M. R. Marrus u.a.: Vichy et les Juifs

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Titel
Vichy et les Juifs.


Autor(en)
Marrus, Michael R.; Robert O., Paxton
Erschienen
Paris 2015: Calmann-Lévy
Anzahl Seiten
604 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Neuzeit, Universität Zürich

In 79 Deportationszügen wurden 1942 bis 1944 fast 75 000 Jüdinnen und Juden aus Frankreich abgeführt, die meisten nach Auschwitz. So wenig wie das Vichy-Regime als Schutzschild für das von den Deutschen militärisch besiegte Land diente, wie es Staatschef Marschall Pétain gern gesehen hätte, so wenig war es ein solcher für die französischen Juden, die auf Kosten ihrer ausländischen Schicksalsgenossen (die man dem Besatzer ohne weiteres preisgab) hätten gerettet werden sollen, wie man in Frankreich immer noch gerne glauben möchte. Fast ein Drittel der Deportierten waren französische Bürger, die anderen ausländische Flüchtlinge.

Dies ist in etwa die Aussage des vorliegenden Buches des renommierten amerikanischen Vichy-Forschers Robert O. Paxton (New York) und seines kanadischen Kollegen Michael R. Marrus (Toronto), ein erstmals 1981 erschienener Klassiker, der nach 35 Jahren nunmehr in einer stark (umfangmässig um rund 20 Prozent) erweiterten Auflage neu herausgegeben wurde. Die Neuauflage profitiert von einer dank der inzwischen erfolgten Öffnung der Archive erheblich breiteren Quellenbasis und ist – wie schon die erste Auflage – jenen gewidmet, die zwischen 1940 und 1944 den verfolgten Juden in Frankreich halfen … und das war gerade nicht «la France de Vichy».

Sieben grosse Kapitel und eine ausführliche Schlussbetrachtung verfolgen das Schicksal der Jüdinnen und Juden von der Besetzung Frankreichs bis zu seiner Befreiung, nicht ohne auf die bedrohlichen Anfänge des späteren Vichy-Antisemitismus in den krisenhaften 1930er Jahren zurückzugreifen, die sich von der nach Zehntausenden zählenden jüdischen Zuwanderung nach 1933 und 1938 nährten. Schwerpunkt des Bandes sind die auf rund 300 Seiten behandelten Jahre 1940 bis 1942, als unter Admiral François Darlan (ab Februar 1941faktisch an der Spitze der Vichy-Regierung) und dem Generalkommissar für Judenfragen Xavier Vallat (seit März 1941) einschneidende und in der Regel von Vichy selber ohne allzu direkten deutschen Druck verantwortete antijüdischen Massnahmen wirksam wurden, die zur Ausschliessung der Juden aus dem öffentlichen Leben und zur Liquidierung ihrer Besitztümer führten, und die von den Funktionsträgern in aller Regel loyal umgesetzt und von der Öffentlichkeit mit weitgehender Zustimmung oder jedenfalls gleichgültig aufgenommen wurden. Die Wende kam im Zuge der von der französischen Polizei am16./17. Juli 1942 in Paris veranstalteten «grande rafle du Vél’ d’Hiv’» (Vélodrome d’Hiver) und als Folge der brutalen Internierungen in ebenfalls von den Franzosen geführten Lagern wie Gurs (Basses- Pyrénées) oder Rivesaltes (Pyrénées-Orientales) und vor allem Drancy in der nordöstlichen Pariser banlieue, der «antichambre à Auschwitz» (S. 363) mit den seit Sommer 1942 und bis Ende Juli 1944 von hier ausgehenden Deportationen; 68 von den 79 französischen Deportationszügen starteten hier. Jetzt begann man in der Öffentlichkeit die Juden statt als Problem zunehmend als Opfer wahrzunehmen, wenngleich die nach Deutschland verfrachteten französischen Arbeitskräfte als die ‹wahren› Deportierten galten, nicht die Juden. Im November 1942 wurde auch das ‹freie› Frankreich von den Deutschen besetzt.

Die Zeit von 1942 bis 1944 mit dem Regierungschef Pierre Laval (ab April 1942), der von den Autoren recht differenziert beurteilt wird, und dem in jeder Hinsicht verachtenswerten Judengeneralkommissar Louis Darquier de Pellepoix (Mai 1942 bis Ende Februar 1944) wird auf knapp 100 Seiten präsentiert. Darquier war der Wunschkandidat der Deutschen, den Pétain dagegen als «Monsieur le tortionnaire» angesprochen haben soll (S. 412). Jetzt ging es vor allem darum, wie weit man den Deutschen und den von ihnen in Zahlen geforderten Auslieferungen von Juden zur Füllung der Deportationszüge in die Vernichtung nachgeben wollte oder konnte, und sich auch französische Juden nicht mehr retten liessen. Unter Darquier stieg George Montandon, ein in Zürich ausgebildeter und 1936 in Frankreich eingebürgerter Schweizer Arzt, zu Vichys Rassentheoretiker auf; er wurde im Juli 1944 von der Résistance exekutiert.

Die ausführliche Konklusion zum Holocaust in Frankreich geht schliesslich zum einen der Frage nach, was man in Vichy von der «Endlösung» wissen konnte. Zum andern wird ein Vergleich mit den anderen von den Deutschen besetzten oder mit ihnen verbündeten Staaten versucht, womit die Judenverfolgung in Frankreich in einen grösseren Kontext gestellt wird. Sie unterscheidet sich insofern von allen anderen, als dieses Land weder mit Deutschland verbündet noch –bis zum November 1942 – ganz, sondern ‹nur› halb besetzt war. Dies hat den Juden wegen des virulenten Antisemitismus Vichys und der Kollaboration mit den Besatzern indessen nur bedingt genützt.

Das Buch ist ein gelungener Wurf, der trotz einer breiten Anlage bei allem Detailreichtum und einer bewundernswerten Präzision in gut angelsächsischer Manier flüssig geschrieben ist. Es rückt vieles in die richtige Perspektive, so den Stellenwert des französischen Beitrags zur Judenvernichtung in Fortentwicklung einer sukzessive verschärften Anfälligkeit der ausgehenden Dritten Republik für Antisemitismus, der unter Vichy zu einem regelrechten «antisémitisme d’Etat» mutierte. Dieser erscheint (nicht nur zahlenmässig) dem italienischen nicht unähnlich, wobei letzterer von den Autoren in seiner Brutalität etwas unterschätzt wird. Dies ist in meiner Sicht aber der einzige und nur nebensächliche Kritikpunkt, den man gegen dieses ansonsten in jeder Beziehung eindrückliche Werk vorbringen kann. Einer etwa von Jacques Sémelin kritisierten Haupt-Äusserung des Buches, dass die Kernfrage nicht lauten dürfe, weshalb 75 Prozent der rund 300 000 Juden Frankreichs den Holocaust überlebten, sondern weshalb dies für 25 Prozent nicht der Fall war, kann angesichts der Zuliefererdienste der französischen Polizei voll zugestimmt werden. Die Verfasser stützen deren Beantwortung auf ein höchst umfangreiches, stringent aufbereitetes Material ab, das die Verantwortung Vichys und der Träger seines Systems bis hinauf zur obersten Spitze klar belegt. Alles führt zur abschliessenden Frage: «Combien de morts y aurait-il eu en moins si les Allemands avaient été contraints dès le début d’identifier, d’arrêter et de transporter eux-mêmes, sans aucune assistance française, chacun des Juifs de France qu’ils voulaient assassiner?» (S. 522)

Zitierweise:
Carlo Moos: Rezension zu: Michael R. Marrus, Robert O. Paxton, Vichy et les Juifs (Nouvelle édition), Paris: Calmann-Lévy, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 283-285.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 283-285.

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