Martin Lengwiler: Zwischen Klinik und Kaserne

Titel
Zwischen Klinik und Kaserne. Die Geschichte der Militärpsychiatrie in Deutschland und der Schweiz 1870-1914


Autor(en)
Lengwiler, Martin
Erschienen
Zürich 2000: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 35,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Annett Moses, Institut für Geschichte der Medizin, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Entstehung der Militaerpsychiatrie in Deutschland und der Schweiz – diesem spannenden Themenkomplex widmet sich die 1998 abgeschlossene Dissertation von Martin Lengwiler, wobei der Deutsch-Franzoesische Krieg und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die zeitlichen Eckpfeiler der Studie bilden. Die Arbeit steht an der Schnittstelle zweier ganz unterschiedlicher Komponenten der Geschichtswissenschaft: Auf der einen Seite die Militaergeschichte, die gerade in den letzten Jahren verstaerkt in den Blickpunkt gerueckt ist und jetzt unter Anwendung eines weitreichenden interdisziplinaeren Forschungsinstrumentariums untersucht wird, 1 auf der anderen Seite die Geschichte der Psychiatrie, die noch immer schwerpunktmaeßig in der Medizingeschichte angesiedelt ist und von Historikern bislang nur am Rande mitgetragen wird. Obwohl sich in juengerer Zeit die deutsche und angelsaechsische Forschung mit der Thematik Medizin und Krieg - und in diesem Rahmen auch mit der Militaerpsychiatrie - intensiv beschaeftigt hat, 2 beschraenkten sich die militaerpsychiatrischen Fragestellungen vorwiegend auf die Zeit nach 1914, so dass Martin Lengwilers Beitrag eine Forschungsluecke schließt.

Die Arbeit gliedert sich mit den Großkapiteln „Die psychiatrische Perspektive“, „Institutionalisierung und Praxis der Militaerpsychiatrie in Deutschland“ und „Militaerpsychiatrie in der Schweiz“ in drei Teile, wobei die Untersuchungen zur Schweiz den geringsten Raum einnehmen und trotz des vergleichenden Ansatzes der Schwerpunkt beim Kaiserreich liegt. Nach einem einleitenden Kapitel ueber die Verwissenschaftlichung der militaerischen Ausbildung beschaeftigt sich der erste Teil mit den vier wichtigsten psychiatrischen Debatten im Wilhelminischen Zeitalter: der Frage der Kriegs- oder Militaerpsychosen sowie den Kontroversen um die Krankheitsdiagnosen "maennliche Hysterie", "Schwachsinn" und "pathologischer Wandertrieb". Der zweite Teil der Arbeit skizziert die einzelnen Institutionalisierungsschritte der Militaerpsychiatrie anhand der Untersuchung des Rekrutierungswesens und des militaerischen Strafwesens. Leitende Fragestellung ist hierbei, in welchen Interessenkonstellationen der Aufstieg der Militaerpsychiatrie vor sich ging und wie das institutionelle Umfeld auf die aerztlichen Entscheidungen Einfluss nahm. Der dritte Teil stellt die militaerpsychiatrische Diskussion in der Schweiz dar. Die Arbeit endet mit einer thesenartigen Zusammenfassung der Forschungsergebnisse. Im Anschluss findet sich eine umfassende Bibliographie, die den neuesten Forschungsstand dokumentiert.

Lengwiler waehlt fuer seine Studie mit den beiden Untersuchungseinheiten Deutschland und Schweiz einen vergleichenden Makroansatz. Hierbei setzt er die Praemisse, dass die beiden Staaten auf der einen Seite eine „homogene Wissenschaftsgemeinschaft“ bilden. Auf der anderen Seite zeichnen sie sich jedoch durch „heterogene politische Systeme“ aus. Der schweizerische Bundesstaat unterscheidet sich in seiner foederalistischen Struktur grundlegend von der zentralistischen Hegemonie der preußischen Militaerverfassung. Hinzu kommt der fundamentale Gegensatz zwischen dem stehenden Heer Deutschlands und dem schweizerischen Milizsystem. Diese kontrastierenden Ausgangssituationen lassen wenig Gemeinsames auf dem Weg der Ausbildung der Militaerpsychiatrie erwarten. Trotzdem wird der Vergleich mit dem anspruchsvollen Ziel gewagt, die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen der Militaerpsychiatrie kontrastierend herauszuarbeiten, um letztendlich nationale Besonderheiten zu finden. Eine „Beziehungsstudie“ des Austauschs von psychiatrischem und militaerischem Wissen zwischen Deutschland und der Schweiz wird hierbei aber nicht angestrebt (S. 20). Die Herausarbeitung der Wechselwirkung von Militaer und Psychiatrie im Hinblick auf die Anwendung psychiatrischen Wissens erfolgt mit Hilfe diskursanalytischer Methoden. Vom Foucaultschen Diskursbegriff („Macht, Wissen, Wahrheit“) ausgehend, liegt fuer Lengwiler „die Einheit des Militaer- oder des Psychiatriediskurses in der Integration verschiedener sozialer, von Machtbeziehungen durchsetzter Praktiken, die beim Militaer von der Rekrutierungspraxis bis zur Kriegfuehrung und bei der Psychiatrie von der anstaltsmaeßigen Verwahrung bis zur klinischen Massenuntersuchung reichen“ (S. 24). Fuer die Analyse der sich allmaehlich verfestigenden Verbindung von Militaer und Psychiatrie, die ja das eigentliche Explanandum konstituiert, wird das der Sprachwissenschaft entlehnte Hilfskonstrukt des Interdiskurses eingebracht. Der Interdiskurs entspricht hierbei denjenigen diskursiven Elementen, die gleichzeitig in verschiedenen Spezialdiskursen uebereinstimmen (S. 25).

Lengwiler stuetzt sich vor allem im ersten Teil der Arbeit auf die empirische Analyse einer groeßeren Anzahl von Krankengeschichten. Seine Quellen rekrutiert er vorwiegend aus medizinischen und militaeraerztlichen Fachzeitschriften. Somit greift er an dieser Stelle ausschließlich auf bereits veroeffentlichtes und daher „gefiltertes“ Quellenmaterial zurueck, was fuer einen diskursanalytischen Ansatz kaum problematisch ist. Auf der Suche nach der Patientenperspektive und der subjektiven Krankheitserfahrung des Betroffenen, die von Lengwiler gleichfalls angestrebt wird, ("so versteht sich diese Arbeit auch als Beitrag zur 'Militaergeschichte von unten' ", S. 30) waeren Originalkrankenakten wohl besser geeignet. 3 Denn bereits die Auswahl und Publikation bestimmter Krankheitsbilder ist Teil des militaerpsychiatrischen Diskurses. Allerdings stellt sich dem Autor das Problem der Kriegsverluste bei dem in Frage kommenden Aktenmaterial (S. 33), so dass ein Ausweichen auf publizierte Krankengeschichten unumgaenglich ist. Die Akten oeffentlicher oder privater Irrenanstalten haelt er fuer seine Fragestellung – zu Recht – fuer nicht relevant, weil Soldaten mit diagnostizierter Geisteskrankheit umgehend aus dem Militaer ausgeschlossen wurden.

Nachfolgend werden einige Ergebnisse der Studie dargestellt. Als Folge der Kriegsneurosenfrage hatte sich die Militaerpsychiatrie waehrend des Ersten Weltkriegs endgueltig innerhalb der europaeischen Armeen etabliert. Eine militaerpsychiatrische Diskussion setzte in Europa aber bereits mit dem Krieg von 1870/71 ein. Obwohl dieser Krieg ueber weite Strecken durch die Technisierung der Kriegsmittel gepraegt war, koennen die beobachteten Geisteskrankheiten nicht zwangslaeufig als Folgewirkung der Modernisierung der Kriegfuehrung interpretiert werden. Vielmehr zeigt Lengwilers Untersuchung, dass die in den Krankenberichten haeufig anzutreffenden Erfahrungen von Erschoepfung und Schockerlebnissen sich nicht grundsaetzlich von den Berichten aus vormodernen Kriegen unterschieden.

Die Studie zeichnet den Aufstieg der Militaerpsychiatrie im Kaiserreich als polyvalenten Prozess nach, in dem militaerische und psychiatrische Faktoren ineinanderspielten. Befoerdernd wirkten auf Seiten des Militaers die Aufwertung der Psychiatrie innerhalb der militaeraerztlichen Ausbildung durch die institutionalisierte Kommandierung von Militaeraerzten an zivile psychiatrische Kliniken sowie die Einrichtung professionell betriebener „Beobachtungsstationen“ an den großen Militaerlazaretten. Eine erfolgreiche Institutionalisierung der Militaerpsychiatrie konnte vor 1914 dennoch nicht nachgewiesen werden, weil sowohl eine zentrale militaerpsychiatrische Behoerde als auch eine autonome militaerische Anstalt fuer Geisteskranke fehlte.

Die Untersuchung zeigt weiterhin einen wissenschaftlichen Perspektivenwechsel in der Militaerpsychiatrie auf. An die Stelle der These vom pathogenen Charakter des Militaers trat eine neue Ursachenlehre. Die Aetiologie der Militaer- und Kriegspsychosen sollte nun in der konstitutionellen und hereditaeren Disposition bestehen, welche der einzelne Rekrutierte vor seiner Dienstzeit erworben hatte. Hiermit traten die Praeventions- und Selektionsfragen bei Rekrutierungen und Entlassungen in den Vordergrund. Eine Analyse der Krankheiten "maennliche Hysterie", "psychopathische Minderwertigkeit", "pathologischer Schwachsinn" und "krankhafter Wandertrieb“ anhand von Fallstudien erbrachte, dass sich die diagnostischen Begriffe im militaerpsychiatrischen Alltag als ausgesprochen unscharf erwiesen. Die Fallstudienanalyse ergab zudem, dass die Erkrankungen haeufig in Zusammenhang mit sozialen Konflikten zwischen Untergebenen und Vorgesetzten, aber auch unter den Soldaten, standen. Vor diesem Hintergrund wurde die Bedeutung der Militaerpsychiatrie als alternatives Sanktionsmittel im Konfliktfall anhand der Auswertung von 100 begutachteten Faellen eines bayerischen Kriegsgerichts ueberprueft. Lengwiler kann die These bestaetigen, dass die Militaergerichte bei Unterordnungsdelikten und bei Fahnenflucht zunehmend auf die forensische Psychiatrie zurueckgriffen, um die Zurechnungsfaehigkeit der Delinquenten zu beurteilen.

Der Vergleich mit der Militaerpsychiatrie in der Schweiz bot erwartungsgemaeß wenig Uebereinstimmungen. Eine Militaerpsychiatrie, wie sie sich in Deutschland ansatzweise gebildet hatte, existierte dort nicht. Die schweizerische Entwicklung war von einer grundsaetzlich anderen Ausgangslage gepraegt, da aufgrund der kurzen Dienstzeiten in der Milizarmee der Umfang an psychiatrischen Faellen gering war. Somit war die Basis fuer eine ausdifferenzierte institutionalisierte Militaerpsychiatrie nicht vorhanden. Trotzdem spielten militaerpsychiatrische Kriterien vor allem beim Rekrutierungswesen eine Rolle. So entzuendete sich beispielsweise zwischen 1874 und 1900 an den niedrigen Tauglichkeitsquoten der schweizerische „Degenerationsdiskurs“.

Zum Abschluss formuliert Martin Lengwiler drei weiterfuehrende Forschungsperspektiven, welche sich weniger auf die Militaerhistoriographie als vielmehr auf die Psychiatriegeschichte beziehen. Dies ist einmal der Hinweis auf die bislang wenig erforschte forensische Psychiatrie im wilhelminischen Zeitalter. Zum zweiten fordert er die verstaerkte Einbeziehung der kulturellen Bedeutung von Geisteskrankheiten, die er mit seinem diskursanalytischen Untersuchungsansatz nur streifen konnte. 4 Diese Anregung kann auch fuer die Militaergeschichtsschreibung unterstrichen werden, denn die Oeffnung zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen bietet ein großes Potential auch fuer das Verstaendnis des Militaers und seiner Akteure. Zum dritten weist er auf das komplexe Feld der Diagnostizierung und Klassifikation von psychiatrischen Erkrankungen hin, mit dem letztendlich jedes Forschungsprojekt konfrontiert wird, das sich die Untersuchung psychiatrischer Krankheitsbilder in einem spezifischen historischen Kontext zum Ziel setzt. Hierbei kann es aber nicht darum gehen, psychiatrische Erkrankungen im Nachhinein zu klassifizieren, vielmehr sollten die zeitgenoessischen Diagnosen – wie in der Studie Lengwilers verdeutlicht wurde - in ihrem historischen Umfeld analysiert und beurteilt werden, um die Verwendung eines „ueberhistorischen“ Maßstabes zu vermeiden.

Martin Lengwiler fuehrt die beiden Forschungsstraenge Militaer- und Psychiatriegeschichte unter der leitenden Fragestellung der Entstehung der Militaerpsychiatrie in einer methodisch reflektierten und stringent umgesetzten Untersuchung zusammen. Mit Hilfe eines breiten methodischen Spektrums werden die fuer die Etablierung der Militaerpsychiatrie relevanten Fragestellungen unter Einbeziehung des aktuellen Forschungsstandes anhand der Quellen ueberprueft und bewertet. Die Komplexitaet der Arbeit, die aus der Integration sowohl diskursanalytischer als auch alltags- und geschlechtergeschichtlicher Ansaetze resultiert, erfordert von dem Leser eine große Vertrautheit mit dem Methodenspektrum der Geschichtswissenschaft. Insgesamt bleibt festzuhalten: Hier wurde eine ueberaus gelungene und lesenswerte Darstellung zur Entstehungsgeschichte der Militaerpsychiatrie vorgelegt.

Anmerkungen:

1 Ein weites Spektrum an aktuellen militaerhistorischen Forschungsfeldern und methodischen Ansaetzen findet sich beispielsweise in: Thomas Kuehne/Benjamin Ziemann (Hgg.), Was ist Militaergeschichte?, Paderborn 2000. Zur Kriegswahrnehmung vgl. etwa Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hgg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitaetsgeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1997.

2 Vgl. z.B. stellvertretend den von Wolfgang Eckart und Christoph Gradmann herausgegebenen Sammelband Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996. Die Herausgeber bemaengeln den Forschungsstand zum Themenkomplex Medizin und Krieg, heben aber die vergleichsweise weit fortgeschrittenen Studien zu den Kriegsneurosen hervor. Ebenda, S. 3. Fuer das Forschungsfeld der Kriegspsychiatrie sind beispielhaft zu nennen: Esther Fischer-Homberger, Die Traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern/Stuttgart/Wien 1975. Neuere Untersuchungen sind: Guenther Komo, Fuer Volk und Vaterland: Die Militaerpsychiatrie in den Weltkriegen, Hamburg 1992; Peter Riedesser/Axel Verderber, "Maschinengewehre hinter der Front". Zur Geschichte der deutschen Militaerpsychiatrie, Frankfurt a.M. 1996. Speziell zur Hysterie vgl. die Dissertation von Paul Lerner, Hysterical Men: War, Neurosis, and German Mental Medicine 1914-1921, Diss. Columbia University 1996. Diese Studie wurde von Lengwiler leider nicht beruecksichtigt.

3 Zu den Vorzuegen von Originalkrankenakten, die neben der Dokumentation der Krankengeschichte haeufig noch andere Schriftstuecke, wie etwa Korrespondenzen enthalten vgl. Radkau, Joachim, Zum historischen Quellenwert von Patientenakten. Erfahrungen aus Recherchen zur Geschichte der Nervositaet, in: Bernd Hey/Dietrich Meyer (Hgg.), Akten betreuter Personen als archivische Aufgabe. Beratungs- und Patientenakten im Spannungsfeld von Persoenlichkeitsschutz und historischer Forschung, Neustadt a.d. Aisch 1997, S. 1-30 .

4 Vgl. als Beispiel die Studien von Volker Roelcke und von Joachim Radkau, die trotz erheblicher methodischer Unterschiede bei der Analyse psychiatrischer Diagnosen in diese Richtung zielen. Volker Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im buergerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt 1999. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervositaet. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Muenchen 1998.

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Veröffentlicht am
26.10.2001
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