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Europäische Geschichte

A. Fleury u.a. (Hgg.): Die Schweiz und Deutschland 1945-1961

21.06.2005 Lappenküper, Ulrich <ulaptiscalinet.de>
 
Titel:Die Schweiz und Deutschland 1945-1961
Reihe:Sondernummer der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Herausgeber:Fleury, Antoine; Möller, Horst; Schwarz, Hans-Peter
Ort:München
Verlag:Oldenbourg Verlag
Jahr:
ISBN:3-486-64508-0
Umfang/Preis:311 S.; € 49,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Ulrich Lappenküper, Historisches Seminar, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
E-Mail: <ulaptiscalinet.de>

Dass sich die Geschichtsschreibung über die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland unter bilateralem Blickwinkel bisher schwerpunktmäßig mit den Beziehungen zu den ehemaligen vier Besatzungsmächten befasst hat, kann nicht verwundern. Dass aber fünfzig Jahre ins Land ziehen mussten, bis deutsche Historiker dem Verhältnis der Bundesrepublik zur Schweiz eine wissenschaftliche Konferenz widmeten, erscheint angesichts der in den Konferenzakten mannigfach beschriebenen Enge dieser Beziehungen denn doch höchst erstaunlich. Das Verdienst, die Phase der – gegenseitigen – Nichtbeachtung durchbrochen zu haben, gebührt dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und der Kommission für die Veröffentlichung der Diplomatischen Dokumente der Schweiz. Anlässlich des 50. Jahrestages der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen im März 1951 veranstalteten sie ein Symposium, das der Gestaltung des Neuanfangs von 1945 bis zur Normalisierung Anfang der 1960er Jahre in vier Sektionen nachspürte: Neben zwei aus "politischer Perspektive" gehaltenen Ansprachen der damaligen Bundesrätin Ruth Dreifuss und des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker versammelt der Tagungsband sieben Aufsätze zur Rubrik "Politik und Diplomatie" und jeweils vier Abhandlungen über "Wirtschaft, Finanzen und Sicherheit" bzw. "Gesellschaft und Kultur".

Trotz der aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammenden psychologischen Hypotheken, moralischen Vorbehalte und finanziellen Altlasten bemühte sich die Schweiz schon 1945, das "partenariat à géométrie variable" mit Deutschland wiederzubeleben (Antoine Fleury, S. XI). Wie Eric Flury-Dasen in seinem Beitrag über die Beseitigung der drei Problemfelder Diplomatie, Wirtschaft und Migration zu zeigen vermag, begann die Wiederannäherung mit der ökonomischen Kooperation; ihr folgte die politische Anerkennung, wohingegen die Aufhebung der "migrationspolitische[n] Abschottung" (S. 49) arg hinterher hinkte: 1949 schlossen beide Regierungen ein Handels- und Zahlungsabkommen, 1951 nahmen sie diplomatische Beziehungen auf, aber erst 1954 strich die Schweiz die Einreisesperren für Deutsche.

Besondere Bedeutung besaß nach der Kapitulation des Deutschen Reiches das von Ilse Dorothee Pautsch kenntnisreich untersuchte Problem der deutschen Schulden. Da das Reich den Handel mit Krediten hatte bevorschussen lassen, schuldete es der Schweiz am Ende des Zweiten Weltkrieges 1,121 Mrd. Franken. Darüber hinaus gab es private deutsche Verbindlichkeiten in Höhe von 300 bis 400 Mio. Franken und 800 Mio. Reichsmark. Ihnen gegenüber standen 500 Mio. Franken deutscher Guthaben, die von der Schweiz im Zuge des Washingtoner Abkommens mit den drei Westmächten liquidiert worden waren. 1952 verständigten sich Bern und Bonn darauf, die deutsche "Clearingmilliarde" durch die Zahlung von 650 Mio. Franken abzulösen. Durch diese Einigung ebneten sie den Weg für ein Vertragspaket, das das Washingtoner Abkommen ersetzte und den "Schlusspunkt einer Konsolidierungsphase im bilateralen Nachkriegsverhältnis" (S. 29) bildete.

Mit veränderter Fragestellung wird die von Pautsch und Flury-Dasen behandelte Thematik noch von zwei weiteren Forschern aufgegriffen. Patrick Halbeisen konzentriert sich auf die schwierigen Verhandlungen der Schweiz über das Washingtoner Abkommen von 1946 und auf der Londoner Schuldenkonferenz 1952. Mechthild Lindemann analysiert den windungsreichen bundesdeutschen Entscheidungsprozess hinsichtlich der Wiedergutmachung für Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Willkürherrschaft durch das Entschädigungsabkommen von 1961.

Der auf deutscher Seite wichtigste Akteur dieser Jahre, Konrad Adenauer, steht im Zentrum eines luziden Artikels von Hans Peter Mensing. Adenauer schätzte die Schweiz nicht nur als Urlaubsland, sondern auch als Nachbar und Akteur der internationalen Beziehungen. Schon vor seiner Kanzlerschaft pflegte er zu schweizerischen Politikern und Diplomaten intensive Verbindungen, die es ihm nach der Gründung der Bundesrepublik erleichterten, die außenpolitische Isolation der Bundesrepublik zu durchbrechen. Trotz aller Wertschätzung konnte sich die Schweiz als "außenpolitisch inkommensurabler Faktor" (S. 94) ob ihrer Neutralität und ihres Nationalgefühls allerdings auch die Kritik Adenauers zuziehen.

Entscheidend war für den Kanzler freilich, dass die Schweiz für Westdeutschland optierte. Wie Hanns Jürgen Küsters in seinem fesselnden Beitrag über die "distinguierte Haltung" (S. 99) der Berner Diplomatie zur "deutschen Frage" herausarbeitet, setzte sich die Schweiz 1945 als einer der ersten Staaten für den Fortbestand des Deutschen Reiches ein. Nach der Teilung bemühte sie sich anfänglich um eine "Äquilibristik" (S. 101) gegenüber beiden deutschen Staaten, entschied sich dann aber vornehmlich aus finanzpolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen für engere Beziehungen zur Bundesrepublik und suchte alles zu vermeiden, was sie in einen Gegensatz zu den Westmächten gebracht hätte.

Grundsätzlich bestimmte die schweizerische Anerkennungspolitik das "Universalitätsprinzip", demzufolge mit allen Staaten diplomatische Beziehungen gepflegt werden sollten, sobald die völkerrechtlichen Kriterien erfüllt waren. Die von Urban Kaufmann quellennah untersuchte Praxis zeigt indes, dass diese durch den Grundsatz, nur Staaten, keine Regierungen anzuerkennen, ergänzte Maxime keine konsequente Anwendung fand. Letztlich entschieden "praktische und realpolitische Erwägungen" (S. 86), was bei geteilten Staaten wie Deutschland oder Korea dazu führte, dass die Schweiz zunächst den westlich orientierten Staat anerkannte.

Kaufmanns Befund deckt sich mit dem Urteil Therese Steffen Gerbers, die die Gründe für die schweizerische Nichtanerkennung der DDR bis 1953 aufspürt. Im Bewusstsein, mit der Bevorzugung der Bundesrepublik neutralitätspolitisch eine "bedenkliche Haltung" einzunehmen (S. 64), definierte die Berner Diplomatie die schweizerische Neutralität so, dass sie mit ihrer geografischen und ideologischen Verbindung zum Westen in Einklang gebracht werden konnte. Gleichzeitig aber legte sie Wert auf eine äußerst "variable und pragmatische Gestaltung der vielseitigen faktischen Beziehungen" zur DDR (S. 68) und achtete sorgsam darauf, bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Ost-Berlin "weder als Schrittmacherin aufzutreten, noch [...] zu spät zu kommen" (S. 67).

Einen kuriosen Seitenaspekt der Beziehungen zwischen der Schweiz und der DDR behandelt Philipp Mäder in seinem Artikel über einen kleinen Kreis Schweizer Kommunisten, die seit 1946 in die DDR übersiedelten. Trotz aller politischen Loyalität gegenüber der neuen Heimat fühlten sich die meist aus dem intellektuellen Milieu stammenden Personen emotional weiterhin der Schweiz verbunden und blieben daher bloß "geduldete Gäste einer nationalen Gesellschaft" (S. 263).

Einen höchst lesenswerten Beitrag über die vielschichtige Haltung der Schweiz zum Problem der deutschen Archive liefert Sacha Zala. Einerseits billigte die Eidgenossenschaft die amerikanische Forderung nach Herausgabe jener deutschen Akten, die sie als Treuhänderin verwaltete. Andererseits überführte sie die Archive deutscher Vertretungen in der Schweiz, aus denen unangenehme Enthüllungen zu entspringen drohten, in eine neu geschaffene "Deutsche Interessenvertretung". Da ihr dieser ingeniöse Weg bei den von den Westalliierten in Deutschland erbeuteten Archiven versperrt war, intrigierte sie nicht nur gegen Forscher, sondern auch gegen die Veröffentlichung unliebsamer Dokumente.

Zum Auftakt des dritten Themenblocks diskutiert Werner Bührer das Verhältnis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zum Schweizerischen Handels- und Industrie-Verein. Vor dem Hintergrund eines stürmisch wachsenden Handelsaustausches praktizierten die beiden Spitzenverbände in den 1950er-Jahren einen multilateral eingebetteten "punktuellen Bilateralismus" (S. 146). Der vom BDI artikulierte Wunsch nach einer Institutionalisierung der Kontakte stieß bei der Schweizer Schwester jedoch auf Ablehnung, da sie um ihre Autonomie und Neutralität fürchtete.

Gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit diesen Wirtschaftsbeziehungen weisen die von Bruno Thoss souverän erörterten bilateralen Sicherheitsbeziehungen auf. Als neutrale Insel in einem westeuropäisch-transatlantischen Umfeld stand die Schweiz verteidigungspolitisch vor besonderen Aufgaben. Eindringlich zeigt Thoss die direkte bzw. indirekte Abhängigkeit der Bundesrepublik und der Schweiz von der Wirksamkeit der NATO-Abschreckung und unterstreicht die Bedeutung des europäischen Staatensystems als zentrale Rahmenbedingung des beiderseitigen Verhältnisses.

Im vierten Abschnitt erinnert Markus Schmitz an die humanitäre und kulturelle Hilfe der Schweiz in Deutschland, insbesondere an die "Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten". Gemäß der von Außenminister Max Petitpierre formulierten Doktrin der "Neutralität und Solidarität" leistete die "Schweizer Spende" einen gezielten Beitrag zur Linderung der Not in Nachkriegsdeutschland und trug zu dessen Stabilisierung bei. Sie stellte überdies die Weichen für eine Wiederannäherung der Nachbarn und ebnete implizit den Weg zur Überwindung der moralischen und politischen Isolation der Eidgenossenschaft in der westlichen Staatengemeinschaft.

Eberhard Busch wirft ein helles Licht auf den Anteil von Karl Barth am Beitrag der evangelischen Kirchen der Schweiz zum deutschen Wiederaufbau. Hans-Ulrich Jost schildert am Beispiel von Max Frisch und Jean Rudolf von Salis die ambivalente Haltung schweizerischer Intellektueller gegenüber Nachkriegsdeutschland.

In einem luziden Diskussionsbeitrag würdigt Klaus Hildebrand, wie renommierte Schweizer Historiker in "prägender Art und Weise" dazu beitrugen, "dass ihre deutschen Kollegen den Weg in die Ökumene der Geschichtswissenschaft zurückgefunden haben" (S. 269). Einer der Genannten, Walter Hofer, betont abschließend in einem persönlich akzentuierten "Versuch einer geschichtlichen Bilanz" (S. 271), dass die Verantwortlichen in der Schweiz Deutschland trotz handfester finanzieller und wirtschaftspolitischer Überlegungen stets als ein unverzichtbares Element des europäischen Staatensystem angesehen hätten.

Wenngleich der ertragreiche Tagungsband nicht alle Facetten des deutsch-schweizerischen Verhältnissen ausleuchten kann, löst er sehr wohl den von den Herausgebern formulierten Anspruch ein, "à développer une nouvelle mémoire collective de ce que chaqun des deux partenaires représente l’un pour l’autre" (Antoine Fleury, S. XIV).

ZitierweiseUlrich Lappenküper: Rezension zu: Fleury, Antoine; Möller, Horst; Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Die Schweiz und Deutschland 1945-1961. München 2004, in: H-Soz-Kult, 21.06.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-207>.