R. Ammann u.a. (Hrsg.): Gesichter der administrativen Versorgung

Cover
Titel
Gesichter der administrativen Versorgung / Visages de l’internement administratif. Porträts von Betroffenen / Portraits de personnes concernées


Herausgeber
Ammann, Ruth; Huonker, Thomas; Schmid, Jörg
Reihe
Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen 1
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
CHF 48.00; € 48.00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mischa Gallati, Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK), Universität Zürich

Seit 2014 ist die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen im Auftrag des Schweizer Bundesrates tätig. Ihre Aufgabe ist es, die Geschichte der administrativen Versorgungen, also die durch Behörden angeordneten und nicht durch Gerichte legitimierten Inhaftierungen, Festsetzungen und Einweisungen, wissenschaftlich aufzuarbeiten. In den letzten Jahren ist der Druck aus Wissenschaft und Gesellschaft auf die Politik und involvierte Institutionen massiv gestiegen, diese Praxis, die bis 1981 gängiges Instrument der Fürsorge war, endlich als Unrecht anzuerkennen, wissenschaftlich zu erforschen und die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen finanziell zu entschädigen.

Die UEK Administrative Versorgungen war in den letzten Jahren ein zentraler Ort, wo dieser Prozess gebündelt und vorangetrieben wurde. Ihre Arbeit neigt sich nun dem Ende zu und soll auf vielfältige Weise dokumentiert werden. Vorgesehen ist neben Ausstellungen und öffentlichen Veranstaltungen auch eine zehn Bände umfassende Reihe, in der die Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.1 Nun, im Mai 2019, liegen die ersten Titel der Reihe vor, deren erster Band hier besprochen wird.

Dieser erste Band trägt den Titel «Gesichter der administrativen Versorgung. Portraits von Betroffenen» und wurde von dem Fotografen Jos Schmid, von Beat Gnädinger, Mitglied der UEK, und Ruth Ammann, Forschungsleiterin der UEK, gemeinsam herausgegeben. Er versammelt fotografische und biografische Portraits von Menschen, die von administrativer Versorgung betroffen waren. Es muss als höchst symbolisches Statement gewertet werden, dass die Reihe mit einem Band eröffnet wird, der ganz auf Menschen und ihre Geschichten fokussiert und dabei institutionelle, rechtliche und soziale Kontextualisierungen zwar nicht ganz ausser Acht lässt, aber eben nicht ins Zentrum rückt. Das ist stark und deshalb nur zu begrüssen. Der emphatische Zugang ermöglicht es, Menschen unvoreingenommen gegenüberzutreten, die aus undurchsichtigen und fadenscheinigen Gründen behördlich legitimiertem Unrecht ausgesetzt waren und deren Biografien unsichtbar gemacht wurden. Damit soll offensichtlich ein offiziell legitimierter Beitrag zur Wiedergutmachung geleistet werden. Aber auch darüber hinaus erscheint der Band als richtig und wichtig zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Mittlerweile liegen einige exemplarische Studien zur Aufarbeitung behördlicher und institutioneller Praxis vor, daneben gibt es eine sich allmählich verbreiternde Literatur der autobiografischen Beschäftigung mit dem Thema.2 Der vorliegende Band nimmt eine dritte Position zwischen subjektiven Binnensichten und einer stärker auf Strukturen und Prozesse fokussierenden Geschichtsschreibung ein. Im grossen Bemühen um Transparenz verweist die Herausgeberschaft ausdrücklich darauf, dass es sich bei den Portraits keineswegs um Eigenbilder handelt, sondern durchaus um Bilder, die sich andere (in den Personen des Fotografen und der Autorinnen und Autoren) von den dargestellten Menschen gemacht haben.

Es erscheint als Qualität des Bandes, dass Fragen, die sich dabei bezüglich Bildsprache und Sprachduktus eröffnen, in der Einleitung angesprochen und differenziert beantwortet werden. Dabei fand die Herausgeberschaft für diesen zentralen Teil der Publikation eine Sprache, die trotz wichtiger forschungspolitischer und -ethischer Statements für eine breitere, interessierte Öffentlichkeit lesbar bleibt. In essayistischer Manier wird reflektiert über die Macht der Bilder, die Rollen vor und hinter der Kamera und die grundsätzlich schwierige Funktion, die sowohl Fotografien als auch verschriftlichte Lebensläufe für die dargestellten Personen haben können. Das Bestreben ist geradezu greifbar, Fallen der Tradierung von Zwang und Ohnmacht aus dem Weg zu räumen, die etwa dann entstehen, wenn Biografien fremdbestimmt bleiben und lediglich als Funktion der Interessen einer externen Instanz (einst: staatliche Fürsorge / heute: Geschichtsschreibung) dienen.

Ihrer unmittelbaren Wirkung wegen sind es aber die Fotografien, die den Band in erster Linie prägen. Für die Aufgabe, Portrait-Aufnahmen herzustellen, musste ein Fotograf gefunden werden, der sensibel auf die unterschiedlichen biografischen Erfahrungen der Abgelichteten eingehen konnte. Mit dem von Zürich aus arbeitenden Jos Schmid wurde offenbar eine richtige Wahl getroffen. Denn die im Band publizierten Bilder sind äusserst bemerkenswert: Die seitenfüllenden, schwarz-weissen Fotografien zeigen Menschen, mal nur das Gesicht, mal als ganze Person, die den Betrachter, die Betrachterin direkt anschauen. Für die Aufnahmen reiste Schmid zu den Portraitierten nach Hause. Oftmals entstanden die Fotos draussen, allerdings vor einem weissen Hintergrund, der ganz auf die Gesichter und Körper, Haltungen und Mimiken fokussieren lässt. Der weisse Hintergrund ist dabei eine bewusste Anknüpfung an die „Ästhetik“ von Fahndungsbildern – allerdings stehen die Menschen hier nicht als Objekte eines staatlichen Apparates vor der Kamera, sondern als Akteurinnen und Akteure, als gleichberechtigte Subjekte. Schmid liess sie während der Sessions aus ihrem Leben erzählen, was den Fotografien eine biografische Tiefe gibt, die man auch ohne Text erfassen kann. Allerdings erscheinen diejenigen Bilder, die ganze Menschen oder zumindest ihre Oberkörper zeigen, noch intensiver und dynamischer als reine Gesichts-Portraits, da sie Haltungen als Ausdruck des ganzen Körpers vermitteln.

Zwischen die fotografischen Portraits sind einzelne biografische Texte eingestreut. Anders als die Fotos, die aus einer Hand stammen und einer übergreifenden Bildsprache folgen, sind die insgesamt sechzehn Texte des Bandes sehr heterogen: Sie stammen aus der Feder von dreizehn verschiedenen Autorinnen und Autoren, sind in deutscher (11), französischer (4) und italienischer (1) Sprache verfasst und basieren auf sehr unterschiedlichen Quellen. Während die einen Portraits auf Interviewdaten zurückgreifen, wurden andere auf der Grundlage von Akten rekonstruiert, in weiteren drei Fällen wurden zudem Egodokumente wie Autobiografien verwendet.

Während der Lektüre irritierte anfänglich diese Ausweitung der Perspektiven – gegenüber der bei den Fotos vorherrschenden Konsequenz, aber auch im direkten Vergleich der verschiedenen Texte. Zeigt sich dies auch im geringeren argumentativen Aufwand, der in der Einleitung in die Reflexion der Textproduktion gesteckt wurde – im Vergleich zur Legitimierung der Fotografien? Es stellte sich die Frage, ob hier eine Unsicherheit der Historikerin, des Historikers im Umgang mit direkten Aussagen lebender und handelnder Menschen ein wenig in die Konzeption des Bandes hineingewirkt hat – eine Unsicherheit, wie sie künstlerische Zugänge wie die Fotografie sehr viel weniger kennen. Zudem variiert die Qualität der Texte, was durchaus nicht nur auf die unterschiedlichen Quellen zurückzuführen ist. In Anbetracht des Kontextes, in dem der Band erschienen ist, muss diese leise Kritik allerdings sogleich relativiert werden: Insgesamt erscheint es wichtig und richtig, Strategien der Selbstermächtigung nicht retrospektiv zu strapazieren und zu vertuschen, dass wir von den Geschichten vieler Menschen lediglich noch über den höchst prekären Zugang der Behördenakten wissen – was uns aber gerade nicht daran hindern soll, uns auch für diese Biografien zu interessieren. Es wäre trotzdem hilfreich, wenn die unterschiedliche Provenienz der Daten, auf denen die Texte basieren, nicht nur in den Quellenangaben kenntlich gemacht, sondern vielleicht sogar mit grafischen Mitteln deutlicher markiert worden wäre.

In der Einleitung des Bandes formulieren die Herausgeberin und die Herausgeber zwei Ziele der Publikation: Erstens sollen Menschen, die in der Vergangenheit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ausgesetzt waren, heute gezeigt und beschrieben werden, um «ihnen im besten Fall das Menschsein zurückzugeben, dass ihnen frühere Bilder und Texte weggenommen hatten» (S. 11). Zweitens soll aus individuellen Geschichten ein möglichst vielschichtiges Bild administrativer Versorgungen und fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gezeichnet werden. Beide Ziele erscheinen vollumfänglich erreicht – und der Start der Reihe mit diesem Band geglückt. Mit Spannung erwarte ich die folgenden Bände, welche zweifellos weitere Facetten und Kontexte einer Geschichte der administrativen Versorgungen in der Schweiz aufzeigen werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/forschung/ (18.06.19).
2 Einen Überblick über Monografien und weitere laufende und abgeschlossene Projekte zum Thema findet sich auf der Webseite der UEK, vgl. https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/kontext/ (18.06.19).

Redaktion
Veröffentlicht am
08.07.2019
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Weitere Informationen