K. Heiniger: Krisen, Kritik und Sexualnot

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Titel
Krisen, Kritik und Sexualnot. Die «Nacherziehung» männlicher Jugendlicher in der Anstalt Aarburg (1893–1981)


Autor(en)
Heiniger, Kevin
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mirjam Janett

Aus Kreisen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts die Forderung laut, straffällig gewordene Jugendliche getrennt von erwachsenen Sträflingen zu internieren. Die Jugendlichen sollten einem angeblich schädigenden Umfeld entzogen und in spezialisierten Anstalten gemäss bürgerlichen Ordnungsvorstellungen umerzogen werden. 1893 wurde auf kantonale Initiative die Zwangserziehungsanstalt Aarburg für männliche Jugendliche unter 18 Jahren eröffnet, in der Schweiz die dritte ihrer Art. Sie nahm seit Beginn sowohl verurteilte Straftäter als auch administrativ versorgte «jugendliche[] ‹Taugenichtse›» (S. 16) auf.

Die Dissertation von Kevin Heiniger geht der Geschichte der Anstalt von ihrer Gründung bis 1981 nach, als nach dem Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention die administrative Versorgung durch die Fürsorgerische Freiheitsentziehung ersetzt wurde. Die Studie identifiziert Krisen und Brüche in der Institutionsgeschichte, um daraus Rückschlüsse auf die Lebensbedingungen der Insassen zu ziehen. Sie nimmt an der Schnittstelle von Sozial- und Kulturgeschichte eine neue Perspektive ein, womit sie sich von vielen Studien abhebt, die jüngst zu fürsorgerischen Praktiken wie etwa der Fremdplatzierung von Kindern erschienen sind. Entgegen einer klassischen Institutionsgeschichte nämlich legt der Autor sein Augenmerk auf den Handlungsraum der Jugendlichen, insbesondere hinsichtlich ihrer Sexualität. Um die Lebenswelt der Jugendlichen anhand ihrer Konflikte und Konfrontationen mit den institutionellen Akteuren aufzuzeigen, greift er auf das Lebensweltkonzept von Heiko Haumann zurück.

Der Autor profitiert vom glücklichen Umstand, dass der Quellenbestand der Anstalt seit ihrer Gründung integral überliefert ist. Neben administrativen Akten wie Protokollen und Regierungsbotschaften sind auch die Personendossiers durchgehend erhalten. Letztere sind für die Studie von grosser Wichtigkeit. Von über 3400 Dossiers hat der Autor jedes fünfzigste ausgewertet. Sie enthalten vereinzelt Ego-Dokumente; besonders hervorzuheben ist ein Tagebuch von 1944, das im Anhang der Dissertation ediert wird. Es setzt einen Kontrapunkt zu den Akten, die primär den Blick der Behörde wiedergeben. Das Buch ist in sieben chronologische Kapitel gegliedert, die den institutionellen Entwicklungslinien folgen. Das abschliessende achte Kapitel, das mit dem chronologischen Aufbau bricht, rekonstruiert die (homo-)sexuellen Lebenswelten in der Anstalt und bringt sie mit zeitgenössischen juristischen, fürsorgerischen und psychiatrischen Diskursen über Homosexualität in Verbindung.

Für den Heimalltag macht der Autor mehrere konstitutiv wirkende krisenhafte Momente aus. Eine Krise im Jahr 1916, ausgelöst durch zwei anstaltsinterne Suizide, deckte Gewaltexzesse von Mitarbeitern auf. Gewalt war an der Tagesordnung, sie hatte in der Anstalt System. Doch erst eine weitere Krise im Jahr 1936 führte zu einer umfassenden Reorganisation der Anstalt, nachdem der Kreuzlinger Seminardirektor Willi Schohaus (1897–1981) in einem Artikel im Schweizer Spiegel auf die infrastrukturellen, organisatorischen und pädagogischen Mängel aufmerksam gemacht hatte. So wurden bereits viele Forderungen der anstaltskritischen Heimkampagne der frühen 1970er Jahre vorweggenommen.

Die Neuerungen legten gemäss dem Autor den Grundstein für die Transformation der Anstalt zu einem «Massnahmezentrum mit Therapieangebot» (S. 260). Die als deviant angesehenen Jugendlichen wurden nun mit Therapie und Beratung auf ein Leben nach der Anstalt vorbereitet. Experten wie Psychiater und Psychologen spielten bei der Begutachtung und Therapierung der Jugendlichen eine entscheidende Rolle. Der Fokus der Zugriffe verschob sich vom Körper zur Psyche – und damit nahmen die Körperstrafen ab.

Die Betonung des Wandels der Erziehungsanstalt Aarburg von einer geschlossenen Umerziehungsanstalt zu einer «modernen Erziehungsinstitution» (S. 397) in den 1970er Jahren hinterlässt stellenweise einen teleologischen Eindruck – als ob dieser Wandel zu einer fortschrittlichen bedürfnisgerechten Unterstützung der Insassen geführt hätte. Weder wird die von den Akteurinnen und Akteuren der Institution vorgenommene fortschreitende «automatische Identifizierung»15 der Insassen als erziehungsschwierige Subjekte thematisiert, noch wird die mit dem Wandel einhergehende Veränderung der Machtpraktiken diskutiert. Denn: Auch nach der Heimkampagne von 1970 ging das Anstaltspersonal allein aufgrund des Umstands, dass die Jugendlichen in der Anstalt interniert waren, davon aus, dass sie «verhaltensgestört» seien. Nur sollte deren Verhalten nicht mehr in erster Linie durch Disziplinierung, sondern durch Therapie in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen gelenkt werden. Das Ziel, die Individuen bestimmten Ordnungsvorstellungen entsprechend «produktiv» zu machen, blieb bestehen.

Am Beispiel der Homosexualität wird die Problematik zumindest angetönt. Der Autor weist folgerichtig darauf hin, dass nach der Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuchs 1942 Homosexualität zwar nicht mehr unter Strafe stand, die Sanktionen homosexueller Handlungen dennoch nicht rückläufig waren. Im Gegenteil: Die betroffenen Jugendlichen unterlagen vermehrt psychiatrischen und psychologischen Therapierungsversuchen, die sie heteronormativen Vorstellungen anpassen sollten. Daraus resultierten freiheitseinschränkende Massnahmen wie etwa die Entmündigung bei Volljährigkeit.

Insgesamt bietet die quellennahe Institutionengeschichte einen interessanten Einblick in die Lebenswelt der Jugendlichen, deren Alltag bis nach dem Krieg vom streng reglementierten und strukturierten Tagesablauf geprägt war, bis er durch sonderpädagogische Ansätze ergänzt wurde. Die Studie beleuchtet die situativen Beziehungen zwischen den Zöglingen und Leitern, den Erziehern und dem Direktor. Mit Blick auf die (verbotenen) sexuellen Handlungen wird das Totale der angeblich totalen Institution relativiert, indem der Autor auf die Freiräume hinweist, die sich die Jugendlichen schufen.

Zitierweise:
Mirjam Janett: Rezension zu: Kevin Heiniger, Krisen, Kritik und Sexualnot. Die «Nacherziehung» männlicher Jugendlicher in der Anstalt Aarburg (1893–1981), Zürich: Chronos Verlag, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 492-493.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 492-493.

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