P. Rosin: Die Schweiz im KSZE-Prozeß 1972–1983

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Titel
Die Schweiz im KSZE-Prozeß 1972–1983. Einfluß durch Neutralität


Autor(en)
Rosin, Philipp
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 99
Erschienen
Berlin 2013: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Bürgisser, Diplomatische Dokumente der Schweiz / Universität Basel

«As everybody knows, Switzerland is an economic and financial power of some size and has been acting accordingly for quite some time», erörterte Botschafter Albert Weitnauer, Generalsekretär des Eidgenössischen Politischen Departements (heute EDA), im Oktober 1977 in einer Ansprache vor anderen Delegationschefs am Belgrader Folgetreffen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). «But it came as a surprise to many, including ourselves, that we can play, in the political field also, a meaningful, active and sometimes successful part – as at the Helsinki, Geneva and Belgrade meetings –, not in spite of our neutrality, but because of it» (dodis.ch/49380). Von dieser «Überraschung» des schweizerischen Engagements im KSZE-Prozess im Zeitalter der Détente handelt die minutiös recherchierte Dissertation von Philip Rosin.

Die KSZE ist in der schweizerischen Historiografie kein unbeackertes Feld. Mit den Studien von Christoph Breitenmoser und Hansjörg Renk aus dem Jahr 1996, Thomas Fischers 2004 auf breiter Quellenbasis publizierter Doktorarbeit und dessen international vergleichenden Abhandlung über die Gruppe der Neutrals and Non-Aligned Countries (N + N) im KSZE-Folgeprozess (2009) wurden bereits wegweisende Arbeiten vorgelegt. Der Bonner Historiker Rosin liefert allerdings den Beweis, dass die Rolle der Schweiz noch lange nicht abschliessend diskutiert ist. Sein Buch ist eine erhellende Synthesearbeit, die den Forschungsstand, das amtliche Aktenmaterial, Memoiren sowie eine Reihe von Zeitzeugengesprächen stringent erfasst und mit neuen Facetten in einen globalgeschichtlichen Kontext einbettet.

Für Rosin geht es um die zentrale Frage, wie es dem neutralen Kleinstaat mit seinen «objektiv geringen Machtmitteln» gelungen war, «den Verlauf der KSZEVerhandlungen mitzubestimmen und hierdurch ‹eine beinahe weltpolitische Bedeutung› zu erlangen» (S. 3). In Abgrenzung zur Forschungsmeinung, der zufolge es der schweizerischen Aussenpolitik bis zum Ende des Ost-West-Konflikts nicht gelungen sei, «sich aus dem ‹Gefängnis der Neutralität› zu befreien und ein neues Rollenverständnis zu entwickeln» (Fischer), hält Rosin dafür, «dass die Schweiz gerade aufgrund des Festhaltens an der aussenpolitischen Neutralität in der Lage war, im Rahmen des KSZE-Prozesses Einfluss auszuüben und eine wichtige diplomatische Rolle in den Verhandlungen zu spielen» (S. 9). Seine These ähnelt in diesem Punkt also durchaus einer zeitgenössischen Selbsteinschätzung, wie sie in Weitnauers Tischrede zum Tragen kommt.

Eine eidgenössische Nabelschau sollte die Arbeit derweil nicht werden, zumal hinsichtlich der schweizerischen KSZE-Forschung der Vorwurf einer gewissen Selbstbezogenheit und der Fokussierung auf innenpolitische Rückwirkungen im Raum stand. Umso bemerkenswerter ist deshalb die Tatsache, dass sich mit Rosin ein Forscher aus dem benachbarten Ausland für die Belange der Schweizer Geschichte interessiert. Der Autor möchte mit seiner Studie den Blick von einer «helvetische[n] Selbstverständigung» zu einer «diplomatiegeschichtliche[n] Untersuchung » der «aussenpolitischen Rolle der Schweiz» im KSZE-Prozess «als Beitrag zur ‹International History›» weiten (S. 7f.). Dabei berücksichtigt er punktuell auch die Wahrnehmung der Schweiz durch ausländische Regierungen, insbesondere durch die DDR und die BRD (wobei der Verlag die bundesdeutsche Perspektive durch die Auswahl des Titelbildes – ein Foto vom bilateralen Treffen Auberts mit Genscher in Bonn 1979 – etwas überstrapaziert hat).

Schwerpunkte der chronologisch gegliederten Arbeit bilden die Wahl Genfs als Standort für die Verhandlungsphase 1973–1975, die wachsende Zusammenarbeit der N + N ab 1974 sowie die internen Konflikte im Aussendepartement über die Rolle der Menschenrechte vor dem Hintergrund des Niedergangs der Entspannungspolitik Ende der 1970er Jahre. Die herausragende Figur unter den federführenden Diplomaten ist Édouard Brunner, der in der KSZE eine «einmalige Chance zur Aktivierung der schweizerischen Neutralität und zur Entwicklung einer modernen Aussenpolitikkonzeption, die Fragen der Menschenrechte und engere diplomatische Kontakte zu den USA miteinschloss» erblickte (S. 315). Der brillante Verhandlungsführer trug als «Metternich der KSZE» an der Madrider Folgekonferenz massgeblich zur «beinahe weltpolitischen Bedeutung» der Schweiz bei (S. 297ff.).

Mit ihrer aktiven Beteiligung an der KSZE konnte die Schweiz ihr aussenpolitisches Profil schärfen und mit ihren traditionellen Vermittlerdiensten auftrumpfen. Die KSZE bot auch eine «Ersatzfunktion für die Nichtmitgliedschaft in den Vereinten Nationen und für die Abwesenheit vom europäischen Integrationsprozess », wobei es der Schweiz gelungen sei, «eine gesamteuropäische Politik jenseits der sich herausbildenden supranationalen Einigungsbestrebungen» zu entwickeln (S. 314). Der Autor gesteht ein, dass eine «‹aktive Geheimdiplomatie› ohne eine offene Diskussion des Bundesrats mit der Bevölkerung über die praktische Ausgestaltung der Neutralität» nicht erfolgreich sein konnte. Er geht jedoch davon aus, dass trotz Rückschlägen «der Ansatz einer aktiveren schweizerischen Neutralitätspolitik – die in der KSZE ihren Anfang nahm – sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durchsetzte» (S. 319).

Während Rosin die Umwälzungen im diplomatischen Tagesgeschäft der Eidgenossenschaft quellennah beschreibt, bleiben verschiedene Fragen offen, die das Feld für weiterführende Forschungen öffnen. Wenn eine «aktive, weltoffene Neutralitätspolitik, die vom positiven Willen der Schweizer Diplomaten zur Mitwirkung am Weltgeschehen gekennzeichnet war» (S. 313) für ein erfolgreiches Auftreten im KSZE-Prozess vorausgesetzt wird, so stellt sich etwa von kulturgeschichtlicher Warte die Frage, inwiefern sich ein ambivalenter Begriff, der ebenfalls als Vehikel für Abschottung und Isolation herbeigezogen wird, ein wirksames Analyseinstrument für die historische Forschung sein kann.

Zudem darf nicht vergessen werden, dass Aussenpolitik beileibe nicht von Diplomaten allein gemacht wird. Wie Rosin antönt, kommt gerade im Untersuchungszeitraum dem Wirkungszusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und Aussenpolitik vermehrte Bedeutung zu. Weitgehend unerforscht bleiben nach wie vor die Implementierung der KSZE-Beschlüsse bei den Akteuren aus Militär und Sicherheitspolitik (Korb I), Wirtschaft (Korb II) sowie Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen (Korb III) – gemäss Rosin habe die Schweiz gerade durch ihr «aktives Engagement zur Stärkung der Menschenrechte » gar «indirekt zum politischen Wandel in Osteuropa der Jahre 1989/90» beigetragen (S. 318). Offen bleibt ebenfalls die (allerdings fragliche) gesellschaftliche Breiten- und Tiefenwirkung dieser Massnahmen in der Schweiz. Insofern sind nicht nur die Erkenntnisse Rosins wegweisend, sondern auch gewisse Lücken seiner sehr fundierten, klassisch diplomatiehistorischen Studie.

Zitierweise:
Thomas Bürgisser: Rezension zu: Philip Rosin, Die Schweiz im KSZE-Prozeß 1972–1983. Einfluß durch Neutralität, Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 506-508.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 506-508.

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