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Titel
Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem. Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935-1953


Autor(en)
Ertz, Simon
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 31
Erschienen
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Gestwa, Eberhard Karls Universität Tübingen

Ein Synonym für den Umgang totalitärer Regime mit der von ihr beherrschten Gesellschaft ist der stalinistische GULag. Zu Beginn der 1990er-Jahre bot die Öffnung der russischen Archive die einzigartige Chance, das bis dahin weithin verborgene Universum des sowjetischen Straflagersystems zu erforschen. Fern unseriöser, politisch motivierter Dramatisierungen haben Studien bekannter russischer und westlicher Historiker (Galina Ivanova, Oleg Chlevnjuk, Anne Applebaum) mittlerweile wichtige Kausalzusammenhänge, Funktionsmechanismen und Alltagsstrukturen aufgedeckt.

Neuerdings wird die Geschichte ausgewählter bedeutender Lagerkomplexe näher aufgearbeitet, um von schematischen Interpretationen und der Vielzahl von Einzelbeobachtungen zu dichten Beschreibungen und damit auch zu komplexeren Erklärungen zu kommen. Eine dieser neuen Fallstudien stellt Simon Ertz’ publizierte Magisterarbeit dar, die fraglos auch alle Anforderungen an eine Promotionsschrift erfüllt. Sie geht auf den Norilsker Lagerkomplex ein (1935-1956). Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung zu Beginn der 1950er-Jahre zählte er 90.000 Häftlinge. Sie mussten in einer unwirtlichen, nahezu unbesiedelten Region Nordostsibiriens – 200 Kilometer nördlich der Polargrenze – reiche Erzvorkommen erschließen. Das technisch schwierige und logistisch anspruchsvolle Erschließungsprojekt diente dazu, die sowjetische Maschinenbau- und Rüstungsindustrie mit den wichtigen Buntmetallen Nickel, Kupfer, Kobalt und Platinioden zu versorgen.

Im Konsens mit der neuen Forschung konstatiert Ertz, dass beim Aufstieg des GULag die politische Repression der ökonomischen Ausbeutung voranging. Das Lagersystem half dem stalinistischen Terrorregime bei dessen brachialen Versuchen, „neue Menschen“ zu formen, all diejenigen zu isolieren, die als „Parasiten“ und „Schädlinge“ den Gesellschaftskörper zu vergiften schienen. Als infolge ständig neuer Repressionswellen die Zahl der Häftlinge explosionsartig anstieg, begann die Parteiführung die Lagerbevölkerung zunehmend als „Arbeitskräftefond“ (trudfond) wahrzunehmen. Dank der Realisierung wichtiger Infrastruktur- und Industriebauten wie Norilsk stieg der GULag im Verlauf der 1930er-Jahre zu einem einflussreichen Wirtschafts- und Bauimperium auf, das für riskante Großvorhaben die Verantwortung übernahm.

In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt Ertz Verwaltungs- und Wirtschaftsfragen. Ausführlich geht er der Ausnutzung der Zwangsarbeit nach, um zu verbesserten Einsichten in den modus operandi des Lagersystems zu kommen. Neben den Unterlagen der GULag-Verwaltung zieht er zwar stets zugängliche lebensgeschichtliche Zeugnisse ehemaliger Häftlinge heran, um eindrucksvoll die Brutalität und Unmenschlichkeit des Lagerlebens zu beschreiben (bes. S. 194-211). Insgesamt folgt seine Darstellung aber doch vornehmlich den offiziellen Quellendokumenten, so dass er nolens volens den administrativ-bürokratischen Blick übernimmt, mit dem die Verantwortlichen das Leben in Norilsk wahrnahmen. Simon Ertz’ Studie zeigt so anschaulich, welche Erkenntnisse sich aus der schier unerschöpflichen „Bürokratenprosa“ des für den GULag zuständigen Apparats gewinnen lassen.

Zugleich wird deutlich, dass ein solcher Zugang trotz engagierter Recherche und umsichtiger Reflexion wichtige Fragen nach den sozialen und kulturellen Praktiken unbeantwortet lassen muss, die dem Lagerleben seine spezifische Ordnung des Terrors gaben. Wegen seiner strategischen Bedeutung erhielt das Norilsker Kombinat nur gesunde Häftlinge zugewiesen, die körperlich dazu in der Lage erschienen, die widrigen Arbeits- und Lebensbedingungen auszuhalten. Durch eine – im Vergleich zu anderen Lagern – verbesserte Ernährung und Versorgung bemühte sich die Lagerleitung, die Arbeitskraft der Insassen zu erhalten. Unter erbärmlichen Bedingungen zu körperlicher Schwerstarbeit gezwungen, gehörten aber auch in Norilsk Hunger, Erschöpfung, Mangelkrankheiten und Infektionen zum Lageralltag. Während der zwanzigjährigen Existenz des Lagerkomplexes leisteten hier insgesamt 275.000 Insassen Zwangsarbeit. Ertz schätzt, dass bis zu 18.000 von ihnen verstarben.

Um den geforderten Produktivitätszuwachs der Zwangsarbeit zu erreichen, gab es für die Häftlinge Anreize in Form von höheren Rationen, Haftverkürzung und sogar Lohnzahlungen. Diese Praxis war keineswegs Folge des humanen Verhaltens der Lagerfunktionäre, sondern entsprang eindeutig ihrem merkantilen Effizienzdenken. Die fortgesetzten Konflikte zwischen der Lagerleitung und den Wirtschaftsbossen des Norilsker Kombinats zeigen, dass die Verantwortlichen der möglichst effizienten Ausbeutung der Zwangsarbeit letztlich stets den Vorrang gaben vor der Rehabilitation der Inhaftierten, die gleichsam zentraler Teil des sowjetischen Strafvollzugs sein sollte. Das Primat der Produktion führte mitunter sogar dazu, dass sich die Norilsker Amtsträger über die Vorgaben aus Moskau hinwegsetzten, um so z.B. die Isolation bestimmter Häftlingsgruppen zu umgehen und qualifizierten „konterrevolutionären Gefangenen“ Leitungsfunktionen zu übertragen. In der Spätphase der Lagergeschichte „zeugt[e] die wiederholte Entfernung ‚politischer’ Häftlinge aus verantwortlichen Stellungen davon, dass ideologisch motivierte Eingriffe in das Lagersystem ökonomisches Zweckdenken durchkreuzen konnten“ (S. 142).

Aus heutiger Sicht erscheint die Geschichte Norilsks und seines Buntmetallkombinats, das in letzter Zeit mit der Aktiengesellschaft Norilsk Nikel den Sprung „vom Arbeitslager zum Weltmarktführer“1 geschafft hat, als „betriebswirtschaftliche Erfolgsgeschichte“ (S. 223). Im Vergleich zu vielen anderen unsinnigen und ruinösen sowjetischen Erschließungsprojekten stellt sich der Aufstieg der nördlichsten Großstadt der Welt „als einer der wohl spektakulärsten Sonderfälle“ (ebd.) dar. Ohne die gnadenlose Ausbeutung einer gigantischen Zwangsarbeiterarmee hätte sich das gewaltige Vorhaben kaum realisieren lassen, auch wenn sich heute in Russland immer weniger an diese betrübliche historische Tatsache erinnern wollen.

Zurecht weist Ertz darauf hin, dass sich jede Wirtschaftlichkeitsanalyse der Häftlingsarbeit als problematisch erweist, weil sie auf die unter systemspezifischen Bewertungskriterien erstellten Bilanzen zurückgreifen muss und sich damit kaum von den einseitigen Rentabilitätsindikatoren der stalinistischen Wirtschaftsordnung zu lösen vermag. Mit Nachdruck betont Ertz deshalb zum einen, dass aus einer volkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Perspektive die immensen, kaum messbaren sozialen, kulturellen und demographischen Kosten unbedingt einbezogen werden müssen. Der Aufbauerfolg, der hunderttausendfaches menschliches Leid voraussetzte, verliert dadurch mehr als nur seinen moralischen Wert. Zum anderen führten die systemimmanenten Dysfunktionalitäten und Ineffizienzen dazu, dass die Verantwortlichen in Norilsk zunehmend zur Einsicht gelangten, das von ihnen geschaffene System der Häftlingsarbeit sei dringend reformbedürftig. Als der Tod Stalins schließlich den Weg für die längst überfällige Neugestaltung der sowjetischen Arbeits- und Rekrutierungspolitik frei machte, wurde aus dem Lager- und Industriekomplex eine Stadt mit Lohnarbeitern und einer menschenwürdigen Infrastruktur. Dieser bislang kaum untersuchte Transformationsprozess wird in den nächsten Jahren ein Schwerpunktthema der historischen Forschung sein, um weitere Einsichten darin zu vermitteln, unter welchen schweren Erblasten die Sowjetgesellschaft bei ihren angestrengten Versuchen litt, sich aus dem Würgegriff des stalinistischen Terrorstaats zu befreien.2

Die Stärken der Monographie von Ertz sind zugleich ihre Schwächen. So überzeugend der akribische Umgang mit offiziellen Zahlen und Informationen sicherlich ist, selbst wohlgesonnene Leser kommen nicht umhin festzustellen, dass sich manche seitenlange Quellenkritik ohne Verlust an interpretativer Substanz hätte deutlich kürzen lassen. Auch die Langatmigkeit einzelner Abschnitte wäre durch eine geraffte und pointierte Schilderung vermeidbar gewesen. Ertz’ schmale, aber durchaus gewichtige Schrift mahnt ambitionierte und talentierte Nachwuchswissenschaftler nachdrücklich dazu, über die empirische Dichte und den analytischen Scharfblick keineswegs die Lesbarkeit ihrer Texte aus den Augen zu verlieren. Denjenigen, denen die Zeit oder die Geduld fehlte, den detaillierten Schilderungen dieser außerordentlich gut recherchierten Geschichte Norilsks zu folgen, sei die Lektüre eines Beitrags in der Zeitschrift OSTEUROPA empfohlen. In ihm stellt Ertz unter Beweis, dass er es durchaus vermag, seine bedeutsamen Erkenntnisse in komprimierter und eingängiger Form zur Diskussion zu stellen.3

Anmerkungen:
1 Fortescue, Stephen; Rautio, Vesa, Vom Arbeitslager zum Weltmarktführer. Ein Firmenporträt der Buntmetallhütte Norilsk Nikel, in: Osteuropa 57 (2007), 6, S. 395-408.
2 An der University of Chicago hat Alan Barenburg kürzlich seine Dissertation zur Transformation der nordsibirischen Bergbaustadt Workuta nach 1953 fertig gestellt. Die Geschichte Magadans, eines gigantischen Lagerkomplexes im Fernen Osten, ist Gegenstand des Promotionsprojektes von Mirjam Sprau (Frankfurt/Bremen). Vgl. zum Umbruch nach 1953 allgemein auch die aufschlussreiche Studie von: Elie, Marc, Les ancien détenus di Goulag. Libérations massives, réinsertion et réhabilitation dans l’URSS poststalinienne (unveröffentliche Dissertation), Paris 2007.
3 Ertz, Simon, Zwangsarbeit in Norilsk. Ein atypischer, idealtypischer Lagerkomplex, in: Osteuropa 57 (2007), 6, S. 289-300.

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