J. Tanner: Fabrikmahlzeit

Titel
Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950


Autor(en)
Tanner, Jakob
Erschienen
Zürich 1999: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
600 S. 64 Abb.
Preis
€ 47,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Stefan Laube, "Schweiz und Zweiter Weltkrieg" ETH-Zentrum, Unabhängige Expertenkommission (UEK):

Bilder im Buch zeigen die Kantine als Ausdrucksform feiner Unterschiede: Tische in einem Essraum für Angestellte einer Werkzeugmaschinenfabrik bei Zürich aus dem Jahr 1942 sind mit Tischtüchern versehen (S.376). Auf den Tischen der Gedecke der Ciba-Angetellten standen zudem Salz und Pfeffer sowie Wassergläser ( S.179). Aber auch die ungedeckten Tische im Speisesaal für Arbeiter spiegelten kollektiven Aufstieg, stand doch nun für jeden Esser ein einzelner Stuhl bereit, nachdem er früher mit schlichten Bänken hat vorlieb nehmen müssen. An Kantinen mussten sich die Arbeiter erst gewöhnen: Ursprünglich brachte der Arbeiter einfach das Essen in die Fabrik mit und nahm sich - oft eigenmächtig - Zeit zum Essen und Trinken. Das Mittagessen in Betriebskantinen mußte vor diesem Hintergrund als "lebensweltliche Anomalie" (S.25) erscheinen, als ein von Unternehmern forciertes gemeinschaftliches Ritual zur betrieblichen Integration.

Ernährungsweisen sind nicht nur ein biologisches, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen, abhängig von sozialen Hierarchiemustern und wissenschaftlichen Konstrukten. Schon Norbert Elias beherrschte den Ansatz, das Große im Kleinen zu sehen und leitete aus Tischsitten und Essgewohnheiten bestimmter sozialer Schichten umfassende, bahnbrechende kulturgeschichtliche Zusammenhänge ab. Sowohl Elias als auch Tanner wollen den Prozeß der Rationalisierung beziehungsweise Zivilisation besser verstehen, wobei Tanners Ausgangspunkt ein ganz anderer ist. Die Habilitationsschrift des in Zürich lehrenden Historikers beschäftigt sich am Beispiel der schweizerischen Fabrikmahlzeit in der Zeit von 1890 bis 1950 eingehend mit der Ernährungssituation der Unterschichten und erschließt damit ein ergiebiges, bisher von Historikern kaum betretenes Forschungsfeld im Schnittpunkt von Sozial-, Kultur-, Geschlechter- und Umweltgeschichte.

In seinen ausführlichen, auf hohem Reflexionsniveau angesiedelten einleitenden Bemerkungen sieht Tanner anknüpfend an Kulturbegriffe von Max Weber, Clifford Geertz oder Michel Foucault in der Ernährungspraxis weniger eine rein physiologische Tatsache, sondern ein Ferment "symbolischer Ordnung" (S.16), an der sich Geschlechterbeziehungen und Klassenstrukturen ablesen lassen. Ungewohnt und nachahmenswert ist die enge Tuchfühlung von Tanners Metapherngeschichte mit Forschungsprojekten aus der Kunst- und Literaturgeschichte (Gerhard Neumann, Stephen Greenblatt), die in der gemeinsamen Mahlzeit Austauschprozesse "sozialer Energie" diagnostizierten (S.18). In der Einbildungskraft transformierten sich die von Justus Liebig im Fleisch nachgewiesenen tierischen Proteine zum Antriebsfaktor der Muskelkraft des Arbeiters. In der Motorenmetapher sprach sich in der Angleichung des Menschen an die Maschine die Degeneration der Nahrungsaufnahme zur Energiezufuhr aus. Alltägliche Volkskultur und wissenschaftliche Expertenkulturen sind eng miteinander verquickt und beeinflussen sich gegenseitig. Tanners "Kulturgeschichte des Sozialen" (Roger Chartier) führt bisher disparate Zugangsweisen in der Geschichtwissenschaft zusammen, ohne sich in einen Eklektizismus zu verlieren.

Das Buch entfaltet sein Thema in zehn Kapiteln. Die ersten Abschnitte beschäftigen sich mit den Ernährungsvorstellungen der wissenschaftlichen Experten. Hier kann der Leser anschaulich nachvollziehen, wie Physiologen und Arbeitswissenschaftler wissenschaftlich beglaubigte Körperbilder entwickelten. Unter der "Herrschaft der Mechanisierung" (Sigfried Giedeon) transformierte sich der arbeitende Körper in eine Kraftmaschine (S.57). Tierische Eiweissstoffe konnten so zur wissenschaftlich legitimierten Hauptkraftquelle des Industrialisierungsprozesses aufsteigen (S.72). Erst die Entdeckung von Kalorien um die Jahrhundertwende durch die Lebensreformbewegung (Maximilan Bircher-Benner / Max Rubner) sollte mit dem Fleischkult brechen und machte Eiweissstoffe ersetzbar, ohne daß Energie verloren ging.

Tanner setzt sich eingehend mit dem Diskurs über die "Volksernährung" auseinander und beleuchtet damit die Ernährungslage der Unterschichten aus dem Blickwinkel der Mittel- und Oberschichten (S.93f). Mit dem Konzept "rationeller Ernährung" (S.89ff) wandten sich die Ernährungswissenschaftler an die allein dafür kompetenten Arbeiterfrauen. Dabei ist es spannend zu verfolgen, wie die Exponenten einer reformierten Ernährung mit ihren Vorschlägen immer wieder an den im Volk besonders zäh verteidigten Ernährungsgewohnheiten zu scheitern drohten (S.117).

Behutsam erhellt Tanner die Privatspähre der Hausarbeit auf Grundlage des nicht unproblematischen Quellenkorpus der Haushaltsrechungen beziehungsweise Konsumstatistiken, die seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts von staatlichen Ämtern erstellt wurden. Hier wird seine Studie besonders empirisch und quantifizierend (S.127ff). Im nächsten Kapitel blickt er am Beispiel der drei bekanntesten Unternehmen der Basler chemischen Industrie hinter einige "Fabrikeinfassungen" (S.185ff). Der Industrialisierungsprozess erwies sich immer wieder als geschmeidig genug, traditionelle Versatzstücke aus der Familienwirtschaft zu absorbieren. Darunter sind unbezahlte, unsichtbare, unausgesprochene, d.h. unkommerzielle, insbesondere von Frauen verrichtete "Vorleistungen" der Haus- und Familienarbeit zu verstehen, wie sie schon von Maurice Halbwachs in seiner 1912 erschienenen "La classe ouvrière et les niveaux de la vie" festgestellt werden konnten. Die Alltagskultur ist somit vom modernen Industriebetrieb nicht zu trennen, vielmehr adapierte er zentrale Bestandteile der häuslichen Kultur und Küche.

Auf der Grundlage von Fabrikinspektionsberichten spürt Tanner im weiteren Verlauf der Frage nach, wie die Ernährung in den Industriebetrieb integriert werden konnte (S.209ff). Er bedient sich dabei ethnologischer Begriffsschöpfungen (Claude Lévi-Strauss, Ulrich Tolksdorf). Das zu Hause zubereitete und verzehrte Essen bezeichnet Tanner als "Endoküche", die an den Arbeitsplatz mitgebrachte Mahlzeit als "Exoküche". Die in den 1920er Jahren sich ausbreitenden Kantinen spiegelten die immer grössere Bedeutung der Exoküche, die sich allmählich zur Endoküche aller Firmenangehörigen verwandelte (S.253).

Tanner sieht in dem Lebensstile und Beziehungsnetze integrierenden Klassenmodell von Kathleen Canning und Ira Katznelson einen geeigneten Ansatzpunkt, die "soziokulturelle Fragmentierungstendenz" des Essens und Trinkens (S.256) auf den Prozeß der Klassenbildung zu beziehen. Hier kommt Tanner zu interessanten Ergebnissen, da er belegen kann, daß gerade die Eingliederung von Menschen in einen fremdbestimmten mechanisierten Arbeitsprozess, das Bewusstsein für die kleinen Unterschiede schärfte. Die Entspannung des Klassenkonflikts war mit einer Verhärtung der ernährungsideologischen Fronten verbunden. Denn die organisierte Arbeiterbewegung war lange Zeit gegen eine Rationalisierung der Ernährung eingestellt. Speisehäuser und Fabrikkantinen waren aus Sicht der Arbeiter ein Mittel, die Löhne tiefzuhalten. Die Bürger sahen hingegen in ernährungsbedingen Mangelerscheinungen ein Resultat unaufgeklärter Lebensweisen. Kantinen waren für Unternehmer ein Mittel, eine "betriebsgebundene Kernbelegschaft" oder "loyale Stammarbeiterschaft" aufzubauen (S.264). Der Leser kann konkret nachvollziehen, daß der Bürgerblock und die Arbeiterbewegung trotz aller Interessengegensätze auf politischem und ökonomischem Gebiet von gemeinsamen Gender-Stereotypen geprägt waren (S.234).

Das achte und neunte Kapitel (S.273-383) beschäftigt sich in großer Ausführlichkeit mit den unter der Regie des Schweizer Verbandes Volksdienst (SVV) seit dem Ersten Weltkrieg entstandenen Wohlfahrtseinrichtungen in Industriebetrieben. Deren Gründerin und langjährige Leiterin Else Züblin-Spiller richtete nach amerikanischem Vorbild ("organized motherhood", S.642) Verpflegungsräume in Industriebetrieben ein und trug dazu bei, den Graben zwischen bezahlter Lohnerwerbsarbeit und unbezahlter Haus- und Familienarbeit etwas zu schließen.

Das Buch endet mit der Beschreibung und Analyse der Ernährungssituation der Arbeiter im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Im Krieg rationierte die Eidgenössische Kommission für Kriegsernährung (EKKE) die Lebensmittelzuteilung (S.383ff). An die Stelle von Nahrungsmitteln mit relativ viel Fett und tierischen Proteinen rückte fettarme, kohlenhydrathaltige Kost mit pflanzlichen Proteinen in den Vordergrund. An den Entwicklungen der 50er Jahren zeigt sich nach Tanner, daß eine Epoche zu Ende gegangen war, die von Mangelerfahrung geprägt war (S.437ff). Das Problem der Ernährung stellte nun ihr Überfluss dar, der neue Formen der Körperkontrolle, wie sie in der Fitness- und Diätbewegung deutlich werden sollte, notwendig machte.

Die gut lesbare, mit zahlreichen prägnanten Formulierungen gespickte Untersuchung beruht auf findigen Quellenrecherchen des Autors. Die Akten lagen nur in seltenen Fällen in einem kompakten Bestand, sondern mussten meist aus verschiedenen Provenienzen mühsam erschlossen werden. Eine gewisse Einseitigkeit mag darin begründet sein, daß der räumliche Schwerpunkt in der deutschen Schweiz liegt und daß nur die Firmenarchive von Sandoz, Geigy und Ciba für die Fragestellung ausgewertet wurden, so daß man einwenden kann, ob nicht doch eine Kantinentypologie, der der Verfasser etwas voreilig ausschliesst (S.186), möglich gewesen wäre, wenn eben mehr Unternehmen zur Grundlage der Untersuchung gemacht worden wären. Trotz großer Quellennähe fällt das Buch in den Passagen über den SVV dramturgisch ab. Die Tatsache, daß mit den Jahrbüchern des SVV eine bisher von Historikern unausgewertete Quelle vorgelegen habe, rechtfertigt wohl kaum ihre über weite Strecken langatmige Zitierung und redundante Wiedergabe (siehe z.B. S.357f). Der Rezensent kann sich an manchen Stellen nicht des Eindrucks erwehren, daß der Autor bisweilen seine schwer nachprüfbaren Impressionen und Assoziationen in analytische Begriffe verkleidet hat. Hier wären vielleicht längere Fazits nach den einzelnen Kapiteln und ein etwas chronologischerer Ansatz angebracht gewesen, die es dem Leser etwas leichter gemacht hätten, innerhalb des behandelten Zeitraums von sechzig Jahren Anfang und Ende von Entwicklungslinien und Akzentverschiebungen genau zu lokalisieren,

"The proof of the pudding is the eating." (S.12) Nach der inhaltlichen Einverleibung sind Verdauungsprobleme nicht aufgetreten, vielmehr die satte Erkennntnis hängengeblieben, daß gerade die disziplinierte Behandlung banaler menschlicher Vorgänge Einblicke in zeitspezifische Strukturen und Normensysteme freilegt, die bei einem anderen Zugang nicht so plastisch geworden wären. Die Anmerkung, ob das ausgewählte Thema gerade in Form einer "Fernfahrerportion" auf 600 Seiten präsentiert werden musste und ob die abwechslungsreichen und schmackhaften Zutaten nicht doch als Aufsatz auf einem Vorspeisenteller einen angemesseneren Platz gefunden hätten, versteht sich als Kritik eines Feinschmeckers, dem bei den "gefrässigen" Gepflogenheiten und Anforderungen der deutschsprachigen Universitätsprüfungsordnungen immer unwohl wird.

Redaktion
Veröffentlicht am
25.07.2000
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