U. Altermatt (Hrsg.): Schweizerische Zeitschrift

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Titel
Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 99.


Herausgeber
Altermatt, Urs
Erschienen
Fribourg 2005: Academic Press
Anzahl Seiten
589 Seiten,
Preis
CHF 50,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Department of History Email:

Die Religionsgeschichte der Moderne seit dem späten 18. Jahrhundert ist derzeit eines der spannendsten historischen Forschungsgebiete. Dies liegt zum einen an der transdisziplinären Ausrichtung dieses Feldes, in dem historisch arbeitende Theolog/innen und Kirchenhistoriker/innen beider christlicher Konfessionen, „profane“ Sozialhistoriker/innen und sowohl empirisch als auch vornehmlich theoretisch arbeitende Religions- und Kirchensoziologen/innen in engem Austausch miteinander stehen und mit ihren jeweiligen Perspektiven zur Konturierung des Gegenstandes beitragen. Zum anderen ist die thematische Erweiterung zu nennen, die sich aus der Rezeption der diversen kulturwissenschaftlichen ‚Wenden’ der letzten beiden Jahrzehnte und einer Europäisierung der Forschungsperspektiven ergeben hat.1 Die in Fribourg erscheinende „Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte“ hat diese Trends aufgegriffen, wie ihre 2004 vollzogenene Umbenennung in „Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte“ verdeutlicht. Der nun vorliegende 99. Band zeigt allerdings, dass die von Urs Altermatt herausgegebenen Beiträge diesem Trend nicht nur folgen, sondern sich an dessen Spitze stellen und wichtige Gesichtspunkte zur inhaltlichen und begrifflichen Weiterentwicklung der Religionsgeschichte bieten.

Die Beiträge des ersten Teils kreisen um das Rahmenthema „Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Pluralisierung – Ausdifferenzierung – Umdeutung“. Sie stehen, wie Staf Hellemans in einem erhellenden Beitrag ausführt, im Schatten des Streits um die zentralen Paradigmen zur Beschreibung religiösen Wandels bzw. um die Frage, ob sich die religiöse Szene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt noch mit einem übergreifenden Narrativ beschreiben lässt. Dies betrifft die Kontroversen um das Säkularisierungskonzept. In seiner modernisierungstheoretischen Fassung ist es der Kritik verfallen. Aber in einer differenzierungstheoretischen Reformulierung findet es weiterhin Anhänger, und zwar auch in diesem Band bei Rolf Weibel, der die Transformation des katholischen Milieus in der Schweiz als ein ‚disembedding’ beschreibt, in dem Vereine und Organisationen sich von amtskirchlichen Vorgaben lösen und an die Differenzierungsformen der ‚säkularen’ Gesellschaft anpassen. Vermehrt und kontrovers diskutiert wird in den letzten Jahren zweitens, so Hellemans, das von der „rational choice“- Theorie beeinflusste Konzept des religiösen Marktes. Verkürzt gesagt, interpretiert es Religion als einen von der Nachfrageseite bestimmten Markt, insbesondere um die Diskrepanzen zwischen der lebendigen Konkurrenz einer Vielzahl von Denominationen in den USA und der Erstarrung der Amtskirchen in Westeuropa zu erklären. Letztere verlangen demnach zu viel an Disziplin in der Lebensführung, bieten dafür aber mit ihrer an Monopolisten wie die Telekom erinnernden Unbeweglichkeit und Zentralisierung zu wenig, um es mit den in der Ritualisierung von religiösem Sinn flexiblen und an Konkurrenz gewöhnten Denominationen aufnehmen zu können. Schließlich ist drittens das von Thomas Luckmann entwickelte Theorem der ‚invisible religion’ zu nennen. Es sieht in der Individualisierung die entscheidende Dimension religiösen Wandels und interpretiert sie im Horizont der Aufladung von individualisierten Mustern der Lebensführung mit religiösem Sinn. James C. Kennedy verwendet vor allem diese Perspektive des Wandels vom Glauben zur individualisierten Spiritualität, um den religiösen Wandel und das Ende der „Versäulung“ in den Niederlanden seit den 1960er-Jahren zu beschreiben. Facetten der Pluralisierung des religiösen Feldes beschreiben verschiedene Beiträge. So etwa Yvon Tranvouez am Beispiel Frankreichs, wo in den 1950er-Jahren der Konflikt um die Arbeiterpriester/innen und die Missionierung der Arbeiterklasse zu einer Ausdifferenzierung des Linkskatholizismus führte. Claudius Kienzle, der die Perzeption von Pfingstlern/innen und Methodisten/innen im protestantischen Milieu Württembergs anhand der Visitationsberichte beschreibt. Oder David Neuhold, der aus theologiegeschichtlicher Perspektive die Genese des Dekrets „Dignitatis humanae“ über die Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil beschreibt.

Der zweite Teil des Jahrbuchs enthält breit gestreute kirchengeschichtliche Beiträge vor allem zu Themen aus der Schweiz. Dabei wird der Zeitraum vom 13. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg abgedeckt, die in einem wichtigen Beitrag von Hermann Kocher zur Flüchtlingsarbeit der Schweizer Protestanten/innen und den damit einhergehenden Reflexionen über die Schuldfrage thematisiert wird. Wiederum für ein breiteres Publikum relevant sind dann die Beiträge des dritten Teils, einem Forum zu „Religion-Kultur-Nation“. Siegfried Weichlein präsentiert Überlegungen zu „Religion und Kultur“, welche auf die beobachterrelative Vergleichbarkeit von Kulturmustern abheben. Diese ist seit dem späten 18. Jahrhundert ein zentrales Element der Semantik des Kulturbegriffs und ermöglichte und provozierte in der Epoche des Historismus die wechselseitige Vergleichbarkeit der moralischen und identitätsstiftenden Leistungen verschiedener Konfessionen. Eine solche religionsinterne und religionsproduktive Selbstbeobachtung des religiösen Feldes geht mit den in ihr enthaltenen Wertladungen verloren, so Weichlein, wenn „Kultur“ im Rahmen eines modernisierungstheoretischen Ansatzes als ein homogenes Subsystem der Gesellschaft konzeptualisiert wird. Urs Altermatt schlägt eine Termonologie des Verhältnisses von Katholizismus und Staat bzw. nationaler Identität vor. Er unterscheidet ein identitäres Modell (Belgien, Spanien), in dem der Katholizismus zentral für die Konstruktion der nationalen Identität ist, von einem Separationsmodell (Polen bis 1918/1945, Irland, Schweiz im Konflikt um die Gründung des Kantons Jura in den 1970er-Jahren). Bei letzterem führt die konfessionelle Identität zur Entstehung einer „sezessionsorientierten nationalen Bewegung“ (S. 427), wenn die katholische Bevölkerung sich im Bekenntnis von der Mehrheit des Nationalstaates unterscheidet. Des Weiteren unterscheidet er ein „Konkurrenzmodell“ (S. 428), bei dem die katholische Minderheit sich mit der Nation im Kern identifiziert, aber eine Oppositionshaltung gegenüber dem Staat einnimmt (Niederlande, Deutschland, Ungarn), und das in Frankreich praktizierte Trennungsmodell.

Abstrakt klingt der Titel des Beitrages von Franziska Metzger, „Konstruktionsmechanismen der katholischen Kommunikationsgemeinschaft“, und etwas zu abstrakt sind auch einige ihrer Thesen und Ergebnisse formuliert. Dabei findet sich hier, liest man den Beitrag genau, eine überaus wichtige historiografische Perspektive, die eine substanzielle Kritik an dem in der Katholizismusforschung so erfolgreichen, man möchte fast sagen zu erfolgreichen Konzept des „sozial-moralischen Milieus“ (R. Lepsius) enthält. „Konstruktionsmechanismen“, das sind jene ordnungsstiftenden Praktiken und Sinnverarbeitungsregeln, mit denen im ultramontanen Katholizismus Homogenität und Kohärenz erzeugt wurden, um das aggressive und fordernde Frömmigkeitskonzept dieser Strömung durchsetzen und dann stabilisieren zu können. „Hierarchisierung“, „Zentralisierung“, „Wahrheitsdefinition“, „Reflexivität“ und „Expansion“ sind einige der Chiffren, die Metzger zur Bezeichnung dieser Mechanismen vorschlägt. Nimmt man diesen Gedankengang ernst, so erweisen sich das Konzept des katholischen ‚Milieus’, aber auch manche der Überlegungen zum 19. Jahrhundert als einem ‚zweiten konfessionellen Zeitalter’ als Beschreibungen, welche diese diskursiven Konstruktionsmechanismen gewissermaßen reproduzieren und historiografisch verdoppeln, anstelle sie zum Gegenstand einer methodisch kontrollierten Dekonstruktion zu machen. Denn das ‚Milieu’ war eben nicht in erster Linie das Ergebnis sozialgeschichtlicher Rahmenbedingungen, sondern der mit diesen ordnungsstiftenden Anstrengungen erzielten und erzählten Homogenität. So gesehen, enthält dieser Beitrag eine wichtige Kritik an der Verwendung des Milieukonzepts.2

Der Band enthält ferner einen fast 90 Seiten starken Rezensionsteil, in dem viele wichtige internationale Veröffentlichungen zur neueren Religionsgeschichte kompetent und informativ besprochen werden. Mit dem vorliegenden Band, so lässt sich resümieren, hat sich die Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte als ein führendes Diskussionsorgan im Bereich der neueren europäischen Religionsgeschichte fest etabliert.

Anmerkungen:
1 Vgl. auch das Themenheft des Journal of Modern European History 3,2 (2005), insbesondere der Beitrag des Herausgebers: Graf, Friedrich Wilhelm, Euro-Gott im starken Plural? Einige Fragestellungen für eine europäische Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 3 (2005), S. 231-256; vgl. demnächst auch: Graf, Friedrich Wilhelm; Große Kracht, Klaus (Hgg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007.
2 Ein ähnliches Argument und eine vergleichbare, explizite Kritik am Milieukonzept enthält jetzt die wichtige Studie von: Schmidtmann, Christian, Katholische Studierende 1945-1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
21.08.2006
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