U. Altermatt (Hg.): Katholische Denk- und Lebenswelten

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Titel
Katholische Denk- und Lebenswelten. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte des Schweizer Katholizismus im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Altermatt, Urs
Erschienen
Fribourg 2004: Paulusverlag
Anzahl Seiten
264
Preis
€ 32,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die neuere historische Katholizismusforschung beschäftigte sich lange Zeit mit der Partei- und Vereinsgeschichte. Seit einigen Jahren differenziert sich auch hier die Methodik immer mehr aus und es scheint, dass die kulturgeschichtliche Wende nun auch die Katholizismusforschung erfasst hat. Geschlechtergeschichtliche Fragen 1, die Mentalitätsgeschichte 2 und die ganze Breite kulturgeschichtlicher Fragestellungen haben den Gegenstand auf völlig neue Perspektiven hin geöffnet. Die von dem Fribourger Zeithistoriker Urs Altermatt und von Victor Conzemius herausgegebenen Sammelbände bilden Wegmarken in der methodischen Neuorientierung und inhaltlichen Vertiefung der Katholizismusforschung.3 Auch der hier anzuzeigende Band zu den „katholischen Denk- und Lebenswelten”, den Altermatt inspiriert und herausgegeben hat, differenziert das Methodenarsenal weit aus, mit welchem dem analytischen Block Katholizismus zu Leibe gerückt wird. Er geht auf eine Fribourger Tagung im März 2002 zurück. Indem er die Ideenformation Katholizismus im Kontext von Lebenswelten untersucht, fallen die intellektuelle Geschichten, die er zu erzählen hat, nicht zurück in die reine Ideengeschichte, sondern behalten den Erkenntnisgewinn der sozialen Einbettung von Ideen bei. Katholischen Denk- und Lebenswelten sind so Sozialfiguren des Katholischen im Übergang zur Moderne.

Den Band durchzieht das mentalitätsgeschichtliche Interesse, Kontinuität und Wandel für den Schweizer Katholizismus im 20. Jahrhundert näher zu bestimmen. Denk- und Lebenswelten belegen Prozesse der mentalen und sozialen Inklusion und Exklusion. Formen der Exklusion waren vor allem dort erfolgreich, wo Ideen und Alltag, Vereine und Politik die gleiche Stoßrichtung gegen einen gemeinsamen Feind miteinander teilten, wo also Denk- und Lebenswelten gleichgerichtet waren. Die Beiträge, die die Exklusionsmechanismen im Schweizer Katholizismus untersuchen, kommen zu keinen anderen Ergebnissen als die Vereins- und Parteigeschichten, die wir bereits besitzen.4 Die Ergebnisse der Beiträge von Thomas Metzger und Stephan Aerschmann zu Inklusion und Exklusion überraschen daher nicht wirklich. Der katholische Antikommunismus war auch politisch und vereinsgeschichtlich tief verwurzelt. Die Pointe des katholischen Antikommunismus in Westeuropa war freilich nicht die Exklusion, sondern die erneute Integration. Der katholische Antikommunismus etwa in Gestalt des Abendland-Gedankens begründete die katholische Loyalität zur europäischen Einigung.5 Warum dem in der Schweiz nicht so war, erfährt man nicht. Auch die Nähe und Ferne zum italienischen Faschismus, die Stephan Aerschmann untersucht, rekurriert auf einen genuin politischen Vorgang, der ideell nurmehr nachvollzogen wird. Das gilt für emphatische Zustimmung nach den Lateranverträgen von 1929 genauso wie für die Abkühlung der Zuneigung zum Duce, als dieser seit 1931 gegen die Katholische Aktion vorging.

Sehr viel aussagekräftiger und prägnanter ist dieser Band dort, wo Denk- und Lebenswelt nicht gleichgerichtet waren, sondern sich gegenläufig verhielten, zumeist weil ein sozialer Wandel zu verabreiten war. Hier beleuchten die untersuchten Gegenstände die ideelle und soziale Reproduktion des Katholizismus. Dafür steht exemplarisch der Beitrag zum Wandel der Sonntagskultur von Urs Altermatt. Er zeichnet den Übergang vom religiösen Sonntag zum säkularen weekend nach. Während im religiösen Sonntag die gemeinsame Zeiterfahrung und das genau geregelte Zeitregiment vom Frühgottesdienst bis zur Spätandacht Hand in Hand gingen, lockerte sich dieser Zusammenhang unter dem Einfluss gestiegener Mobilität und der Freizeitgesellschaft nach 1960. In der Bundesrepublik ließen sich ähnlich Trends bereits in den 1950er-Jahren beobachten.6 Die katholische Kirche in der Schweiz reagierte darauf mit einer Flexibilisierung des Gottesdienstreglements, indem sie Abendgottesdienste einführten. Bezeichnend war die Argumentation, mit der katholische Vertreter den Sonntag öffentlich zu verteidigen suchten. Der Sonntag wurde als Teil des kulturellen Gedächtnisses interpretiert und damit dem Bereich der Kultur zugeordnet, der für zustimmungsfähig gehalten wurde.

Die Beiträge von Mirjam Mooser und Mirjam Künzler belegen den kaum zu überschätzenden Prozess der Abkopplung der religiösen Denkwelt von der Lebenswelt der Frauen in Fragen der Sexualmoral. Die kirchliche Sexualmoral stand dabei nicht, wie immer wieder zu hören ist, unter dem Diktat einer angeblichen Leibfeindlichkeit, sondern sie bildete vielmehr eine Funktion der Sozialmoral, die mit allen Mitteln die Familie als die typische Sozialform des Katholiken verteidigte. Dem gesellschaftlichen Wandel antwortete die Kirche mit Vorwürfen an die „verdorbene Zeit” und gegen das „lasthafte Abwenden von der Kirche”. Die passiv-aggressive Ablehnung des eingetretenen Wandels betraf vor allem die Frauen. Ihre Haltung zur Sexualität stand im Mittelpunkt der kirchlichen Pastoral, nicht diejenige der Männer. Die gescheiterte Propagierung der Ogino-Knaus-Methode und die Ablehnung aller Verhütungsmittel durch die Enzyklika „Humanae vitae” (1968) stellten einen Meilenstein in der Entfremdung von Denk- und Lebenswelt dar. Der Tübinger Dogmatiker Peter Hünermann - im vorliegenden Buch nicht erwähnt - sprach in diesem Zusammenhang vor einigen Jahren von der dritten Modernismuskrise der katholischen Kirche, nach der ersten um die kirchliche Hierarchie (1837-1870) und der zweiten um den Stellenwert der Wissenschaft (Enzyklika Pascendi, 1907).7 Zwischen 1975 und 1990 entfremdeten sich die Kirchenmoral und die weibliche Sexualethik immer mehr. Doch anders als bei den ersten beiden Modernismuskrisen kam es diesmal nicht zur horizontalen Kirchenspaltung (Deutsch-Katholiken 1844, Altkatholiken 1870), sondern zum vertikalen Schisma, indem die kirchlichen Lehren schlicht massenweise nicht mehr befolgt wurden.

Einen weiteren Juwel in diesem Band stellt der Beitrag von Stephan Mooser zu Kredit und Sparen dar. Er zeigt, wie die katholische Denk- und Lebenswelt in den katholischen Raiffeisenkassen ineinander griffen. Mooser sieht in der wechselseitigen Stützung von katholischer Sozialmoral und wirtschaftlich-ökonomischen Interessen die Ursache für den Erfolg der Raiffeisenkassen in der katholischen Landbevölkerung nach dem Motto „Das Geld des Dorfes dem Dorfe”. Die finanzielle Selbsthilfe der ländlichen Katholiken wurde nach Kräften als ökonomisches Hilfsmittel für bedrohte Höfe und als Instrument christlicher Caritas beworben. 1928 waren von den 468 Raiffeisenkassen die allermeisten in katholischen Gegenden, nur 91 in reformierten Gemeinden tätig. Gleichzeitig transportierten die Selbsthilfekassen das soziale Ideal des Sparens und der Kreditwürdigkeit des kleinen Mannes. Sie sollten in den Unterschichten Tugenden wie Fleiss, Arbeitsamkeit und Häuslichkeit internalisieren helfen und zur „Überwindung des Sinnenkitzels” beitragen (S. 91). Die katholische Sozialmoral und das Bedürfnis der Unterschichten nach sozialer Anerkennung gingen ein Bündnis ein. 1912 meinte Pfarrer Johann Evangelist Traber: „Mehr als durch großen Schein wird die Kreditfähigkeit begründet durch eine einfache und standesgemäße Lebensführung, und eine fleissige und sparsame Hausfrau bringt dem Manne mehr Kredit als über den Stand vornehme Töchter und Sport treibende Söhne.” (S. 92) Dieser Band verdeutlicht anschaulich und facettenreich den Erkenntnisgewinn, der entsteht, wenn sich Mentalitäts- und Alltagshistoriker mit Katholizismus beschäftigen. Er gibt der Katholizismusforschung nachhaltige Anregungen.

Anmerkungen:
1 Meiwes, Relinde, Religiosität und Arbeit als Lebensform für katholische Frauen. Kongregationen im 19. Jahrhundert, in: Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 69-88.
2 Kuhlemann, Frank-Michael, Protestantisches Milieu in Baden. Konfessionelle Vergesellschaftung und Mentalität im Umbruch zur Moderne, in: Ders. u.a. (Hgg.), Religion im Kaiserreich, Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 316-349.
3 Vgl. Altermatt, Urs (Hg.), Schweizer Katholizismus im Umbruch, 1945-2000, Fribourg 1993; Ders. (Hg.), Schweizer Katholizismus zwischen den Weltkriegen, 1920-1940, Fribourg 1994; Conzemius, Victor (Hg.), Schweizer Katholizismus 1933-1945. Eine Konfessionskultur zwischen Abkapselung und Solidarität, Zürich 2003.
4 Vgl. Altermatt, Urs, Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1991.
5 Vgl. Schildt, Axel, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.
6 Vgl. Weichlein, Siegfried, Sattelzeit der Milieuerosion. Die deutschen Katholiken in den 1950er Jahren, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 6 (2003), S. 54-58.
7 Vgl. Hünermann, Peter, Droht eine dritte Modernismuskrise? Ein offener Brief von Peter Hünermann an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, in: Herder-Korrespondenz 43 (1989), S. 130-135; Ders., Antimodernismus und Modernismus - eine kritische Nachlese, in: Wolf, Hubert (Hg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche, Paderborn 1998, S. 367-376.

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Veröffentlicht am
07.04.2005
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