativen zum Deutungsentwurf des homo oeconomicus gesetzt.

Viele Beiträge analysieren die Grenzen zwischen Redistribution, Reziprozität und Privatmarktwirtschaft, historisieren die Bedeutung der Arbeit, belegen oder kritisieren die Annahme einer Ökonomisierung des Sozialen in der „Moderne“, betonen die Parallelität von Wirtschaftsformen und die Bedeutung von Netzwerkstrukturen zur Aufrechterhaltung von ökonomischen Beziehungen. Während der Schwerpunkt der meisten Beiträge auf der anthropologischen Rekonstruktion wirtschaftlichen Handelns in der Geschichte liegt, thematisieren einige Autoren explizit Diskurse des Ökonomischen. Räumlich und zeitlich sind die Beiträge so weit voneinander entfernt wie nur möglich, und es ist den Herausgebern für den hiermit verbundenen Mut zu danken: Ein Sammelband zur historischen Wirtschaftsanthropologie kann keine histoire totale sein.

Einig sind sich die Autoren und Autorinnen darin, dass sich ökonomisches Handeln niemals nur als Versuch der Profitmaximierung oder der Preisregulation und Verteilung eines knappen Gutes verstehen lässt, sondern in der Regel eine Mischung „marktwirtschaftlicher und nicht marktwirtschaftlicher Verhaltensmuster“ (Wolfgang Reinhard) darstellt. Die Bourdieu’schen Kapitalsorten bieten überzeugende Interpretationsangebote zum Beispiel für den von Egon Flaig untersuchten Euergetismus der griechischen Stadtbürger seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. Der Zugewinn an symbolischem und sozialem Kapital durch öffentliche Ehrungen stellte für den edlen Spender eine Sicherung seiner politischen Einflusssphäre dar, die seinen Söhnen später als Sprungbrett dienen sollte.

So deutlich die Erwartung von Reziprozität das ökonomische Handeln nach Geldinteressen ergänzt, so wenig ist andererseits eine Reduktion auf die symbolische Dimension eines ökonomischen Gegenstands angemessen, wie Thomas O. Höllmann in seiner Untersuchung der chinesischen Tributsysteme unter den Dynastien Ming und Qing unterstreicht. Diese lassen sich keineswegs nur auf eine symbolische Form der Herrschaftslegitimierung reduzieren, denn die Bewirtung von Gesandtschaften war ein teures Unterfangen und musste im Verhältnis zum Nutzen stehen. Für die Tributentrichtenden lag jedoch in der Bewirtung selbst oftmals schon ein Gewinn. Auch wurden im Rahmen des Tributes Privatgeschäfte getätigt, die die rein symbolische Dimension des Rituals überschritten. Höllmanns Beitrag zeigt, dass eine Perspektive, die sich ausschließlich auf die symbolische Stabilisierung von Herrschaft konzentrierte, die pekuniäre Dimension unzulässigerweise vernachlässigen würde.

Alle Beiträger scheinen sich darin einig zu sein, dass unterschiedliche ökonomische Handlungsweisen und Deutungen gleichzeitig existieren können und sich nicht immer in lineare Zeithorizonte einfügen lassen. Die Untersuchung von Norbert Schindler über die Schacherwirtschaft am Beispiel des Waffenhandels verdeutlicht das Nebeneinander verschiedener Wirtschaftsweisen nachdrücklich. Bei diesen arkanen Marktbeziehungen handelt es sich nicht um ein Relikt der Vormoderne, welches sich noch nicht ganz der kapitalistischen Marktwirtschaft ergeben hat, sondern um den „dunkle(n), ungeliebte(n) Zwillingsbruder ihrer Transparenzideologie“ (S. 292).

Während uns der Ethnologe Klaus E. Müller daran erinnert, dass der Begriff der Arbeit zeitlich und räumlich zwischen „Veredelung des Menschen“ und „Drangsal“ changieren kann und nur in Europa einen Wert an sich zugesprochen bekam, betont Raimund T. Kolb in seinen Studien zum chinesischen Bettelwesen in der Stadt Peking im 19. und 20. Jahrhundert, dass die chinesischen Heischepraktiken, diese „Ökonomie des Überlebens“ (S. 186), durchaus mit dem zu vergleichen seien, was Henry Mayhew in seiner umfangreichen Studie über „London Labour and the London Poor“ (1851) beschrieben hatte: Armutsbedingte städtische Bettelei, als Voll- oder Zuerwerb betrieben, war keineswegs ein lebenslanger Status, sondern wechselte sich saisonal oder jahresweise mit anderen Arbeiten ab. Bettelvögte, Obdachlosenasyle und festgelegte Betteltage bezeugen zwar einen zunehmenden staatlichen Einfluss („Verdichtung der Staatlichkeit“, S. 181), zugleich existierten jedoch in Peking auch vom Staat weitgehend unabhängige Bettlergilden, wie zum Beispiel die „Gilde des hartnäckigen Sammelns“.

Die Frage nach dem Verhältnis von neuen Menschenbildern, Wirtschaftstheorien und Wirtschaftssprache stand für den Sammelband sicherlich nicht im Vordergrund, begleitet aber viele Beiträge implizit und einige auch explizit. Werner Plumpes Beitrag über „Die Geburt des ‚homo oeconomicus’“ ist ein gelungenes Beispiel, wie man der Suche über den vermeintlichen Realitätsgehalt des homo oeconomicus entkommen kann. Er begreift die Stilisierung dieser Figur als eine Parallelentwicklung zu den Institutionalisierungen der modernen Ökonomie seit dem 16. Jahrhundert, die verschiedene Funktionen erfüllte: Verhaltensnormierung, Legitimation der ökonomischen Lebensführung, Selbstbeobachtung einer sich als Wissenschaft begründenden Ökonomie. Die Umstellung der frühneuzeitlichen Semantik auf eine vermeintlich ahistorische Anthropologie des zweckrational handelnden Menschen begleitete und ermöglichte die Entstehung moderner kapitalistischer Institutionen und Verhaltensweisen. Dabei differenziert der Autor zu Recht eine Figur aus, die seit der Antike bekannt war, im 18. Jahrhundert noch am Ideal des „ehrlichen Mannes“ in der Hauswirtschaft ausgerichtet war und erst im 19. Jahrhundert unmittelbar mit Geld, Zeit und Markt verknüpft wurde. Plumpe betont die Gleichzeitigkeit des Wandels von Semantik und Struktur, deren dialektisches Verhältnis, so lässt es sich vielleicht beschreiben, die moderne Ökonomie mit ihren Leitbildern entstehen ließ. Angedeutet, aber leider nicht expliziert, wird auch die Ebene der Erziehung, die die Trias aus Semantik, Struktur und Subjekt(ivierung) komplettieren müsste.

Die scharfe Grenzziehung zwischen einer vormodernen reziproken Subsistenzproduktion und einer modernen, d.h. autonom agierenden marktwirtschaftlichen kapitalistischen Ökonomie, wie sie von Karl Polanyi bereits 1944 prominent entwickelt wurde, zieht Jürgen Osterhammel erneut in Zweifel.1 Doch nicht nur diese Zäsur wird kritischen Revisionen unterzogen. Die Ausgangsthese der Herausgeber von einer zunehmenden Ökonomisierung des Sozialen betrachten vor allem Martin Dinges und Gebhard Kirchgässner kritisch. Ersterer betont, dass in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit viele ökonomische Themen auffindbar seien, wie beispielsweise die Hauswirtschaft oder aber die ökonomischen Folgen des Dreißigjährigen Krieges. Zur Relevanz des Themas könnten jedoch kaum übergreifende Thesen begründet werden. Der Autor beschreibt sorgfältig die Fallstricke der notwendigen Gewichtung. Eine rein quantitative Auswertung vernachlässige die vielfältigen Schreibanlässe. Die Dominanz ökonomischer Themen in den Quellen der Unterschichten sei keineswegs Anlass, davon auszugehen, dass diese Menschen „sich nur fürs Geld interessiert hätten“ (275f.), auch das Verschweigen der ökonomischen Dimension konnte unterschiedliche Ursachen haben.

Gebhard Kirchgässners Beitrag über das „Gespenst der Ökonomisierung“ steht mit seiner geradezu ideologiekritischen Behandlung des Vorwurfs der Ökonomisierung sicherlich etwas erratisch in diesem Sammelband. Weder werden diskursanalytische, genealogische Methoden auf eine „Meistererzählung“ angewandt, noch wird eine Fallrekonstruktion im Sinne der Historischen Anthropologie vorgeführt. Stattdessen fragt der Autor danach, inwiefern sich Marktbeziehungen auf Bereiche ausdehnen, die zuvor nicht marktförmig organisiert waren (mit „ja, teilweise“ beantwortet) und nimmt eine Bewertung dieser Veränderung vor. Dieses sind nun keineswegs unwichtige politische Fragen; im Kontext der wissenschaftlichen Ausrichtung des Bandes allerdings wirken sie, auch methodisch, etwas isoliert.

Eine Genealogie der ökonomischen Handlungsweisen und Diskurse hat die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Zeitschichten und Raumdimensionen zu berücksichtigen. Das betrifft sowohl die Beziehungen zwischen dem vermeintlich „Kulturellen“ und dem, was jeweils als das „Ökonomische“ verstanden wird, als auch die Existenz unterschiedlicher Kapitalsorten. Das diskussionswürdige 6-Punkte-Programm für eine „kulturelle Ökonomik“ von Gerold Blümle und Nils Goldschmidt ließe sich über die von ihnen anvisierte Dogmengeschichte hinaus als ein anregendes Plädoyer für eine Synthese von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte verstehen.

Die Ausweitung des Blickes auf Asien zeigt zudem nicht nur Differenzen, sondern auch die Ähnlichkeiten mit den europäischen Entwicklungen. Es ist ein deutlicher Verdienst dieses Sammelbandes, dass er den Blick für die notwendigen Differenzierungen weitet, ohne auf alles eine direkte Antwort zu bieten. Die derzeit vorherrschende Verdummungsstrategie, das Funktionieren des ökonomischen Systems entweder mit Marktgesetzen oder mit Vertrauen zu erklären, wird dadurch ad absurdum geführt. Dafür ist man nicht nur in diesen Zeiten dankbar.

Anmerkung:
1 In Geoffrey Searles Untersuchung über „Morality and the Market“ (1998) wird deutlich, dass selbst die Apologeten des Freihandels im 19. Jahrhunderts nicht umhin kamen, die moralischen und anthropologischen Dimensionen des ökonomischen Handelns immer mit zu reflektieren.

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