1 / 1 Rezension

Geschichte allgemein

S. Hofmann: Umstrittene Körperteile

 

Externe Angebote zu diesem Beitrag

Informationen zu diesem Beitrag

Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). www.infoclio.ch/

Autor(en):
Titel:Umstrittene Körperteile. Eine Geschichte der Organspende in der Schweiz
Ort:Bielefeld
Verlag:Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Jahr:
ISBN:978-3-8376-3232-3
Umfang/Preis:334 S.; € 37,99

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anita Winkler, Lehrstuhl für Medizingeschichte, Universität Zürich
E-Mail: <anita.winkleruzh.ch>

Am 10. April 1969 hatte der aus Schweden stammende Chirurg Åke Senning im Universitätsspital Zürich die erste Herztransplantation in der Schweiz durchgeführt. Das Spenderherz, das dem 54-jährigen Emil Hofmann verpflanzt wurde, stammte vom verunfallten Privatdetektiv Albert Gautschi. Während die Tagespresse die Herztransplantation anfänglich als medizinischen Meilenstein zelebrierte, hinterfragte die Boulevard-Presse den medizinischen Erfolg. Mit reisserischem Titel schrieb der Schweizer Blick „Man hat meinem Buben das Herz gestohlen“. Die Euphorie ob der Möglichkeiten der medizinischen Leistung mischte sich mit ethischen und personenrechtlichen Fragen, lagen doch der Tod des Spenders und die lebensgebende Spende für den Empfänger so nah beieinander. Zudem blieben bei der ersten Schweizer Herztransplantation weder Spender- noch Empfängernamen anonym. Simon Hofmann nimmt diese Episode als Ausgangspunkt, um das zentrale Anliegen seiner in Buchform vorliegenden Dissertation mit dem Titel Umstrittene Körperteile zu formulieren. Seine Geschichte der Organspende erzählt von den ethischen und rechtlichen Grundfragen, die sich im Hinblick auf die Organbeschaffung immer wieder stellten. Dass diese Auseinandersetzungen stets im Wechselspiel zwischen Ärztinnen und Ärzten, Hinterbliebenen und den Medien ausgetragen wurden, ist die zentrale These des Buches. Mit diesem medizinhistorischen Thema eröffnet Hofmann ein relevantes Terrain, das in der Schweiz bislang weder in einschlägigen medizinhistorischen noch historischen Forschungen breitere Beachtung fand. Umso wünschenswerter scheint sein Beitrag zur Schweizer Geschichte im späten 20. Jahrhundert.

Hofmann handelt in seinem Buch ein weitreichendes Spektrum an Themen ab und bietet mit seiner an Michel Foucault orientierten Diskursgeschichte der Organspende zahlreiche Diskussions- und Anknüpfungspunkte. Dazu gehören etwa die emotionalen Herausforderungen, mit denen die Angehörigen und das Krankenhauspersonal konfrontiert waren. Insbesondere das Pflegepersonal hatte für den nahtlosen Übergang von der Pflege der gehirntoten Patientin zum Organspender zu sorgen. Analysiert werden auch die ökonomischen und moralischen Hintergründe der Debatten um die Organspende und die in Bezug auf die Organspende diskutierten Metaphern von Tod und Leben, wie etwa die Bewerbung des „sinnvollen Todes“, um dem beklagten Organmangel entgegenzuwirken. Hofmann geht auch auf die mit dem Organhandel in Zusammenhang stehenden dystopischen Vorstellungen in den Massenmedien ein, die schon filmisch umgesetzt wurden als der Organhandel in der Medizin noch kein Thema war.

Diese vor allem kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Organspende ergänzt Hofmann mit Hinweisen auf vielfache theoretische Anknüpfungspunkte. So diskutiert er, wie sich Marcel Mauss Theorie der Gabe oder die Schenkökonomie auf die Organspende anwenden lässt. Hofmann schlussfolgert, dass obwohl in einzelnen Schweizer Kantonen zumindest für kurze Zeit die Widerspruchsregelung galt – diese setzte kein explizites Einverständnis vonseiten der Spenderin bzw. des Spenders oder dessen Angehörigen zur Organspende voraus –, die Bewerbung dennoch auf den Grundsatz der „freiwilligen, unentgeltlichen und altruistischen […] Organentnahme“ ausgerichtet war (S. 176). Obwohl es sich bei der Organspende nicht um die verpflichtende Reziprozität von Geschenk und Gegengeschenk handelt – durch die Anonymitätsregel wurde zweiteres unterbunden – kommt Marcel Mauss’ Konzept dadurch zum Tragen, dass die Spende nicht nur als Geschenk für die Empfängerin oder den Empfänger konzipiert war, sondern auch immer wieder die Sinnhaftigkeit der Anonymitätsregel thematisiert wurde. Nicholas Roses Feststellung folgend, dass gegenwärtig dem Leben selbst verstärkt ethische Relevanz zugesprochen wird, diskutiert Hofmann die Organspende als Beispiel für die Zwiespältigkeit der Moderne zwischen technokratischen Utopien von Machbarkeit und der Idee der Unantastbarkeit des Lebens. Die Organspende bedeutete einerseits die Realisierung des „Traum[s] eines technisch beherrsch- und verlängerbaren Lebens“, andererseits war sie von Unsicherheiten begleitet (S. 286). Die Spenderin oder der Spender wird in den Debatten sowohl als auferstandener, regenerierter und unsterblicher Körper inszeniert, als auch als Opfer krisenhafter Erzählungen, insbesondere des Organraubes, ausgedeutet.

Der Aufbau des Buches ist nicht chronologisch organisiert, sondern nach Themenfeldern geordnet, die in den Kapiteln 3 bis 5 abgehandelt werden. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem medizinischen Diskurs der Organspende, wobei es Hofmann gelingt darzustellen, wie sehr fachinterne Diskurse von der Medienöffentlichkeit geprägt waren. Im Hinblick auf die diskutierte Frage, ob eine Zustimmungs- und Widerspruchsregelung die bessere Lösung sei, stellten selbst die Befürworterinnen und Befürworter der Zustimmungsregelung die Legitimität der Organentnahme nicht infrage, sondern argumentierten strategisch, da ihnen „das Deutungsmonopol über die Organspende […] bereits entglitten war“, so Hofmann (S. 58). Das vierte Kapitel thematisiert öffentliche Aufklärungskampagnen ab Mitte der 1980er-Jahre, indem Hofmann der Frage nachgeht, wie Kampagnen die Organspende als moralisch gute Tat konstruierten. Das fünfte Kapitel befasst sich ebenfalls mit dem öffentlichen Diskurs um die Organspende, fokussiert aber auf Sinnbilder einer missbräuchlichen Organbeschaffung. Der Autor unterfüttert seine Thesen mit einem umfassenden Quellenkorpus, bestehend aus verschiedenartigen publizierten Quellen und Materialien aus dem Archiv der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, dem Archiv der Stiftung Swisstransplant in Bern sowie der Archive der Spitäler St. Gallen, Genf, den Staatsarchiven Basel und Bern.

Die Zuordnung der historischen Aussagen zu Themen und Theorien gibt den Ton des Buches an, sodass das Potential des Themas für künftige Forschungen dargelegt wird. Für die historisch interessierten Leserinnen und Leser ergibt sich aber der Nachteil, dass aufgrund der theoriegeleiteten Struktur Trends und Verschiebungen über einen längeren Zeitraum kaum nachvollzogen werden können. Empirische Beispiele werden meist punktuell zur Überprüfung theoretischer und methodischer Postulate herangezogen. Wird auf Veränderungen über einen längeren Zeitraum verwiesen, werden diese nicht hinreichend – im Sinne einer historischen Analyse – erklärt. Hofmann verweist etwa darauf, dass ab 1988 einige Schweizer Transplantationszentren lokale Transplantations-Koordinatorinnen und Koordinatoren einsetzten, um die Arbeitsteilung zu organisieren. Sie waren für die Erfassung potentieller Organspender sowie die Betreuung von Angehörigen verantwortlich. Welche Herausforderungen sich bei der Umsetzung ergaben und welche Konsequenzen daraus resultierten, bleibt unbeantwortet. Hofmann lässt auch anklingen, dass es zu regelmässigen Spannungen kam zwischen den Schweizer Krankenhäusern, die Organspenden zur Verfügung stellten, und jenen, die Transplantationen durchführte. Dies führte zu hitzigen Debatten um die Einführung einer Regelung, nach welchen Kriterien die Organe an die Krankenhäuser verteilt werden sollten. Wiederum sind auch diesbezüglich die Auswirkungen der Debatten auf die medizinische Praxis und das öffentliche Ansehen der Organspende nicht Thema des Buches.

Ausser Acht gelassen werden zudem tiefergehende Analysen medizinhistorischer Themen, etwa wie sich die vielfach umstrittene Hirntod-Definition auf die Debatte zur Legitimierung der Organspende sowie ihre Durchführung während des Untersuchungszeitraumes auswirkten – galt das Jahr 1968 mit der Einführung der Hirntod-Definition doch auch als das „Jahr des Herzens“.[1] Ebenfalls unberührt bleibt die Frage nach dem Einfluss immunosuppressiver Behandlungsformen – mit diesen, wie Thomas Schlich argumentiert hat, Lebertransplantationen gut funktionierten, bei der Lunge waren die Abstossungsreaktionen hingegen gross – auf die Praxis der Organtransplantation sowie das öffentliche Bild der Organspende.[2]

Trotz den mangelnden Detailanalysen medizinhistorischer Zusammenhänge ist es Hofmann gelungen, die facettenreiche Bandbreite einer Schweizer Geschichte der Organspende aufzuzeigen. Seine Studie ist daher eine empfehlenswerte Lektüre in der Auseinandersetzung mit dem Thema, das nur vor dem Hintergrund der zwischen Öffentlichkeit und Medizin hervorgebrachten wirkmächtigen Bilder verstanden werden kann.

Anmerkungen:
[1] David Hamilton, A History of Organ Transplantation: Ancient Legends to Modern Practice, Pittsburgh 2012, S. 340–358.
[2] Thomas Schlich, Transplantation: Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung, München 1998, S. 43.

ZitierweiseAnita Winkler: Rezension zu: Hofmann, Simon: Umstrittene Körperteile. Eine Geschichte der Organspende in der Schweiz. Bielefeld 2016, in: H-Soz-Kult, 20.07.2017, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2017-3-045>.
 
1 / 1 Rezension