C. Camenisch: Endlose Kälte

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Titel
Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert


Autor(en)
Camenisch, Chantal
Reihe
Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 5
Erschienen
Basel 2015: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
523 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Wozniak, Seminar für mittelalterliche Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Chantal Camenisch gelingt es in ihrer an der Universität Bern vorgelegten Dissertation, das «Zusammenspiel von Witterung und konjunktureller Entwicklung » (S. 29) aufzuzeigen. Dafür führt sie die von Christian Pfister an frühneuzeitlichen Quellen entwickelten relativen Indizes-Systeme konsequent ins Spätmittelalter zurück und versucht ihre Datenreihen mit einer zeitlichen Auflösung nach Jahreszeiten zu rekonstruieren. Sie korreliert Getreidepreisreihen mit ihren Witterungsrekonstruktionen und einer Untersuchung zu Witterungsfolgen.

Der zu besprechende Band ist in zehn Kapitel unterteilt, auf die Einleitung (S. 13–70) folgen allgemeine Überlegungen zu den «Faktoren der Getreidepreisbildung in der vorindustriellen Zeit» (S. 71–130) sowie den «Burgundischen Niederlande[n] im 15. Jahrhundert» (S. 131–160). Das Herzstück der Arbeit bildet die Darstellung im vierten Kapitel «Witterungsverlauf in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert» (S. 161–382), in dem konkrete Witterungsereignisse im Detail besprochen werden. Dabei werden die Jahreszeiten getrennt nach Temperatur und Niederschlag untersucht und dargestellt. Als unterste zeitliche Ebene werden hierfür Dekaden genutzt, um die Einzelereignisse zusammenzufassen. Zu betonen ist, dass neben der von der früheren Forschung rekonstruierten Temperatur die Autorin auch die deutlich schwerer zu fassenden Niederschlagsdaten anhand der Überlieferung vorbildlich rekonstruiert hat. Die Ergebnisse des dritten und vierten Kapitels werden dann im fünften Kapitel «Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert» (S. 383–426) zusammengeführt. Mit einem Fazit (S. 427–432), einer ausführlichen Bibliographie (S. 433–496), einem Anhang (S. 497–508) und mehreren Verzeichnissen (S. 509–512) endet der durch ein Personen-, Orts und Sachregister (S. 513–523) mustergültig erschlossene Band. Positiv anzumerken ist, dass für sämtliche chronologische Angaben parallel die Daten in julianischer und gregorianischer Zeitrechnung angegeben sind, was den Ergebnissen eine hohe Anschlussfähigkeit an frühneuzeitliche Datensammlungen ermöglicht.

Die Erträge der Arbeit, der ausführliche Katalog sämtlicher überlieferter Witterungsereignisse des 15. Jahrhunderts in den Burgundischen Niederlanden und die zwei zusammenfassenden Tabellen im Anhang, bilden eine belastbare Basis für künftige Forschungen zur Region, zum 15. Jahrhundert allgemein wie auch zu den Witterungsereignissen im 15. Jahrhundert. In den Tabellen werden zunächst die Klimaindizes für alle Jahreszeiten von 1400 bis 1500 getrennt nach Temperatur und Niederschlag aufgeführt. Dies geht weit über den bisherigen Forschungsstand hinaus.1 Die Dichte der Daten ist dabei – erwartungsgemäss – höchst inhomogen; für fünf Jahre (1404, 1466, 1467, 1473, 1498) sind die Daten fast vollständig vorhanden, für fünf andere Jahre (1403, 1410, 1411, 1449, 1463) dagegen gar nicht bekannt. Von den zusammengerechnet 800 möglichen saisonalen Indizes (Temperatur- und Niederschlagswert für Frühling, Sommer, Herbst und Winter in 100 Jahren) in den Jahren 1400 bis 1500 konnte die Autorin aufgrund der Überlieferung 386 ermitteln; mithin erzielt diese Datenreihe für die Burgundischen Niederlande eine Gesamtdichte von 48,3 Prozent. Bei den Angaben zu Wintertemperaturen wurden 82 Prozent erreicht, bei den Herbsttemperaturen nur 32 Prozent, die Sommerniederschläge konnten zu 61 Prozent klassifiziert werden, die Frühlingsniederschläge dagegen nur zu 32 Prozent; alle anderen Werte ordnen sich jeweils dazwischen ein. Camenisch betont denn auch treffend: «Aufgrund der Quellenlage eignet sich nicht jede Region Europas für eine Untersuchung des Witterungsverlaufes im Spätmittelalter. Hervorragende Konditionen bieten in dieser Hinsicht diejenigen Gebiete, die während des 15. Jahrhunderts als Burgundische Niederlande in die Geschichte eingingen» (S. 14). Für die Frühneuzeit sind – wie am überzeugendsten Christian Pfister in seinen verschiedenen Arbeiten nachgewiesen hat – so viele Daten dokumentiert und überliefert, dass sich fast immer saisonale, ab einer bestimmten Zeit sogar monatliche Indizes rekonstruieren lassen. Dagegen scheint bereits mit dem 15. Jahrhundert eine Übergangszeit erreicht zu sein, in der die statistischen Lücken so gross sind, dass es – trotz der vergleichsweise hervorragenden Überlieferung in der hier untersuchten Region – je tiefer man in die Vergangenheit blickt, desto weniger möglich ist, dichte saisonale Datenreihen aufzustellen.

Wichtige Ergebnisse der Arbeit – neben den Datenreihen und der erfolgreichen Korrelation mit den Getreidepreisen – bilden die Filterung, Darstellung und Analyse dreier grosser Subsistenzkrisen, die in den 1430er, 1480er und am Übergang von den 1480/1490er Jahren grössere Teile Mitteleuropas betroffen haben. Die Darstellung bildet ein grundlegendes Werk zum Verständnis des 15. Jahrhunderts, weil es die Umwelt als vierte Kategorie der Geschichtswissenschaft – neben Politik, Wirtschaft und Kultur – in Form der saisonalen Witterung in dem auch für die europäische Geschichte wichtigen Raum der Burgundischen Niederlande zugänglich macht. Endlose Kälte bildet einen neuen Meilenstein bei der Rekon struktion von Klimaindizes. Chantal Camenisch hat eine detailreiche, dicht belegte und für den schnellen Zugriff optimierte Studie vorgelegt, die vielerlei Anregungen bietet und deren mit Sorgfalt angewendete Methodik eine hohe Anschlussfähigkeit an die erarbeiteten Daten für ähnliche Untersuchungen ermöglicht.

1 Zuletzt Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Darmstadt 32013, S. 61–93.

Zitierweise:
Thomas Wozniak: Rezension zu: Chantal Camenisch, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert, Basel: Schwabe Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 126-128.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 126-128.

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