: Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!. Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf ums Frauenstimmrecht. Zürich 2015 : Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag, ISBN 978-3-03810-006-5 395 S.

: Frauenbewegung. Die Schweiz seit 1968. Analysen, Dokumente, Archive. Baden 2014 : hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, ISBN 978-3-03919-335-6 235 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marina Lienhard, Historisches Seminar/Zentrum Geschichte des Wissens, Universität Zürich/ETH Zürich

«Ohne Gleichberechtigung in der Geschichte wird die Frau nie gleichberechtigt sein», stellte die kürzlich verstorbene Schweizer Frauenrechtlerin Marthe Gosteli fest (Rogger, S. 225). Zwei jüngst erschienene Publikationen haben sich dieser Herausforderung für die Schweizer Geschichte gestellt: Sie setzen sich mit der Geschichte der Schweizer Frauenbewegung(en) auseinander.

Franziska Rogger hat eine dreigeteilte Monographie verfasst. Im ersten Teil zeichnet sie die Geschichte der Frauenbewegung bis zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen (BFS) nach; im zweiten beschreibt sie die Biographie Marthe Gostelis und im dritten untersucht sie am Beispiel der Familie Gosteli Geschlechterrollen von 1735 bis 1915. Einen anderen Ansatz und zeitlichen Fokus verfolgen Kristina Schulz, Leena Schmitter und Sarah Kiani. Ihr Buch hat den Anspruch, zugleich eine theoretische Grundlage für die Erforschung der Frauenbewegung in der Schweiz seit 1968, eine Quellensammlung und -edition sowie ein Archivführer zu sein. Neben einem Archivverzeichnis, das Bestände zur Schweizer Frauenbewegung aus zwanzig verschiedenen Archiven auflistet, und einer ausführlichen Bibliographie (einschliesslich unveröffentlichter Literatur) bietet das Buch Analysen zu vier «Knotenpunkten der Mobilisierung»: 1968–1978, 1975–1981, 1981–1996 und 1995–2011.

Roggers Monographie ist gleichsam eine Hommage an Marthe Gosteli. Gostelis äussert interessantes Leben wird von der Autorin sehr gut in die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Schweiz eingeordnet. Der persönliche Ton, den Rogger dabei anschlägt, ist zugleich die Stärke, aber auch eine Schwäche ihres Werks. Einerseits handelt es sich dabei aus Sicht einer feministischen Geschichtsschreibung um eine interessante Strategie, entzieht sich Rogger doch damit dem objektivierenden akademischen Duktus. Dazu gehört auch der besondere Aufbau des Buchs, zum Beispiel die durch die gesamte Monographie gestreuten O-Töne Gostelis aus Interviews mit der Autorin. Diese machen Gosteli zum organisierenden Zentrum der Erzählung und brechen die ereignisgeschichtlicheren Passagen immer wieder mit einem Perspektivenwechsel auf. Es gelingt Rogger, durch diese Nähe Sympathien für die Protagonistin zu wecken sowie die Leserin direkt abzuholen. Andererseits ist diese Nähe teilweise auch irritierend, etwa wenn Gostelis Lieblingsmahlzeit ausführlich beschrieben wird. Ärgerlicher ist die mangelnde Distanzierung Roggers aber, wenn sie unhinterfragt Gostelis Narrativ der Geschichte der Schweizer Frauenbewegung übernimmt. So führt die Frustration Gostelis über das mangelnde Interesse der «Neuen» Frauenbewegung am BFS und ihre Wahrnehmung, die Geschichtsschreibung habe sich stets nur für erstere interessiert, zu einer zu starken Dichotomisierung zwischen der «Alten» und der «Neuen» Frauenbewegung, welche die Kontinuitäten und Überschneidungen ausser Acht lässt. Es entsteht der Eindruck, der BFS habe still im Hintergrund alle Fäden gezogen und die lauten und unorganisierten 68erinnen hätten dann die Lorbeeren geerntet. Rogger geht sogar so weit zu behaupten, dass die Geschichte «des langen Kampfs für politische Rechte» der Schweizer Frauen «bis heute nie erzählt» worden sei (S. 13). In diesen und ähnlichen Aussagen wird eine Kritik an der akademischen Geschichtsschreibung laut, die zwar nicht gänzlich ungerechtfertigt ist, aber doch zu weit führt. Trotzdem ist Roggers Aufarbeitung der Quellen des BFS wichtig. Entstanden ist eine interessante Monographie, die durch den Fokus auf Gosteli und deren Faszination für Geschichte zeigt, dass sich der politische Kampf auch in den Archiven abspielt.

Dessen sind sich Schulz, Schmitter und Kiani ebenfalls bewusst, weshalb ihr Buch eine Einladung an Forscherinnen und Forscher ist, sich stärker mit den Archiven der Schweizer Frauenbewegung auseinanderzusetzen. Als Wegleitung bieten die drei Autorinnen die Überblickstexte über verschiedene «Knotenpunkte der Mobilisierung» der Frauenbewegung seit 1968 und damit auch den Versuch einer Periodisierung an. Für jeden der Zeiträume wird danach gefragt, wie die Akteurinnen mobilisiert wurden und sich vernetzten, wer die Trägerinnen der Dynamik waren, wie der Aktions- und Organisationsmodus aussah, mit welchen Themen sich die Frauen hauptsächlich auseinandersetzten und in welchem Verhältnis sie zu Institutionen und zur Institutionalisierung standen. Illustriert werden die einzelnen Kapitel mit zahlreichen annotierten Quellen wie beispielsweise Flugblätter, Versammlungsprotokolle und Zeitungsartikel. Das Buch bietet einen sehr guten Einstieg in die Materie und ermöglicht einen Überblick über die Themenvielfalt, die Aktionen und die Akteurinnen der Neuen Frauenbewegung. Schulz, Schmitter und Kiani gelingt es in ihrer Analyse ausserdem zu zeigen, was das «Neue» an der «Neuen Frauenbewegung» war, ohne aber die Kontinuitäten zur und die Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung zu unterschlagen. Positiv zu erwähnen ist auch, dass die Autorinnen Exklusionen und Kämpfe innerhalb der Frauenbewegung thematisieren. So dokumentieren sie zum Beispiel den «Lesben-Hetra-Konflikt», der Ende der 1980er Jahre in der Frauen- Kino-Gruppe der Reitschule in Bern entstand (S. 134f.). Leider findet hingegen die Problematisierung von Rassismus, die in den 1980er und 1990er Jahren innerhalb feministischer Gruppierungen und Zeitschriften stattfand, keine Erwähnung. Durch den Handbuchcharakter ist das Werk sehr informativ, aber streckenweise auch ziemlich trocken – gerade im Kontrast zur oftmals lebhaften Sprache der Quellen. Der Struktur des Buches mit denselben Unterkapiteln für jeden Zeitraum sowie der Tatsache, dass die gewählten Zeiträume natürlich nicht in sich selbst geschlossen sind, ist es geschuldet, dass die Erläuterungen teilweise etwas repetitiv und redundant daherkommen. Dennoch ist das Buch grundsätzlich sehr gelungen und bietet sich, nicht zuletzt wegen der übersichtlichen Unterteilung und der annotierten Quellenbeispiele, auch zur Verwendung für den Geschichtsunterricht an. Die Quellenauswahl macht Lust auf mehr und lässt erahnen, welche Schätze in den aufgeführten Archiven lagern.

Bei allen Unterschieden weisen die beiden Publikationen auch Gemeinsamkeiten auf. So wird die Bedeutung des Archivs als politisches Instrument betont. Auch geht aus beiden Büchern hervor, dass die Frauenbewegung in der Schweiz nicht losgelöst von anderen Frauenbewegungen betrachtet werden kann. Schulz’, Schmitters und Kianis Quellenauswahl zeigt zum Beispiel den Kontakt der Schweizer Frauenbewegung zur Women’s Liberation in den USA und die Faszination der Akteurinnen für die Black Panther. Rogger beschreibt Gostelis England-Aufenthalt als prägend für ihre politische Arbeit, ebenso ihre Arbeit für den United States Information Service, bei dem sie Einblick in amerikanische Frauenrechtspolitik erhielt.

Was in beiden Publikationen fehlt, sind Hinweise auf die Rolle Schwarzer Frauen und anderer Frauen of Color. Zwar erwähnen Schulz, Schmitter und Kiani, dass Migration seit den 1980er Jahren zu den Themen der Frauenbewegung gehört und nennen zum Beispiel das Fraueninformationszentrum (FIZ), welches sich seit 1985 gewaltbetroffener Migrantinnen annimmt (S. 113, S. 149). Aber die Selbstorganisation solcher Frauen, gerade auch derer, die nicht (oder nicht kürzlich) migriert waren, etwa im Treffpunkt Schwarzer Frauen in Zürich,1 wird nicht thematisiert. Die Suche nach deren Stimmen und Spuren würde den Blick öffnen für Ausschlüsse und blinde Flecken innerhalb der Frauenbewegung sowie für weitere Fronten im Kampf um Gleichberechtigung. Dazu müssten die Archive aber auch gegen den Strich gelesen werden, denn diese sind eben nicht nur Instrumente im politischen Kampf, sondern bilden auch Machtverhältnisse ab.

1 Vgl. zu dessen Geschichte: Shelley Berlowitz et al., Terra incognita? Der Treffpunkt Schwarzer Frauen in Zürich, Zürich 2013.

Zitierweise:
Marina Lienhard: Rezension zu: Franziska Rogger, «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!» Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf ums Frauenstimmrecht, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 480-482.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 480-482.

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