K. Imhof u.a. (Hgg.): Konkordanz und Kalter Krieg

Titel
Konkordanz und Kalter Krieg. Analyse von Medienereignissen in der Schweiz der Zwischen- und Nachkriegszeit


Herausgeber
Imhof, Kurt; Heinz Kleger; Gaetano Romano
Reihe
Krise und sozialer Wandel 2
Erschienen
Zuerich 1996: Seismo Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 25,30
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Alexander Schmidt-Gernig, Sozialgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

"Die Zeitung als Wille und Vorstellung" - oder: Was eine differenzierte Analyse von Massenmedien (sozial-)historisch leisten kann

Mit dem von Kurt Imhof, Heinz Kleger und Gaetano Romano herausgegebenen Band "Konkordanz und Kalter Krieg" (Band 2 der Reihe "Krise und sozialer Wandel") wird ein ehrgeiziges Projekt fuer die Zeit der 30er, 40er und 50er Jahre fortgefuehrt, das bereits 1993 mit dem ersten Band "Zwischen Konflikt und Konkordanz" zur Vor- und Zwischenkriegszeit begonnen hatte und dem weitere Fortsetzungsbaende zu den 60er bis 80er Jahren in Zukunft folgen sollen. Beide bisher erschienen Baende verfolgen das Ziel, anhand einer umfassenden quantitativen wie qualitativen Inhaltsanalyse der vier grossen deutschsprachigen Schweizer Zeitungen - der "Neue(n) Zuercher Zeitung" (buergerlich-liberal), des "Vaterland" (katholisch-konservativ), der "Tagwacht" (sozialdemokratisch) und des parteiunabhaengigen "Tages-Anzeigers" - eine umfassende historische Analyse der Schweizer Oeffentlichkeit und damit der gesellschaftlichen Selbstdeutung einer Gesellschaft zwischen "Krise" und "Kompromiss" vorzulegen.

Bereits im ersten Band hatte Kurt Imhof einen programmatischen Aufsatz mit dem Titel "Vermessene Oeffentlichkeit - vermessene Forschung? Vorstellung eines Projekts" vorgelegt, auf den hier etwas naeher eingegangen soll, weil er sozusagen den Grundansatz aller Einzelbeitraege und die Erlaeuterung der empirischen Materialbasis paradigmatisch eroertert und auch im vorliegenden Band vor allem im ersten Aufsatz zur "geistigen Landesverteidigung" der Schweiz in der Zwischenkriegszeit nochmals erlaeutert wird.

Wie der Reihentitel bereits andeutet, zielt das Forschungsinteresse des Projekts zunaechst primaer auf die Frage nach der Dynamik gesellschaftlichen Wandels, indem der Begriff der Krise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerueckt wird. Krisen werden dabei als "offene" und dynamische Phasen der Gesellschaftsentwicklung interpretiert, die sie deutlich von eher "geschlossenen" Stabilitaets- bzw. Stabilisierungsphasen unterscheiden. Wichtigstes Kennzeichen einer gesellschaftlichen Krise ist fuer Imhof wie fuer die anderen Verfasser der Beitraege, dass allgemein akzeptierte bzw. milieuspezifisch verbindliche Deutungsmuster, Normen und Werte fundamental in Frage gestellt und damit in ihrer Kontingenz und Bruechigkeit ueberhaupt bewusst werden. Solche vor allem fuer die Moderne charakteristischen Fundamentalerfahrungen der Kontingenz von "Seinsgewissheiten" machen die oekonomisch, politisch und sozial induzierte Krise erst zur Bewusstseinskrise und damit - so die Praemisse des Ansatzes - zum eigentlichen Motor gesellschaftlichen Wandels.

Im Unterschied zu klassischen Krisen-Deutungen, wie sie im Rahmen von Zyklen-, Imperialismus- oder "Untergangs"-Modellen entwickelt worden sind, legt der hier zu diskutierende Ansatz seinen Schwerpunkt also auf die Deutungsbedingtheit sozialen Handelns und sozialen Wandels, so dass die Krise primaer als "Orientierungskrise" begriffen wird, die ihrerseits sozialen Wandel wieder vorantreibt. Mit diesem Grundansatz wird insofern ein sozusagen "dialektisches" und zugleich durchaus auch "paradoxes" Verhaeltnis von "Sein" und "Bewusstsein" an die Stelle der klassischen Dichotomisierung beider Ebenen, die die Frontstellung zwischen Sozial- und Ideengeschichte zumindest unterschwellig lange Zeit bestimmt hat, gesetzt. Damit avanciert Oeffentlichkeit zur Schluesselkategorie der Analyse, denn wie Imhof an anderer Stelle praegnant formuliert: "Ausschliesslich die 'Oeffentlichkeit' macht fuer die Subjekte einer Gesellschaft die Vorstellung des Kollektivsubjekts 'Gesellschaft' erst moeglich und damit schliesslich die weitere Vorstellung, dass man sich diesem Kollektivsubjekt als solchem zuwenden koenne. 'Oeffentlichkeit' macht also aus einer Summe von Individuen eine Gesellschaft, in der sich diese Individuen orientieren, ihre Identitaeten ausbilden und an die sich die Individuen wenden, wenn sie etwas allgemein zugaenglich machen wollen. Damit ist die 'Oeffentlichkeit' das Medium der Selbstreferenz der Gesellschaft. In der 'Oeffentlichkeit' spiegelt sich die Gesellschaft, und nur, weil sie sich darin spiegelt, ist sie sich ihrer selbst bewusst." (1)

Es ist deshalb auch nicht zuletzt ein besonderes Verdienst beider Baende, dass hier die sonst vor allem von Historikern zwar haeufig verwendete, aber nicht selten begrifflich eher unscharf gebrauchte Kategorie der Oeffentlichkeit einer theoretisch wie empirisch stichhaltigen und wegweisenden Analyse unterzogen wird, denn es sind vor allem die Massenmedien, die als Diffusionskanaele und Reflektoren von kollektiven Deutungsmustern betrachtet werden. Dabei wird analytisch erstens unterschieden zwischen sogenannten "Sinnzirkeln", die gesamtgesellschaftlich dominante Einstellungen und Wertmuster der oeffentlichen Meinung repraesentieren, und "(halb-) autonomen Gegenoeffentlichkeiten", die diese allgemein geltenden Realitaets- und Wertungskonstruktionen kritisieren und in Frage stellen. Die Grundthese ist dabei, dass diese Gegenoeffentlichkeiten in Krisenphasen deutlich expandieren (so dass an ihrer Expansion gerade das Einsetzen einer "Orientierungskrise" gemessen werden kann) und den Sinnzirkel damit einer Art "creative destruction" unterziehen, die ihrerseits wieder neue Stabilisierungsanstrengungen im Sinne einer Neu- und Umbildung des "Sinnzirkels" (etwa durch den Aufbau neuer Institutionen und neuer Leitbilder) erzeugen und damit sozialen Wandel vorantreiben. Beispielhaft fuer die juengste bundesdeutsche Geschichte liesse sich das etwa am Aufstieg der "Gruenen" zeigen, die in der Phase eines gesteigerten Krisenbewusstseins fuer die Bedrohung der natuerlichen Umwelt des gesamten Globus als "Gegenoeffentlichkeit" stark expandierten, sich dann Anfang der 80er Jahre bundesweit als politische Kraft zu etablieren vermochten, damit den etablierten "Sinnzirkel" der dominanten Volksparteien in wesentlichen Grundueberzeugungen in Frage stellten und schliesslich langfristig zu erheblichen Kurskorrekturen und Neuorientierungen zwangen.

Innovativ ist das Projekt zweitens aber vor allem auch deshalb, weil es anders als die meisten konventionellen Mediengeschichten nicht nur die Strukturen und Funktionsweisen von Massenmedien historisch beschreibt, sondern die so wichtige, aber auch so schwierig zu analysierende Beziehung zwischen den Massenmedien und den kollektiven Identitaeten einer Gesellschaft bzw. ihrer unterschiedlichen sozialmoralischen Milieus herzustellen sucht - ein Zugang, der in den meisten Mediengeschichten kaum untersucht oder aber eher behauptet als zuverlaessig empirisch durchleuchtet wird. Grund fuer dieses Manko sind nicht zuletzt die methodologischen Probleme sowie der enorme empirische Aufwand, die einer differenzierten Inhaltsanalyse von Massenmedien zumeist im Wege stehen. Deshalb sei hier die grundlegende Methode des Projekts kurz skizziert, weil sie geeignet erscheint, zukuenftige Medienanalysen auch fuer andere Gesellschaften und Zeitraeume anzuleiten.

Als Basis der empirischen Analyse dienen sogenannte Medienereignisse, also nationale wie internationale Themen (bzw. Themenbuendel), die die Oeffentlichkeit in besonderer Weise zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt bewegten und die in allen Massenmedien immer wieder thematisiert und kommentiert wurden, so z.B. fuer das Jahr 1933 die Uebernahme und Konsolidierung der Nazi-Diktatur und der Reichstagsbrandprozess in Deutschland, die Weltwirtschaftskonferenz, aber auch die Krise der Schweizer Landwirtschaft oder eher regionale Belange wie die Gemeindewahlen im Kanton Bern. Die quantitative Analyse der Artikel bzw. Kommentare zu den jeweiligen Medienereignissen (Anzahl und Umfang der Artikel bzw. das Verhaeltnis von nationalen und internationalen Themen) erweist nun die aufschlussreiche Beobachtung, dass diese Ereignisse in den Presseorganen der verschiedenen politischen Milieus haeufig mit hoechst unterschiedlicher Gewichtung behandelt wurden, so dass die Hierarchie der Medienereignisse je nach Zeitung einigen Aufschluss ueber Bedeutung und Resonanz der jeweiligen Themen in den politischen Lagern gibt. Dabei kommt es in analytischer Hinsicht allerdings nicht nur auf eine rein quantitative Gewichtung von Themen an; inhaltlich wesentlich aufschlussreicher ist die komplizierte Analyse der jeweiligen semantischen Verknuepfungen mit den soziopolitischen Kontexten, wobei als wichtigste Kriterien vor allem Personenbezuege, politisch-geographische Konstellationen, Ursache-Wirkungs-Relationen, historische Begruendungen und vor allem Freund-Feind-Schemata als Referenzpunkte der jeweiligen kollektiven Identitaeten der einzelnen Milieus im Mittelpunkt stehen. Eine solche empirisch dichte Analyse gestattet dann ueberdies den Vergleich zwischen den einzelnen milieuspezifischen Thematisierungen, so dass die Intensitaet der Themenkonvergenz (bei stark abweichenden inhaltlichen Positionen!) als Indikator fuer Krisenphasen gelten kann, weil dann durch die Brisanz der gesamtgesellschaftlichen Konflikte gewissermassen alle ueber "das Gleiche" und zur gleichen Zeit reden, waehrend die Divergenz von Themen (bei gleichzeitigem Basiskonsens) als Indikator von Stabilisierungsphasen zu dienen vermag, weil jetzt vor dem Hintergrund allgemeiner Stabilitaet die milieuspezifischen Interessen in den Vordergrund treten.

Soweit der theoretische "Ueberbau" - aber wie steht es nun mit der praktischen Umsetzung, mit der empirischen "Basis"? Die Aufsaetze von Kurt Imhof, Oliver Zimmer und Heinz Kleger kreisen immer wieder um die Frage der "Konstruktion" von "Gemeinschaft" in der Gesellschaft: So analysiert Imhof eingangs die dezidiert antitotalitaere bzw. antifaschistische Konstruktion der "geistigen Landesverteidigung" sowie die Bedingungen ihres Erfolges in den 30er Jahren, waehrend Oliver Zimmer vor allem die nationale Einheitssemantik der "Volksgemeinschaft" im gleichen Zeitraum in den Blick nimmt und dabei ganz analoge, dezidiert antifaschistische und antibiologistische Zuege dieser Semantik herausarbeitet - ein Aspekt, der gerade mit Blick auf die deutsche Situation interessant erscheint, weil sich hier der Begriff der "Volksgemeinschaft" aufgrund seiner biologistischen und zum Teil extrem antisemitischen Aufladung durch die Nationalsozialisten seither nicht mehr neutral geschweige denn positiv konnotiert denken laesst. Waehrend sich der Beitrag von Kleger primaer auf die zwischen 1943 und 1955 erfolgte Entwicklung der sogenannten "Konkordanzdemokratie" in der Schweiz bezieht und damit primaer Debatten mit rein nationaler Reichweite beleuchtet, erscheint der Beitrag von Kurt Imhof zum Umgang mit dem "Kalten Krieg" in der Schweizer Presse auch fuer Nicht-Schweizer am interessantesten, weil er sich auf die internationalen Machtkonstellationen bezieht und damit eine Art Modell fuer eine entsprechende (noch zu schreibende!) Geschichte der Medienrezeption des Kalten Krieges in anderen europaeischen Laendern wie vor allem der Bundesrepublik oder Frankreich bieten koennte. Imhof kann in diesem Zusammenhang durch seine empirisch dichte Medienanalyse zeigen, wie ungeheuer praegend der Ost-West-Dualismus nicht nur fuer das politische, sondern fuer das gesellschaftliche Denken ueberhaupt wurde, indem er sozusagen eine dichotomische Basissemantik lieferte, die direkt auf die alten Traditionen der grossen Dualismen wie "Licht und Finsternis, Wahrheit und Luege, Reinheit und Unreinheit, Tugend und Bosheit, Christ und Antichrist, Himmel und Hoelle, Freiheit und Tyrannei, Recht und Unrecht, Ordnung und Chaos (...)" (S.173) zurueckgriff und diese dabei vielgestaltig variierte. Er versucht dabei zu zeigen, wie diesen polaren Codes nicht nur Feindbilder erzeugten, sondern diese auch in Zirkelschluessen immer wieder neu bestaetigten, so dass sie als gueltige Deutungsmuster fuer grosse Teile der Gesellschaft plausibel und damit "real" wurden.

Als wohl wichtigstes Deutungsmuster innerhalb des Ost-West-Dualismus stellt sich dabei wie zu Erwarten fuer die westlichen Demokratien nach 1945 bis in die 60er Jahre hinein ein massiver Antikommunismus heraus, der fuer Imhof vor allem deshalb so erfolgreich werden konnte, weil er eine enorme Integrationskraft entfaltete, indem er fruehere, sehr heterogene Deutungsmuster wie den Klassenantagonismus, nationale Volkstumsideologien, religioes-christliche Traditionen, aber auch biologistische Rassetheorien erfolgreich verschmolz. Erst dieser vehemente Antikommunismus, so Imhofs These, machte das Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft (nicht nur in der Schweiz) so erfolgreich, weil er dessen positive Leitbilder wie "Sozialpartnerschaft" oder "Chancengleichheit" mit dem entscheidenden Ferment eines klaren und umfassenden Feindbildes unterfuetterte und erst ueber diese Konstruktion eine nationale und gesellschaftsuebergreifende Konkordanz erzielte, die ohne das Feindbild der Supermacht Sowjetunion kaum zu haben gewesen waere. Imhof unterstreicht diesen Sachverhalt nochmals dadurch, dass er die Parallelitaet des antikommunistischen Feindbildes in den spaeten 40er und 50er Jahren mit dem des antinationalsozialistischen ("geistige Landesverteidigung") in den 30er Jahren nachweist, so dass gleichsam "das gleiche Stueck" nach dem Krieg nur unter veraenderten Vorzeichen zur Auffuehrung kam und damit innovative Neuansaetze aus der Kriegszeit schnell wieder in die Requisitenkammer des "Unrealistischen" zurueckverwies. Wie dieser auch zunehmend antietatistische Antikommunismus auch und gerade in der neutralen Schweiz vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zur alles beherrschenden Integrationsideologie werden konnte, zeigt dabei vor allem der Wandel der schweizerischen Sozialdemokratie. Waehrend das katholische "Vaterland" (wie uebrigens auch die liberale NZZ) kontinuierlich die ungeheure Bedrohung des "christlichen Abendlandes" durch die in der Sowjetunion verkoerperten Kraefte des "absolut Boesen" endlos variierte, dominierte in der sozialistischen "Tagwacht" direkt nach 1945 eindeutig die dualistisch genau umgekehrte, antiamerikanische bzw. prosowjetische Haltung, die damit uebrigens auch ganz auf der Linie der kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens lag. Trotz ihres anfaenglichen Vertrauens auf den Sieg des Sozialismus in der nahen Zukunft konnte die "Tagwacht" allerdings den Gegensatz zwischen nationalen Einheitssemantiken und traditionellem Klassenkampf-Denken immer weniger ueberbruecken. Entscheidend fuer das Umschwenken zum buergerlich-antisowjetischen Block wurden dann die Kirchenverfolgungen in Osteuropa, der Umsturz in der Tschechoslowakei, die Berlin-Krise und schliesslich vor allem der Korea-Krieg - Ereignisse, die die Partei und ihr Milieu in eine erhebliche Deutungs- und Identitaetskrise stuerzten und damit die schmerzhafte Transformation von der Arbeiter- in die Volkspartei einleiteten.

So ueberzeugend Imhof ueber weite Strecken sein theoretisches Modell am empirischen Material "abgleicht" und damit gerade am Beispiel der Sozialisten sehr genau zeigen kann, wie eine tiefe Deutungskrise zu fundamentalem Wandel im Selbstverstaendnis und damit auch zu sozialem Wandel fuehrt, so deutlich bleiben nach der Lektuere allerdings einige Fragezeichen stehen. So legt z.B. das theoretische Modell mehr oder weniger nahe, dass Krisen primaer in der eigenen Gesellschaft erzeugt und dann auch diskursiv geloest werden; andererseits belegen die empirischen Beispiele der 30er bis 50er Jahre eher die enorme Bedeutung der internationalen Spannungen fuer das interne Krisenbewusstsein der Gesellschaft, denn nach den vorliegenden Analysen scheint vor allem die Wahrnehmung einer fundamentalen Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland bzw. durch die Sowjetunion als entscheidender Motor fuer die langfristige Entwicklung der "Konkordanzdemokratie" in der Schweiz der Nachkriegszeit gewirkt zu haben.

In diesem Zusammenhang haette man sich ueberdies eine Ausweitung auf die franzoesisch- und italienischsprachige Schweiz gewuenscht, denn durch die Reduktion auf die deutschsprachige Schweiz bleibt letztlich das immer wieder angefuehrte Modell nationaler Einheit in seinen Konturen zumal fuer Nicht-Schweizer einigermassen unklar. Eine solche Ausweitung waere vor allem auch deshalb wuenschenswert, weil die Schweiz ja immer wieder als Modell fuer ein idealiter in "Konkordanz" zusammenwachsendes Europa dargestellt worden ist und sich bisweilen ja auch selbst als ein solches Modell empfiehlt. Gerade vor diesem Hintergrund waere deshalb auch die Analyse der sprachlich-kulturellen Bruchstellen innerhalb der "Krise" und deren Bewaeltigung ueber die Sprachgrenzen hinweg ausserordentlich wichtig.

Ein zweiter Einwand betrifft die fast ausschliessliche Konzentration auf die parteinahe Tagespresse, waehrend andere wichtige Oeffentlichkeitsforen und -formen weitgehend unbeachtet bleiben oder nur am Rande erwaehnt werden. Durch diese Reduktion auf die in der ersten Jahrhunderthaelfte zweifelsohne dominante "Weltanschauungspresse" entsteht allerdings der Eindruck einer erheblichen Redundanz der Deutungsmuster und Argumente. Angesichts der bisweilen ziemlich ermuedenden Wiederholung des argumentativ Immergleichen fragt man sich als Leser dann doch gelegentlich, ob der enorme technische und personelle Aufwand einer solch umfassenden Medienanalyse gerechtfertigt erscheint, zumal die meisten Debatten offenkundig durch "Aussenereignisse" angestossen wurden, so dass die (im Modell behauptete) Eigendynamik der Debatten im Grunde nicht ganz einsichtig wird. Hier waere es z.B. sehr interessant gewesen, nicht nur die parteinahe Tagespresse detailliert zu analysieren, sondern vor allem auch die Stimmen einflussreicher und oftmals gedanklich unabhaengigerer Publizisten, Journalisten oder Wissenschaftler einzuflechten, um der Debatte mehr Kontraste und Widersprueche zu verleihen, denkt man z.B. an den zumindest in der Bundesrepublik intellektuell zunaechst ausserordentlich wichtigen Linkskatholizismus, der sich kaum mit den konservativen katholischen Positionen im Sinne des "Vaterlands" deckte.

An diesem Punkt stellt sich daher auch die Frage, ob das Modell nicht in erster Linie auf den Schweizer Fall anwendbar ist. Im Vergleich zu anderen europaeischen Laendern denkt man bei der Schweiz ja ohnehin an eine relativ lange Demokratietradition, an ohnehin guenstige Ausgangsbedingungen fuer eine "Konkordanzdemokratie", an deutlich weniger scharfe soziale und oekonomische Krisen und einen vergleichsweise geringer entwickelten bzw. politisch weniger einflussreichen Radikalismus, so dass die Wechselwirkungen zwischen "Sinnzirkel" und "autonomen Oeffentlichkeiten" relativ gut beobachtbar erscheinen. Schon fuer die Weimarer Republik haette man dagegen wahrscheinlich einige Probleme, ueberhaupt einen klar definierten "Sinnzirkel" festzustellen, an dem sich "autonome Oeffentlichkeiten" sozusagen "abarbeiten". Vielmehr erscheint die Weimarer Republik eher als Arena antagonistischer Teiloeffentlichkeiten, deren Integration zu einem verbindlichen Sinnzirkel wie in der Schweiz ja gerade nicht gelang - bei der Suche nach Gruenden fuer diese Situation wuerde allerdings auch die primaere Konzentration auf eine "Orientierungskrise" kaum ausreichen . Aber auch fuer die Analyse der franzoesischen Oeffentlichkeit mit ihrer stark entwickelten regionalen Presse und ihrer langen Tradition einer politisch fundamentalen Links-Rechts-Polarisierung muesste das Modell wohl deutlich modifiziert werden. Die im Modell favorisierte und fuer die Schweiz lange Zeit geltende enge Bindung der Presse an distinkte soziomoralische Milieus wuerde ueberdies eine Analyse z.B. der bundesrepublikanischen Oeffentlichkeit mit ihrer vergleichsweise fruehen Entwicklung hin zur parteiungebundenen, primaer kommerziellen Presse erschweren, wobei generell angemerkt werden muss, dass die Rolle der Wirtschaft und des (Medien-) Marktes im Modell deutlich unterbelichtet bleibt, was z.B. auch dessen Uebertragung auf den angelsaechsischen Bereich oder aber auf die wachsende Kommerzialisierung der Presse in den letzten Jahrzehnten erschwert, wenn nicht gar unmoeglich macht.

Aber all diese Einwaende koennen und sollen keineswegs verstellen, welch bedeutende Leistung einer sozialhistorisch informierten Medienanalyse hier vorgelegt worden ist, die in dieser Form innovativ und richtungsweisend genannt zu werden verdient. Gerade fuer die Phase des Kalten Krieges ist zu hoffen, dass die vorliegenden und folgenden Baende "Anschlussstudien" etwa zur Bundesrepublik und zu Frankreich anregen werden, die sich dann mit diesem Modell einer avancierten historisch-soziologischen Medienanalyse werden produktiv auseinandersetzen muessen - seit dem Erscheinen des vorliegenden Werkes kann jedenfalls niemand mehr behaupten, dass es an innovativen Studien auf diesem Gebiet mangele.

Anmerkung:
(1) Kurt Imhof, "'Oeffentlichkeit' als historische Kategorie und als Kategorie der Historie", in: Schweizerische Zeitschrift fuer Geschichte 46 (1996), S. 4. Vgl. auch insgesamt ebda., S. 3-25.

Redaktion
Veröffentlicht am
11.09.1998
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