G. Sutter: Geschlechterwandel in der Schweiz 1945-1970

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Titel
Berufstätige Mütter. Subtiler Wandel der Geschlechterordnung in der Schweiz 1945-1970


Autor(en)
Sutter, Gaby
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 38,80
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Jacqueline Weber, Zentrum Gender Studies, Universität Basel

Politik, Wissenschaft und Medien befassten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Industrieländern mit der deutlichen Zunahme der Erwerbsrate verheirateter Frauen. Unter dem Stichwort „Mütterarbeit“ wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren mit grosser Emotionalität eine kontroverse und zum Teil heftige Debatte über die möglichen Folgen außerhäuslicher Berufstätigkeit verheirateter Frauen und Mütter für den Familienalltag, die Kinder, die Ehemänner und die Gesellschaft geführt. In der Schweiz war laut statistisch Angaben das Ausmaß der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen mit Kindern geringer als in den meisten westlichen Industrienationen. Dennoch wurde auch in der Schweiz, wo zudem die politische Gleichberechtigung als dringlichstes frauenpolitisches Thema zur Debatte stand, intensiv und emotional über „Mütterarbeit“ gestritten. Die ausserhäusliche Berufstätigkeit verheirateter Frauen mit Familienpflichten stellt einen augenfälligen Wandel der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nach 1945 dar. Das um 1800 konzipierte und in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eingeführte Ernährer-Hausfrau-Modell, das dem Ehemann die Pflichten des Familienernährers und der Ehefrau die Aufgaben der nichtberufstätigen Hausfrau und Mutter zuordnet, wurde auf Grund des wirtschaftlichen Aufschwungs nach 1945 für einen großen Teil der Bevölkerung finanziell erschwinglich. Gleichzeitig wurde dieses Modell durch die markante Zunahme der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen mit minderjährigen Kindern destabilisiert. In der kultur- und geschlechtergeschichtlichen Forschung wurden die 1950er-Jahre bisher als Zeit des Stillstands und des Einvernehmens angesehen. Ein Wandel wurde primär in der wirtschaftlichen Entwicklung und im Konsumverhalten festgestellt, und die Geschlechterverhältnisse wurden als stabile Ordnung interpretiert.

In ihrer Dissertation „Berufstätige Mütter. Subtiler Wandel der Geschlechterordnung (1945-1970)“ untersucht Gaby Sutter die kontrovers geführte Debatte über die Mütterarbeit und analysiert den Wandel des Ernährer-Hausfrau-Modells nach 1945. Die große Emotionalität und Heftigkeit mit der über die „Mütterarbeit“ verhandelt wurde, interpretiert sie – überzeugend – als Indiz dafür, „dass die Geschlechterordnung damals keineswegs selbstverständlich war sondern auch in der Schweiz nach 1945 neu ausgehandelt wurde“ (S. 13). Die Historikerin und Forschungsleiterin des Projektes „Staatliche Fürsorge und Marginalität“ am interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Bern hat bereits verschiedene Studien zu Frauenarbeit einerseits und zur Sozialen Arbeit andererseits veröffentlicht. In der vorliegenden Arbeit zeigt Gaby Sutter auf, wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Erwerbsbereich etabliert und in der gesellschaftlichen Ordnung festgeschrieben wurde. Sie untersucht die bedeutsamsten Diskurse, die Mutterschaft als Ausschlusskriterium für eine Integration im Arbeitsmarkt definierten. Anhand der Debatten über Arbeitsschutzmaßnahmen, Lohn(un)gleichheit und vor allem über „Mütterarbeit“ verdeutlicht sie die Funktionsweise dieses Ausschlussmechanismus. Ein weiterer Fokus der Arbeit zielt auf die Frage nach der Bedeutung des Ernährer-Hausfrau-Modells im Familienalltag und den Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen berufstätiger Mütter innerhalb dieser Ordnungsvorstellung. Die Autorin untersucht die statistischen Entwicklungen der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen und Mütter sowie die zahlreichen sozialwissenschaftlichen Befragungen über erwerbstätige Mütter und ihre Familien, die im Untersuchungszeitraum durchgeführt wurden. Sie fragt nach Verfestigung und Umgestaltung sowie nach Trennlinien und Überschneidungen der als weiblich und männlich konnotierten Bereiche und somit nach der Dauerhaftigkeit und Auflösung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Um den Fragen nach Diskurs, Handlungsfähigkeit und Erfahrung mütterlicher Berufstätigkeit nach 1945 differenziert nachgehen zu können, setzt sich Gaby Sutter mit den verschiedenartigsten Quellen auseinander. Gesetze, behördliche Verlautbarungen, Kommissions- und Parlamentsdebatten, Forschungsberichte und Artikel aus der Tagespresse zieht sie ebenso in ihre Untersuchung mit ein wie die Statistiken der Eidgenössischen Volkszählung. Die Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen berufstätiger Mütter zeigt Gaby Sutter in – besonders spannenden, weil von der historischen Forschung bisher kaum genutzten – Quellen aus qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung auf: In der Schweiz wurden zwischen 1945 und 1970 drei größere sozialwissenschaftliche Studien über berufstätige Mütter durchgeführt. Daneben verfassten Absolventinnen von Schulen für Soziale Arbeit in der Deutsch- und Westschweiz über 20 Diplomarbeiten zu diesem Thema.

Nach der Einführung beschreibt Gaby Sutter im 2. Kapitel die Etablierung des Ernährer-Hausfrau-Modells im Erwerbsbereich anhand der Frauenschutzmaßnahmen im Arbeitsrecht und der geschlechtsspezifischen Lohnungleichheit. Sie zeigt auf, wie diese Schutzmaßnahmen und die Festschreibung von erheblichen Lohnunterschieden für die Geschlechter maßgeblich dazu beitrugen, dieses Modell im Bereich der Arbeitswelt zu verankern und damit die Geschlechterdifferenz auf dem Arbeitsmarkt auch in Zeiten anhaltender Hochkonjunktur und politischer Stabilität zu festigen und eine Veränderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu blockieren. Im dritten Kapitel analysiert sie den Diskurs über „Mütterarbeit“ in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Nach 1945 schien die anhaltende Nachfrage nach Arbeitskräften, der steigende Lebensstandard, die sinkende Kinderzahl und die Rationalisierung der Hausarbeit die Notwendigkeit der ausschließlichen und dauernden Beschäftigung von Ehefrauen mit dem Haushalt und der Kindererziehung in Frage zu stellen. Als neues Argumentarium wurde das Konzept der „allgegenwärtigen Mutter“ herangezogen. Psychologie und Psychiatrie formulierten den normativen Grundsatz einer „ausschließlichen“ Mutter-Kind-Bindung in den ersten Lebensjahren als eine neue Legitimation für die ununterbrochene Präsenz der Mutter im Familienbereich. Die Analyse der zeitgenössischen Studien über erwerbstätige Mütter und deren Familien im 4. Kapitel steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Die Fragen, denen die Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen sowie die Diplomandinnen der Schulen für Soziale Arbeit nachgingen, bezogen sich in erster Linie auf die finanzielle Notwendigkeit des Frauenlohns und die vermuteten negativen Folgen mütterlicher Erwerbsarbeit für das Familienleben und speziell für die Sozialisation der Kinder. Sutter untersucht wie im Alltagsleben und in den Anschauungen der befragten Frauen Diskurs und Erfahrung verschränkt waren. Sie geht der Motivvielfalt mütterlicher Berufstätigkeit, Fragen zum Familienbudget, der konkreten Organisation des Familienalltags, der Partizipation der Ehemänner ebenso nach wie den Einstellungen der befragten Mütter zur Legitimität ihrer eigenen Erwerbsarbeit und generell der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen mit Erziehungsaufgaben. Die befragten Frauen erscheinen nicht als Opfer von Sachzwängen, sondern als Akteurinnen in der Gestaltung des Familien- und Erwerbslebens. Sutter verdeutlicht, dass die Alltagserfahrungen der befragten Frauen in starkem Kontrast stehen zum in den vorigen Kapiteln beschriebenen diskursiven Repertoire über „Mütterarbeit“. Die Einstellungen der erwerbstätigen Mütter und ihrer Ehemänner sowie die Wertungen der Autoren und Autorinnen der Studien zeigen hingegen, wie sehr der Diskurs gegen mütterliche Erwerbsarbeit Vorstellungen und Alltagshandeln prägte. Die statistische Entwicklung der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen kontrastiert stark mit der Etablierung des Ernährer-Hausfrau-Modells. Gaby Sutters Interpretation der statistischen Zahlen im 5. Kapitel macht deutlich, dass sich die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen weniger quantitativ als qualitativ verändert hatte. Der Rückgang der weiblichen Erwerbsquote in der Mitte des 20. Jahrhunderts erklärt sie durch den Wegzug von Ausländerinnen während des Zweiten Weltkrieges und der Definition der Mitarbeit von Ehefrauen in den familieneigenen Betrieben als Hausarbeit. Im sechsten Kapitel fragt die Autorin nach den Vorstellungen in Politik und Öffentlichkeit, wie Familie und Beruf vereinbart werden sollten. Sie analysiert die vorgeschlagenen Lösungen Teilzeitarbeit und Drei-Phasen-Modell und zeigt, dass die von Politikern, Verbänden und Wirtschaft diskutierten Modelle keinen grundsätzlichen Wandel der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Gang setzten, sondern lediglich eine Modernisierung des Ernährer-Hausfrau-Modells darstellten, die den verheirateten Müttern eine Funktion als Zuverdienerin zuordneten. Im letzten Kapitel diskutiert die Autorin den subtilen Wandel der Geschlechterbeziehungen nach 1945 und interpretiert ihn im Kontext des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels in der Schweiz in diesen Jahren.

Eines der zentralsten Strukturmerkmale in unserer Gesellschaft ist die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, wie sie seit 1800 formuliert und immer wieder neu ausgehandelt wurden. In der vorliegenden Arbeit gelingt es Gaby Sutter die historische Analyse des Ernährer-Hausfrau-Modells mit den Alltagserfahrungen erwerbstätiger Mütter zu verknüpfen und somit die Bedeutung der Erwerbsarbeit für den gesellschaftlichen Wandel darzulegen. Sie zeigt, wie das Zusammenspiel von Wissenschaft, Medien und Politik dem Diskurs über „Mütterarbeit“ das Potential einer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung verlieh und die Verteilung von Macht definierte. Der Einbezug von sozialwissenschaftlichen Studien in eine historische Untersuchung erweitert einerseits die Analysemöglichkeiten in äußerst ergiebiger Weise und erinnert andererseits implizit an die nötige Selbstreflexivität jeglicher wissenschaftlicher Forschungstätigkeit.

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Veröffentlicht am
12.01.2007
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