R. Wecker u.a. (Hrsg.): Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik

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Titel
Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? What is National Socialist about Eugenics?. Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert - International Debates on the History of Eugenics in the 20th Century


Herausgeber
Wecker, Regina; Sabine, Braunschweig; Gabriela, Imboden; Bernhard, Küchenhoff; Hans, Jakob Ritter
Erschienen
Wien 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Regula Argast, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

«Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?» Danach fragt der gleichnamige Band, der auf eine internationale Konferenz zurückgeht und im Jahr 2009 von Forscherinnen und Forschern des Historischen Seminars der Universität Basel und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich herausgegeben wurde. Die im Titel aufgeworfene Frage ist Programm: Ziel des Bandes ist es, sich der Eugenik als einer Wissenschaft und Sozialtechnologie zur Steuerung der menschlichen Fortpflanzung nicht nur im Nationalsozialismus, sondern im historischen Ländervergleich zwischen 1900 und 1970 zu nähern. Dabei steht das Verhältnis zwischen Eugenik und Moderne im Zentrum des Interesses. In einem einleitenden und fünf thematisch gegliederten Teilen tragen 25 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu diesem anspruchsvollen Vorhaben bei. Damit fügt sich der Band in die neuere Eugenikforschung ein, deren Fluchtpunkt nicht der Nationalsozialismus bildet, sondern die ihren Erklärungshorizont in der von den Zeitgenossen als krisenhaft wahrgenommenen Moderne erkennt. 1

In Anlehnung an Zygmunt Bauman gehen die Herausgeberinnen und Herausgeber einleitend davon aus, dass – neben Merkmalen wie Individualisierung, Säkularisierung, Rationalisierung, Industrialisierung, Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung – die Schaffung von Ordnung und Eindeutigkeit» ein zentrales Element der Moderne bilde. Dabei habe die Eugenik als Teil der Biopolitik im Sinne Michel Foucaults mit dem Ziel der «Lebenssteigerung» eine zentrale Rolle gespielt (S. 15). Gleichzeitig deuten sie die Eugenik als Reaktion auf die negativ wahrgenommenen Erscheinungen der Moderne. Eine Reaktion nota bene, die sich ihrerseits vielfältiger moderner Mittel bediente und in die Lücke älterer Exklusionslogiken sprang (S. 15/16). Diesen grundsätzlichen Betrachtungen verleihen Regina Wecker und Lene Koch in den darauf folgenden Beiträgen zur Schweiz und den skandinavischen Staaten Tiefenschärfe. In der Schweiz hätten eugenische Massnahmen einen Ersatz für die 1874 aufgehobenen, sozial motivierten Ehehindernisse dargestellt und seien nicht zuletzt durch ihren Fokus auf Frauen akzeptabel geworden (S. 35). In Dänemark, Norwegen und Schweden habe die Eugenik als integraler Bestandteil zum Aufbau des modernen Wohlfahrtsstaats gegolten (S. 56). Darüber hinaus sei die Einführung (eugenischer) Sterilisationen und Abtreibungen von der sozialistischen und feministischen Bewegung befürwortet worden, weil sie den Rahmen für individuelle Fortpflanzungsentscheide erweiterten (S. 47). Ein Gespräch zwischen Regina Wecker und Lene Koch zur These, dass es sich bei der historischen Eugenik und den neuen Reproduktionstechnologien um «zwei unterschiedliche Formen der Biomacht» handelt, die in je eigener Weise Zwang und neue Entscheidungsfreiheiten mit sich brachten, schliesst den einleitenden Teil ab (S. 69).

Der erste Teil behandelt das Thema der (Zwangs-)Sterilisation, die von der Kommentatorin Gabriele Czarnowski für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als «Emblem der Eugenik» bezeichnet wird (S. 119). Die Gegenüberstellung deutscher und schweizerischer Sterilisationspolitik macht deutlich, dass es – wie im Falle der Schweiz – keinen totalitären Staat oder Gesetze braucht, um eugenische Postulate umzusetzen. So zeigen Gisela Hauss und Béatrice Ziegler am Beispiel der knapp 100 durchgeführten Sterilisationen von Armen und Unmündigen im Rahmen der Vormundschaftspraxis der Städte St. Gallen und Bern zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und den 1950er-Jahren, dass diese das Ergebnis der situationsabhängigen und flexiblen «Zusammenarbeit von Medizin und Behörde » darstellten (S. 87), wobei Verantwortlichkeiten nicht klar definiert waren und Freiwilligkeit und Zwang ineinander greifen konnten. Die Radikalisierung der Eugenik beziehungsweise Rassenhygiene im Nationalsozialismus zeichnet Johannes Vossen nach. Hans-Walter Schmuhl betont in seinem Beitrag zur Begleitforschung zum NS-Sterilisationsprogramm am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) die zentrale Bedeutung der Wissenschaft bei der Umsetzung des «Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» (GzVeN) vom 14. Juli 1933. Er zeigt auf, dass gerade die «differenziertere Konzeption der Biowissenschaften» mit dem Konzept des «höheren Mendelismus», wie ihn besonders Otmar von Verschuer, seit 1942 Direktor des KWI-A, vertreten habe (S. 112f.), «auf eine weitere Verschärfung der Sterilisierungsgesetzgebung hinaus» gelaufen sei (S. 118).

Drei unterschiedliche Perspektiven auf den Expertendiskurs in Grossbritannien, der Schweiz sowie im deutschen Judentum werden im zweiten, mit «Science» überschriebenen Teil präsentiert. Alexander von Lünen beschäftigt sich mit J. B. S. Haldanes Züchtungsvisionen, die dieser auch noch in den 1960er-Jahren propagierte. Für Véronique Mottier stellt die Eugenik einen Blickwinkel dar, aus dem der schweizerische Weg in die Moderne und das dabei zur Geltung kommende «gender regime» untersucht werden können. Veronika Lipphardt schliesslich wendet sich in ihrem Beitrag «Jüdische Eugenik?» gegen die Vorstellung eines einheitlichen Eugenikdiskurses innerhalb des deutschsprachigen Judentums. Sie zeigt, dass sich die Vorstellungen der deutsch-jüdischen Wissenschaftler «signifikant» von denjenigen ihrer nicht-jüdischen Kollegen unterschieden, indem sie eine Art «kompensatorischen Biologismus» vertraten, der sich von der Rassenbiologie distanzierte und individualistisch ausgerichtet war (S. 151). Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem britischen, deutschen und schweizerischen Fall bringt Helga Satzingers Kommentar auf den Punkt.

Unter dem Titel «Eugenik – Sozialhygiene – Sozialtechnologie» vereint der dritte Teil zwei Beiträge zur Eugenik der Zwischenkriegszeit. Ursula Ferdinand zeichnet den «faustischen Pakt» zwischen der Sozialhygiene des deutschen Arztes und Sozialisten Alfred Grotjahns und der Eugenik nach, womit sich die ursprünglich humanitär ausgerichtete Sozialhygiene zur normativen «Fortpflanzungshygiene als nachhaltige[r] Bevölkerungspolitik» gewandelt habe (S. 185). Dietz hingegen zeigt, wie sich die radikale Rechte in Grossbritannien als Teil der Eugenikbewegung «explizit gegen die […] Bedingungen der Moderne» richtete, während die Eugenik ihren «radikal-konservativen Zielen den Schein von ‘Modernität’ und wissenschaftlicher Objektivität» gab (S. 188). Martin Lengwilers Kommentar macht deutlich, wie die Eugenik von den unterschiedlichsten politischen Richtungen instrumentalisiert werden konnte und dennoch auf je eigene Weise Teil der Moderne war: Ziel der Eugenikbewegung sei es gewesen, «einen modernistischen Ausweg aus der diagnostizierten Krise der Moderne zu finden» (S. 199).

Dass sich die eugenische Bewegung weder durch einheitliches Denken noch dieselben Praktiken auszeichnete, wird auch im vierten Teil zur Eugenik im katholischen Milieu anschaulich. Zwar hält Josef Mooser in seinem Kommentar fest, dass die katholische Kirche der hartnäckigste Gegner der Sterilisation gewesen sei, dennoch habe sie sich nicht gegen jede Form von Eugenik gestellt (S. 247). Möglichkeiten und Grenzen einer auf diese Weise eingegrenzten Eugenik im katholischen Milieu zeichnet Andreas Venakis am Beispiel von Italien nach. Thomas Mayer untersucht die «Eugenischen Netzwerke im Österreich der Zwischenkriegszeit» und Monika Löscher durchleuchtet die katholische Eugenik ebenfalls am Beispiel Österreichs.

Der letzte thematische Teil des Bandes widmet sich den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Eugenik nach 1945. Daphne Hahn schildert den Umgang der frühen BRD und DDR mit dem GzVeN und den Wiedergutmachungsansprüchen von Menschen, die während des Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurden. Beklemmend wirkt dabei besonders die Tatsache, dass das GzVeN in der BRD nach 1945 in Kraft blieb und Mediziner und Juristen bis in die späten 1960er-Jahre versuchten, die infolge der Abschaffung der Erbgesundheitsgerichte nicht mehr durchgeführte Zwangssterilisation wieder einzuführen. In der DDR, wo das Gesetz 1946 ausser Kraft gesetzt worden war, wurden eugenische Fortpflanzungsentscheidungen auf die Ebene des Schwangerschaftsabbruchs verschoben. Florian Grams schildert in seinem Beitrag die konsequente «Ablehnung der Selektion menschlichen Lebens» durch die Behindertenbewegung in der Bundesrepublik der 1980er- und 90er-Jahre in der Folge von Peter Singers Schriften, beispielsweise im Rahmen von Kosten-Nutzen-Rechnungen oder der pränatalen Diagnostik (S. 280). Mit der Frage nach Kontinuität und Bruch der Normalisierungsverfahren in Eugenik und Humangenetik schliesst Christoph Keller die thematischen Beiträge ab. Die Aktzeptanz gegenüber der vorgeburtlichen Diagnostik und der Verhinderung des Lebens behinderter Kinder sieht Keller im «flexibel-normalistischen» Eugenikdiskurs begründet, der seine Wirkungsmacht durch Überzeugung, und nicht durch Unterwerfung entfalte. Die Anfänge dieses Diskurses erkennt Keller im «Genetiker-Manifest» aus dem Jahr 1939. Damals kritisierten namhafte angelsächsische Genetiker die nationalsozialistische Eugenik und Rassenhygiene und setzten auf «die freiwillige Unterwerfung des Individuums unter das Normalitätsdispositiv» (S. 285), freilich nicht ohne an eugenischen Postulaten festzuhalten. Im abschliessenden Kommentar betonen Gabriela Imboden und Hansjakob Ritter das kritische Potential der historischen Analyse für gegenwärtige Normalisierungsprozesse.

Mit dem Tagungsband «Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?» liegt eine facettenreiche, hervorragend ausgewählte und sorgsam editierte Sammlung an Einzelstudien zur heterogenen Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert vor, die sich intensiv der Frage nach dem Verhältnis von Eugenik und Moderne widmet. Freilich widmen sich die einzelnen Beiträge nicht immer in derselben Ausführlichkeit der übergeordneten Fragestellung. Ebenso unterscheiden sich die Beiträge in ihrer empirischen Basis und argumentativen Stringenz. Eine besondere Stärke des Bandes liegt denn auch darin, dass der einleitende Teil und die elaborierten Kommentare eine wertvolle Klammer um die einzelnen Texte bilden und als Synthesen dem Anspruch des Ländervergleichs gerecht werden.

1 Vgl. beispielsweise: Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, Ithaka, Cornell University Press, 1991; Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a New Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke, Palgrave Macmillan, 2007; Marius Turda, Modernism and Eugenics, Basingstoke, Palgrave Macmillan 2010.

Zitierweise:
Regula Argast: Rezension zu: Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden, Bernhard Küchenhoff, Hans Jakob Ritter (Hg.): Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? What is National Socialist about Eugenics? Internationale Debatten zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert. International Debates on the History of Eugenics in the 20th Cenury. Wien/Köln/Weimar, Böhlau, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 509-512

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 509-512

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