Titel
Staatliches Vorgehen gegen Arbeiterbewegungen und -organisationen im westlichen Ruhrgebiet zwischen Revolution und Sozialistengesetz (1850-1878).


Autor(en)
Schäfer, Markus
Erschienen
Trier 2006: Kliomedia
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Forschungen zur Arbeiterbewegungsgeschichte haben keine Konjunktur. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren gingen von der Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung wichtige Impulse aus. Derzeit hingegen ist dieser Forschungszweig an den Rand gedrängt. Innovationspotentiale ergeben sich, wenn Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegungsgeschichte in ihrem gesellschaftlichen Kontext untersucht werden.

Markus Schäfers an der Universität Bonn entstandene Dissertation über „Staatliches Vorgehen gegen Arbeiterbewegungen und -organisationen im westlichen Ruhrgebiet zwischen Revolution und Sozialistengesetz“ scheint sich auf den ersten Blick in diesen Trend einzupassen, denn staatliche Überwachung, Repression und Verfolgung, aber auch staatliche Tolerierung wirkten unmittelbar auf die Arbeiterorganisationen ein. Allerdings greift Schäfer in seiner Arbeit diesen Ansatz weder methodisch noch konzeptionell auf. Er gibt sich in seiner knappen Einleitung mit der Frage zufrieden, wie das staatliche Vorgehen gegen die Arbeiterorganisationen aussah, welche Repressionsmittel zu welcher Zeit und zu welchem Zweck verwendet wurden. „Im Mittelpunkt der Betrachtung steht das Verhalten der staatlichen Instanzen gegenüber Arbeiterbewegungen“ (S. 13). In die Untersuchung wird nicht nur die sozialdemokratische, sondern auch die christliche Arbeiterbewegung einbezogen. Staatliches Vorgehen wird als Handeln der Judikative und Exekutive definiert und schließt den vor Ort handelnden Polizeiinspektor ebenso ein wie den auf Reichsebene agierenden Minister. ‚Klassische’ Fragen der Arbeitergeschichtsforschung wie die nach den Traditionslinien zwischen der Revolution von 1848 und der Gründung von Arbeiterorganisationen in den 1860er-Jahren spielen nach Schäfers eigenen Worten für ihn keine Rolle. Dabei ist das Buch in weiten Teilen auch eine Organisationsgeschichte der Arbeiterbewegungen im westlichen Ruhrgebiet. Als Fallbeispiele dienen ihm die beiden Kreise Duisburg/Mülheim und Essen. Diese beiden Regionen sind gut gewählt, war Duisburg doch in den 1860er-Jahren eines der ersten Zentren des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), während sich Essen in den 1870er-Jahren zu einer Hochburg der christlichen Arbeiterbewegung entwickelte.

Zunächst skizziert Schäfer knapp die wirtschaftliche und demographische Entwicklung des Ruhrgebiets und vermittelt einen Eindruck von den Arbeits- und Lebensverhältnissen im Ruhrgebiet. Überraschenderweise werden hier die Arbeiten Karl Rohes über die politische Kultur des Ruhrgebietes sowie Heinz Reifs umfangreiche Arbeit zu Oberhausen nicht berücksichtigt. 1 Auch fehlen in dem allzu knappen Überblick Verknüpfungen zur Milieu- und zur Arbeiterkulturforschung. Es folgt ein Überblick über die gesetzlichen Rahmenbedingungen, in dem die Entwicklung hin zum preußischen Berggesetz von 1865 referiert wird und die zentralen Eckpunkte der preußischen Koalitionsgesetzgebung, der Vereins- und Pressegesetzgebung sowie des Sozialistengesetzes vorgestellt werden.

Nach diesen einführenden Kapiteln beschreibt Schäfer in den nachfolgenden chronologisch geordneten Kapiteln detailliert das „staatliche Vorgehen“ gegen die Arbeiterbewegungen. Hinzu kommt ein kurzes Kapitel über die „Unterdrückung bergbaulicher Proteste“ 1858/59. Mit zunehmender Quellendichte werden die einzelnen Kapitel immer ausführlicher. Während die „Verfolgung von Arbeiterorganisationen zu Beginn der Reaktionszeit“ auf rund 25 Seiten abgehandelt wird, widmet Schäfer der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem Sozialistengesetz 125 Seiten. In den einzelnen Kapiteln kann Schäfer nachweisen, dass von einem einheitlichen Vorgehen gegen die Arbeiterbewegungen keine Rede sein kann. Sowohl zeitlich als auch regional gestaltete sich staatliches Handeln unterschiedlich. Zwischen den einzelnen bürokratischen Hierarchieebenen gab es zum Teil deutliche Meinungsverschiedenheiten in der Einschätzung der Arbeiterbewegungen. Hier entfaltet das Buch in einer dichten Beschreibung seine Stärken: Als beispielsweise im November 1868 nach Straßenunruhen in Essen weder der Bürgermeister noch der Landrat eine juristische Handhabe sahen, um gegen vor Ort ansässige Sozialdemokraten vorzugehen, verlangte der Regierungspräsident in Düsseldorf als übergeordnete Instanz eine Bestrafung des Essener Arbeiterführers Friedrich Wilhelm Raspe als „intellektuellen Urheber“ (S. 187). Doch das zuständige Kreisgericht lehnte eine Verhaftung ab, woraufhin die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegte. Der Düsseldorfer Regierungspräsident wiederum informierte den preußischen Innenminister; dieser instruierte den Justizminister, auf das Appellationsgericht in Hamm, das über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft zu entscheiden hatte, Druck auszuüben. Raspe wurde vorübergehend festgenommen, doch im Januar 1869 entschied das Gericht in Hamm, dass keine Beweise gegen Raspe vorlägen, für die Unruhen verantwortlich zu sein.

Neben solchen beeindruckenden Einzelbefunden, die nach Schäfer eine einseitige Charakterisierung des Justizwesens als „Klassenjustiz“ widerlegen, kommt Schäfer auf Grund seiner Untersuchungen zu folgenden Befunden: Während in Duisburg/Mülheim die entstehende Arbeiterbewegung gewisse Freiräume hatte und bei Wahlkämpfen keinen Schikanen ausgesetzt war, wurden die Essener sozialistischen Arbeiterorganisationen ständig unterdrückt; beispielsweise verweigerten ihnen die Wirte auf Druck der Behörden Versammlungslokale. Die Essener christliche Arbeiterbewegung wurde in den 1860er-Jahren zunächst lediglich beobachtet. Eine Aussage, welche Hierarchieebene des bürokratischen Obrigkeitsstaates „schärfer“ gegen die Arbeiterbewegungen vorging, lasse sich nicht generell treffen. Jedenfalls sei die These, dass Behörden vor Ort durch ihre Nähe zu den „Klienten“ sich stärker zurückgehalten hätten, nicht haltbar. Auch folgten die Gerichte nur eingeschränkt den politischen Vorgaben. Besonders bei der Verfolgung von reinen Kassenorganisationen, in denen die staatlichen Behörden politische Tarnorganisationen sahen, die nach dem Vereinsgesetz verfolgt und verboten werden sollten, verweigerten sich die Gerichte. Erst mit der Ära Tessendorf, benannt nach dem Berliner Ersten Staatsanwalt, zeichnete sich ab 1874 in Preußen eine einheitlichere Linie ab, die schließlich – nach den Attentaten auf den Kaiser im Jahr 1878 – im Sozialistengesetz gipfelte. Dass der starke Verfolgungsdruck ab 1874 ein wichtiger Faktor war, um die Vereinigung der beiden sozialdemokratischen Arbeiterparteien – Bebels SDAP und den Lassalleschen ADAV – 1875 zu erleichtern, ist bereits oft erörtert worden und wird auch von Schäfer bestätigt. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass es aufgrund der zunehmenden Repression in Essen in den 1870er-Jahren zur Kooperation zwischen der sozialdemokratischen und christlichen Arbeiterbewegung kam.

Insgesamt ist Schäfers Zugriff auf das Thema stark beschreibend. Es fehlt ein analytischer Zugriff, der die beiden Konfliktparteien Staat und Arbeiterbewegung stärker verzahnt. Möglicherweise hätte eine Typologie von „staatlichem Vorgehen“ die Arbeit strukturieren können und ihr so mehr Erklärungskraft über das Referieren von Ereignissen hinaus geben können. In seiner Einleitung weist Schäfer darauf hin, dass in den Quellentexten der staatlichen Behörden nicht wertfrei über die Arbeiterbewegung berichtet worden sei. Dies wolle er sich zunutze machen. Diese Überlegung aber wird methodisch nicht umgesetzt. Mit guten Gründen kann man sich den Moden einer Diskursanalyse entziehen. Aber Schäfer erörtert Vor- und Nachteile einer solchen Quellenanalyse erst gar nicht. Dabei spiegeln sich bereits in der Sprache der von ihm untersuchten Protagonisten Klassenkonstruktionen und die gegenseitige unterschiedliche Wahrnehmung. Auf dieser Ebene hätten Wechselwirkungen noch genauer in den Blick genommen und sowohl die Arbeitergeschichtsschreibung als auch die Reflexion über ‚ordnungspolitisches’ Handeln des Staates weiter vorangebracht werden können.

Anmerkung:
1 Rohe, Karl, Vom Revier zum Ruhrgebiet. Wahlen, Parteien, Politische Kultur, Essen 1986; Reif, Heinz, Die verspätete Stadt. Industrialisierung, städtischer Raum und Politik in Oberhausen 1846-1929, Köln 1993.