infoclio.ch

Geschichte allgemein

F. Rogger u.a.: : Ganz Europa blickt auf uns!

Katharina, Kellerhals <katharina.kellerhalsedu.unibe.ch>
 
Autor(en):;
Titel:Ganz Europa blickt auf uns!Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen
Ort:Baden
Verlag:hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Jahr:
ISBN:978-3-03919-146-8
Umfang/Preis:292 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kellerhals Katharina, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern
E-Mail: <katharina.kellerhalsedu.unibe.ch>

Ganz Europa blickt auf uns! – so der vielversprechende Titel des Buches, sinngemäss nach einem Zitat der Russin Anna Oehme, die damit auf den «revolutionären Kampf» (9) und nicht – wie im Untertitel ausgeführt – auf das schweizerische Frauenstudium zielte. «Niemand wird zwar behaupten wollen, dass ‹die Blicke von ganz Europa› auf der eher unauffälligen und strebsamen Studentin Virginia Schlykowa ruhten» (11), präzisieren die Autorinnen, die Historikerin Franziska Rogger und die Slawistin Monika Bankowski, bereits im Vorwort. In der Tat legt die Quellenbasis nahe, dass der rote Faden ein biografischer sein muss: Der Nachlass der Russin Virginia Schlykowa (1853 –1949), bestehend aus dem Briefwechsel (ca. achtzig Briefe) mit ihrem armenischen Bräutigam und späteren Ehemann Haruthiun Abelajanz, ergänzt durch Korrespondenz von Studienkolleginnen und -kollegen, Freundinnen, Freunden und Angehörigen, vor allem der drei Kinder des Paares sowie diverse Entwürfe unveröffentlichter Memoiren Schlykowas, wurden von ihrer Enkelin Franziska Frey-Wettstein – sie verfasste das Nachwort – zur Verfügung gestellt. Der reich bebilderte Band verfügt im Anhang über ein Personenregister.

Von Privatlehrern unterrichtet erlebte Virginia Schlykowa mit ihrer Schwester die sorglose Kinder- und Jugendzeit einer russisch-adligen Gutsherrentochter, wurde bei gesellschaftlicher Geselligkeit über politische Bewegungen wie Revolution oder Frauenbewegung aufgeklärt und beschloss, Ärztin zu werden. 1872 reiste sie mit Mutter und Gesellschafterin nach Zürich und traf ihre radikal politische Landsmännin Vera Ljubatowitsch, welche für viele Russinnen sowohl in politischer wie auch in studienorganisatorischer Hinsicht als Anlaufstelle diente. Vera Ljubatowitsch gehörte zum Trupp der sogenannten «Kosakenpferdchen», die mit «greller Andersartigkeit» (41) – sie propagierten «wilde Ehe und freie Liebe» (40) – eine «Gefahr für ernsthafte Universitätsfrauen» (45) darstellten. So bezog Virginia Schlykowa ausserhalb des «Russenviertels» zwei Mietzimmer. Bald kam auch ihre Schwester Raissa Putjata-Schlykowa – sie war getrennt von ihrem Mann und liess ihre zwei Kinder in Russland zurück – zum Medizinstudium nach Zürich. In einem Chemiekurs verliebte sich Virginia Schlykowa in den Assistenten, den Armenier Haruthiun Abelajanz. Als 1873 das Frauenstudium in Zürich per Dekret vom zaristischen Russland verboten wurde, setzten die Schlykowaschwestern ihr Studium an der Berner Universität fort, wo sie, wohlwollend aufgenommen, in fortschrittlicher Medizin – z. B. derjenigen von Theodor Kocher – ausgebildet wurden und im Landhaus Liebegg über dem Bärengraben residierten. 1876 promovierte Virginia Schlykowa in Bern als 7. und in der Schweiz als 20. Medizinerin, reiste umgehend zu ihrem armenischen Verlobten nach Zürich zurück und wurde schwanger. Zwar erhielt ihr Mann die Stelle als Kantonschemiker, und eine zweite Tochter wurde geboren, doch die Ehe war nicht glücklich. Zunehmende Vereinheitlichungsbestrebungen der Zulassungsbedingungen für das Medizinstudium – der Bund verlangte nun Matur und Staatsexamen – verunmöglichten Virginia Schlykowa ein Praktizieren als Ärztin, sodass sie in den nächsten 25 Jahren ihr Leben als Hausfrau und dreifache Mutter verbrachte und sich vor allem gegen Schwester und Mutter in Erbstreitigkeiten Recht zu verschaffen suchte. Ihre eigenen Töchter erlernten keinen Beruf; die Tochter Ella heiratete sich aber in die prominente Zürcher Bankiersfamilie Wettstein ein. Dann, 1900, besann sich Virginia Schlykowa auf ihre «fachlichen Fähigkeiten », trennte sich von ihrem Mann und suchte ein «einträgliches Betätigungsfeld» (198): Sie absolvierte in Stockholm eine Ausbildung als Heilmasseurin und erzielte in der Phase der gesamtgesellschaftlichen Reformbewegung um die Jahrhundertwende als Alternativ-Medizinerin u. a. in Kairo und Vulpera, später als Massagelehrerin in Zürich grosse Erfolge: Bis ins Alter von 84 Jahren erteilte «Frau Dr. Schlikow» im privaten und öffentlichen Raum Unterricht und lebte bis zu ihrem Tod 1949 in der Familie ihrer Tochter Ella Wettstein.

Auf den Titel zurückkommend bleibt die Frage: Haben die vielen Russinnen an Schweizer Universitäten das Studium für Frauen tatsächlich befördert? Ilse Costas (1992) [1] z. B. gewichtet anders: In der Schweiz war Hochschulbildung für gesellschaftlichen Einfluss und Macht keine Bedingung. Das geringe Sozialprestige akademischer Bildung und die Herkunft und Zusammensetzung der Professorenschaft – viele kamen als Flüchtlinge oder wurden von liberalen Kantonsregierungen berufen – ermöglichten den frühen Zugang für Frauen an Schweizer Universitäten. Als gegen 1900 endlich auch die Schweizerfrauen ihr Interesse an akademischer Bildung manifestierten, waren die oben erwähnten Ausschlussmechanismen bereits in vollem Gange.

Mit viel Emotionen wird das bewegte Leben der Protagonistin dargestellt: «Nachgespürt » wird in diesem Buch der Kluft zwischen «hochfliegendem Ideal und niederdrückender Wirklichkeit im Leben der ersten Studentinnengeneration» (10), und dazu erfahren wir detailliert recherchierte, zum Teil redundante, aber immer unterhaltsame Ausführungen, Anekdoten, Geschichten in Geschichten, ergänzende Erklärungen und Vermutungen. Unzählige Namen und Hinweise erschweren allerdings einerseits die Lektüre, ermöglichen anderseits aber auch interessierten Leserinnen und Lesern weiterführende Recherchen. Leider sind unzählige Hinweise nur beschränkt nachvollziehbar, weil die Autorinnen in der Regel nur summarisch zitieren.

Man wünscht sich als Leserin mehr inhaltliche Straffung und Systematik, aber die Belesenheit der Autorinnen bietet eine Fülle von neuartigen und faszinierenden Informationen: Wir staunen z. B. über die avantgardistisch-emanzipierte Lebensweise der «Kosakenpferdchen» vor bald 150 Jahren und wir tauchen ein in die vergangene Atmosphäre der Luxushotels in Kairo, wir sind überrascht über die Radikalität der Wellnessbewegung um 1900 und – einmal mehr – fassungslos über die entwürdigende rechtliche Vermögenslage der Frauen in der Schweiz zur genau gleichen Zeit.

[1] Costas, Ilse: Der Kampf um das Frauenstudium im internationalen Vergleich. Begünstigende und hemmende Faktoren für die Emanzipation der Frauen aus ihrer intellektuellen Unmündigkeit in unterschiedlichen bürgerlichen Gesellschaften. In: Schlüter, A. (Hrsg.): Pionierinnen, Feministinnen, Karrierefrauen? (Frauen in Geschichte und Gesellschaft, Bd. 22.) Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1992, 115 –144.

Zitierweise Katharina Kellerhals: Rezension zu: Rogger, Franziska; Bankowski, Monika: Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Baden: hier + jetzt 2010. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 73-75. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=19449>