T. Kaestli (Hrsg.): Nach Napoleon

Cover
Titel
Nach Napoleon. Die Restauration, der Wiener Kongress und die Zukunft der Schweiz 1813-1815


Herausgeber
Kaestli, Tobias
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 91
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marco Jorio

Im vierfachen Jubiläumsjahr 2015 übertönte der Kriegslärm um die Schlacht von Morgarten (1315), die Eroberung des Aargaus (1415) und vor allem die Schlacht von Marignano (1515) die leiseren Töne zu den für die heutige Schweiz weit wichtigeren Schlüsseljahren 1813-1815. Vor 200 Jahren wurden die heute noch bestehenden äusseren und inneren Grenzen der Eidgenossenschaft (mit Ausnahme des Kantons Jura) und die Neutralität der Schweiz völkerrechtlich anerkannt. Immerhin brachten 2015 die meisten Medien fundierte Berichte; mehrere historische Vereine nahmen den Wiener Kongress in ihr Vortragsprogramm auf; das Landesmuseum in Prangins zeigte vom 13. März bis 13. September 2015 eine - im Vergleich zur opulenten Zürcher Marignano-Ausstellung - kleine, aber feine Sonderausstellung «La Suisse redessinée. De Napoléon au Congrès de Vienne» (Kuratorin: Nicole Staremberg). Zudem fanden einige wissenschaftliche Kolloquien oder Gedenkanlässe statt: «Le Congrès de Vienne et le Canton de Vaud, 1813-1815» (27.-29. November 2014, Lausanne), «Zürich und der Wiener Kongress» (20. März 2015, Zürich), «Le monde et les neutres» (5. Juni 2015, Prangins), «Le Congrès de Vienne et les petits Etats» (18./19. Juni 2015, Freiburg). Die Schweiz und der Wiener Kongress waren auch Thema an zwei internationalen Kongressen in Wien anlässlich des 200. Jahrtages der Eröffnung und des Abschlusses des europäischen Friedenskongresses.

In diesen Rahmen gehört die hier zu besprechende Publikation, die aus dem Vortragszyklus des Historischen Vereins des Kantons Bern im Wintersemester 2014/15 hervorgegangen ist. In sieben Beiträgen wird diese Umbruchzeit von verschiedenen Seiten beleuchtet, wobei Bern beziehungsweise sein neu erworbener jurassischer Landesteil im Zentrum stehen.

Der Berner Ordinarius André //o/enste/n liefert mit seinem Beitrag unter dem Titel «Nach Napoleon. Die Grossmächte retten die Schweiz» die Klammer für die anderen Artikel. Er weist einleitend darauf hin, dass die Mächte entscheidend in die Neugestaltung einer in zwei Lager gespaltenen Eidgenossenschaft eingriffen. Die Weiterexistenz der Schweiz als europäischer Staat war zwar durch die Siegermächte nicht in Frage gestellt, weil «das Schicksal dieses interessanten Landes» (Zitat Metternich) im Interesse der Grossmächte lag. Der Autor unterteilt die «zwei turbulenten Jahre», die oft als Einheit unter dem vereinfachenden Etikett «Wiener Kongress» abgehandelt werden, in vier Perioden und kann so die teilweise dramatischen Ereignisse und Wendungen in ihrer Abfolge und Verschränkungen nachzeichnen. Er deutet die sehr frühe Neutralitätserklärung der Tag- Satzung vom 18. November 1813 als «Instrument der Schwachen» und bringt die darauffolgende unwirsche Reaktion Metternichs vom 21. Dezember 1813 im Wortlaut. Daraus geht klar hervor, dass die wieder auferstandene Neutralität anfänglich gar nicht im Interesse der Grossmächte lag und von diesen der Eidgenossenschaft nicht auferlegt wurde, wie dies 2015 gelegentlich behauptet wurde. Zu Recht relativiert Holenstein die oft überschätzte Bedeutung des Wiener Kongresses mit dem Hinweis, dass mit Annahme des Bundesvertrags und der Aufnähme Genfs, Neuenbürgs und des Wallis als neue Kantone in den Bund kurz vor
Beginn des Wiener Kongresses (9. und 12. September 1814) die wichtigsten ErWartungen der Siegermächte bereits erfüllt waren und in Wien selber nur die noch ungelösten Schweizer Fragen geregelt wurden.
Lranço/s Charte P/cte stellt in seinem Beitrag die Loslösung der Stadt Genf von Frankreich nach der «Befreiung durch Österreich» (sie!), die Wiederherstellung der Republik, Grenzfragen und schliesslich den Eintritt Genfs als gleichberechtigten Stand in die Eidgenossenschaft vor. Im Zentrum stehen die politisch überragende Person von Charles Pictet de Rochement und seine diplomatischen Missionen nach Paris und Wien. Die zweite Pariser Mission nach der Niederlage Napoleons in Waterloo war besonders erfolgreich: Pictet de Rochement erreichte die völkerrechtliche Anerkennung der Schweizer Neutralität (20. November 1815) und die territoriale Verbindung des neuen Kantons mit dem Rest der Schweiz, welche Genf in Wien noch nicht erhalten hatte.
Der Beitrag «Erfolgreich verhandeln» von /teer Lehmann schildert die Genfer und Berner Gesandtschaften am Wiener Kongress, dessen Arbeitsweise er skizziert. Die Erfolge der beiden Delegationen waren umgekehrt proportional zu ihrem Auftreten: Während die grosse und glanzvolle Genfer Delegation mit fast leeren Händen zurückkehrte, erhielt der Kanton Bern als einziger eidgenössischer Stand umfangreiche territoriale Kompensationen und dazu noch viel Geld. Er war somit der eigentliche «Siegerkanton» am Wiener Kongress, auch wenn der depressive Berner Vertreter Ludwig Zeerleder nicht dieser Ansicht war und die bernische Historiographie das bis heute nicht so sieht. Lehmann führt dieses erstaunliche Resultat nicht auf das Verhandlungsgeschick der Delegierten, sondern auf die Interessen der Grossmächte und die allgemeine Machtlosigkeit aller «mindermächtigen Staaten» zurück.
Lea«-C/aude Pehe/ez stellt das Schicksal des Fürstbistums Basel vom Ancien
Régime bis zur Integration in die Eidgenossenschaft und den Anschluss an die Kantone Bern und Basel (Birseck) vor: Er thematisiert die Verwaltung des «herrenlosen Landes» im Auftrag der Alliierten durch den Arlesheimer Freiherr von Andlau-Birseck, den Widerstand im Süden gegen den Generalgouverneur, die Bemühungen der adligen Elite im katholischen Nordjura zur Schaffung eines neuen Kantons, die Mission der zweiköpfigen jurassischen Delegation an den Wiener Kongress (die nicht so erfolglos war: sie rang mit Unterstützung der alliierten Minister den neuen Landesherren viele Konzessionen ab) und den Übergang des Landes an den Kanton Bern. Rebetez sieht im Fehlen einer staatlichen Struktur und der innerjurassischen Zerstrittenheit den Grund dafür, dass die Grossmächte keinen eigenen Kanton schaffen wollten und den militärischen Schutz der Jurapässe lieber dem mächtigen Bern übertrugen.
Der Gegenspielerin von Generalgouverneur Andlau im Süden, der Stadt Biel, widmet Lohte Ate//; seinen Beitrag «Restauration des Ratsherrenregiments und Integration der Stadt Biel in den Kanton Bern». Zwar bestand die Bieler Elite nach dem Ende der französischen Herrschaft auch aus «durchaus modern denkenden Männern», aber letztlich dachten «sie weiterhin in alteidgenössischen Kategorien» und wollten das wieder selbstständige Biel als eigenen Kanton in die Eidgenossenschaft führen. Wie seine nordjurassischen Kollegen war darin auch Biels Gesandter am Wiener Kongress, Georg Friedrich Heilmann, erfolglos. Bemerkenswert sind die beiden Bieler Missionen im Januar 1814 zu den Alliierten. Schon am 12. Januar 1814 erklärte der österreichische Feldmarschall Schwarzenberg die Stadt Biel als zur Schweiz gehörig. Das heisst, dass schon sehr früh, früher als oft angenommen, vermutlich seit dem Treffen der drei Monarchen in Freibürg im Breisgau und in Basel um die Jahreswende 1813/14, die Wiederherstellung der Schweiz und eine neue Westgrenze für die alliierten Grossmächte bereits beschlossene Sache war.
Zwei Beiträge wenden sich kulturhistorischen Themen zu: den Nationaldenkmälern der Restauration und dem öffentlichen Bauen in Bern um 1815. Fa/enrine von FeZ/enherg widmet sich dem Denkmal in der Steiger-Kapelle im Berner Münster und dem Luzerner Löwendenkmal zum Gedenken an die in den Tuilerien am 10. August 1792 niedergemetzelte Schweizer Garde. Ebenso schildert sie die wenig bekannte Ehrung der Überlebenden von 1792 durch die Tagsatzung um 1817. Im Berner Denkmalkomplex, das neben den Tafeln mit den Namen der 702 Gefallenen auch ein Denkmal für den letzten Schultheiss des Alten Bern, Nikiaus Friedrich von Steiger, und eine katholisch anmutende Pietà von 1871 umfasst, sieht die Autorin einen «der aussagekräftigsten Zeugen zur Veranschaulichung
der Schweizer Restauration». Während das damals politisch umstrittene Berner Denkmal mit dem schwindenden Interesse am historischen Kontext weitgehend vergessen ging, wandelte sich das Löwendenkmal, als «schönstes Monument der Schweiz», zum Touristenmagnet. Dieter Sc/weZZ weist anhand der Baukommissionsprotokolle nach, dass im Kanton Bern 1815 aus Geldmangel nur wenige Objekte gebaut wurden und dies noch sehr kostengünstig. Erst in den folgenden Jahren wurde wieder gebaut noch im Stil des Ancien Régime. Neu hingegen war bei der Bauvergabe das Konkurrenzverfahren, quasi der Vorläufer des modernen Architekturwettbewerbs.
Die publizierte Vortragsreihe ist ein wertvoller Beitrag zur Erhellung der «Schlüsselzeit» 1813-1815, in der nach 1798 und 1803 einige fundamentale Ecksteine für die moderne Schweiz gelegt wurden. Sie bekräftigt Bekanntes, bringt aber auch neue Einsichten, so etwa die Rolle von kleinen Staatsgebilden wie Genf, Biel oder des Fürstbistums Basel im Poker der Siegermächte um die Zukunft einer politisch-militärisch gestärkten sowie im Innern stabilisierten Schweiz. Eine grosse Forschungslücke bleibt aber weiterhin bestehen: Die Rolle der Schweiz auf dem Wiener Kongress, vor allem die Verhandlungen der Grossmächte untereinander und in Interaktion mit den Schweizer Vertretern, ist erst lückenhaft bekannt und verdient eine gründliche Aufarbeitung.

Zitierweise:
Marco Jorio: Rezension zu: Tobias Kaestli, Nach Napoleon. Die Restauration, der Wiener Kongress und die Zukunft der Schweiz 1813-1815, Baden: Hier und Jetzt, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 250-252.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 250-252.

Weitere Informationen