R. Liggenstorfer: Archivio della nunziatura di Lucerna

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Titel
"Archivio della nunziatura di Lucerna" im Vatikanischen Geheimarchiv. Inventar


Autor(en)
Liggenstorfer, Roger
Erschienen
Città del Vaticano 2017: Archivio segreto vaticano
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marc Bayard

Ein neuer Stimulus für die Erforschung der Schweizer Geschichte: Für die Akten der Luzerner Nuntien (1586–1873), die im Vatikanischen Geheimarchiv schlummern, gibt es jetzt ein Inventar mit inhaltlicher Erschliessung. Das Nuntiatur-Archiv ist aber nicht nur ein unerschöpfliches Zeugnis von Geschichte, sondern hat auch selbst eine einzigartige Geschichte. Und das neu erschienene Inventar ist ein Teil davon.

In der akademischen Welt gibt es je nach Fachbereich die unterschiedlichsten Arten von Forschungsleistungen. In formaler Hinsicht jedoch ähneln sie sich und können ganz grob in drei Gruppen unterteilt werden, je nach Umfang und Intensität. Da gibt es erstens das einfache Forschungsprojekt, das auf ca. 3 Jahre terminiert und bezüglich der Ressourcen und gesetzten Zielen relativ eng und klar abgesteckt ist. Diese wohl häufigste Form der akademischen Forschung wird von den Forschenden eher routinemässig durchgeführt. Dann gibt es aber auch eine Art von Forschungsleistung, die von den Forschenden etwas mehr abverlangt und die auch zwei, drei Jahre länger dauert. Hier hin gehören z.B. die meisten universitären Qualifikationsarbeiten, wie Dissertationen und Habilitationen, längere Quellenforschung, grössere empirische Studien oder derartiges.

Schliesslich gibt es noch die langjährige Forschungsleistung, die jeden vorgegebenen Rahmen sprengt und prinzipiell unabgeschlossen bleibt. Es handelt sich hierbei um eine Langzeitstudie, um eine Exploration von bisher unbetretenem Terrain oder vielleicht ist auch der Gegenstand der Forschung derart komplex, was dem Fass mit den aufgewendeten Ressourcen den Boden raus haut. Charakteristisch für die Forschenden ist bei dieser Art, dass ihre Involvierung über das übliche Mass hinausgeht. Ob sie nun vollamtlich und ohne Unterbruch oder phasenweise und in Teilzeit am Projekt arbeiten, sie tun es mit Leidenschaft, behandeln es als Herzensangelegenheit, werden geradezu eins mit ihrer Forschung. Nicht selten steht dann – wenn eines Tages die Forschung durch externe Zwänge gewaltsam abgeklemmt wird – das Resultat im Rang eines Lebenswerks.

Genau eine solche Forschungsleistung der dritten Art steckt hinter dem hier vorgestellten Buch. Während einer Zeitspanne von 23 Jahren, von 1992-2015, hat Roger Liggenstorfer die alten Archivbestände der Luzerner Nuntiatur untersucht, die im Vatikanischen Geheimarchiv untergebracht sind. Er stützt sich dabei auf die Vorarbeit von Père André-Jean Marquis SMB (gest. 1994), der als Archivar des Heiligen Stuhls sich schon seit 1976 mit dem Bestand befasst hat. (S. XXIV) Die Leistung von Liggenstorfer besteht darin, dass er die Dokumente des Archivs, Faszikel aller Art, mehr oder weniger ungeordnet untergebracht in 452 Bänden oder Archivschachteln, inventarisiert. „In akribischer Archivarbeit wurde Schachtel um Schachtel katalogisiert.“ Die Bände werden geordnet, nummeriert und detailliert beschrieben, d. h. alle darin enthaltenen Akten werden formal wie inhaltlich erschlossen. Liggenstorfer ermittelt also bei jedem Schriftstück nach Möglichkeit nicht nur den Umfang, den Autoren, die Adressaten, Ort und Zeit, sondern ebenso den Inhalt, sofern ein mehr oder weniger klar ersichtliches Thema vorliegt.

Dies gilt für den grössten Teils des Archivs. Für die Nummern 1–177 hingegen gibt es nur eine partielle Beischreibung, bei der nur die wichtigsten Dokumente angegeben werden. Besorgt wird dieser Teil von Carlotta Benedetti, die später zum Projekt dazugestossen ist; und zwar auf Entscheid des Präfekten des Vatikanischen Geheimarchivs, der somit für das langjährige Forschungsvorhaben Liggenstorfers das gewaltsame Abklemmen übernimmt. (S. XXVI-XXVII) Zum Glück! Denn jedes weitere Warten auf das Resultat der ganzen Arbeit wäre schade gewesen, und dieses Resultat ist mehr als beeindruckend: ein komplettes Inventar des Archivs der Luzerner Nuntiatur mit (fast) durchgängig detaillierter inhaltlicher Beschreibung.

Doch Moment mal! Ein Nuntius in Luzern? Richtig, im Jahre 1586, nach den Wirren der Reformation, liess sich der Vertreter des Papstes für die Schweizer Landen im katholischen Luzern nieder und blieb dort mit einigen Unterbrüchen bis 1873. Liggenstorfer verweist in seiner Einleitung auf die Arbeit des Solothurner Historikers Urban Fink: Die Luzerner Nuntiatur 1586–1873. Zur Behördengeschichte und Quellenkunde der päpstlichen Diplomatie in der Schweiz, Luzern/Stuttgart 1997. Die Dissertation von Fink, der in der ersten Phase der Inventarisierung mit Liggenstorfer zusammengearbeitet hat, ist das massgebliche Werk, das man konsultieren muss, wenn es um den Nuntius von Luzern und die Geschichte seines Archivs geht. (S. XVI)

Es ist schwierig bis unmöglich, in Nachschlagewerken oder Datenbanken Bilder der Luzerner Nuntien aufzutreiben. Mitarbeiterinnen von der Sondersammlung der Zentralund Hochschulbibliothek (ZHB) Luzern sind jedoch in den Keller gestiegen und haben tatsächlich Bildnisse der drei letzten Nuntien in ihrem Bildarchiv gefunden, die sie freundlicherweise für den Abdruck in diesem Artikel zur Verfügung stellen.

Liggenstorfer knüpft in seiner Einleitung an die Dissertation von Fink an und zeichnet in einer zusammengefassten, aber auch um neue Erkenntnisse aktualisierten Weise die wechselvolle Geschichte des Archivs nach. Sie liest sich wie ein Drehbuch eines Historienfilms. Die erste Etappe dieser Geschichte umfasst die Zeit der Nuntiatur in Luzern selbst, als das Archiv für das Tagesgeschäft der Nuntien gebraucht wurde und aus diesem heraus stetig anwuchs. Und diese Geschichte ist genauso wechselhaft wie diejenige der Nuntiatur:Wechselnde Nuntien, die zeitweise Verlegung der Nuntiatur nach Altdorf (1725–1731) und Schwyz (1823–1843) sowie die Verwaisung während der napoleonischen Eroberungen (1798–1803) führten zu verschiedenen Weisen, wie die Dokumente im Archiv abgelegt wurden. Und immer wieder kam es zu „bescheidenen Neuordnungsversuchen“. (S. XVI–XVII)

Dies war aber nicht die einzige erschwerende Bedingung, unter der das Archiv in seiner einzigartigen und schwer zugänglichen Art angewachsen ist. Die komplexe Struktur des Archivs spiegelt die komplexe Lage der damaligen Politik zwischen dem Heiligen Stuhl und der Eidgenossenschaft wider. So führt Pierre-Yves Fux, bis 2018 Botschafter der Schweizerischen Eidgenossenschaft beim Heiligen Stuhl in Rom, der der Einleitung von Liggenstorfer eine „Vorstellung“ vorausschickt, noch weitere Gründe an. Nicht nur wegen den klimatischen Bedingungen war es für die päpstlichen Vertreter aus Italien „im kalten und regnerischen Luzern keine leichte Aufgabe, ihren Auftrag zu erfüllen“, sondern v.a. wegen den typisch schweizerischen Besonderheiten der Nuntiatur selbst, die „kaum mit einer Nuntiatur an einem königlichen Hof zu vergleichen“ war: „wegen der Vielfalt der Sonderregelungen“, weil der Nuntius bis 1848 nur „bei den sieben katholischen Ständen akkreditiert“ war, weil „die Abgrenzung der Diözesen nicht mit den politischen Grenzen [über]einstimmte“ und nicht zuletzt, weil die Nuntiatur sich im Unterschied zu allen anderen „nicht nur um Ernennungen von Bischöfen, sondern auch um Offizierskandidaturen für die Schweizergarde“ kümmerte. (S. XI–XXX) Nach der Aufhebung der Nuntiatur und der Ausweisung des letzten Geschäftsträgers beginnt dann für das Archiv die zweite Etappe seiner Geschichte: die abenteuerliche Reise nach Rom, die Liggenstorfer mit „Die Odyssee“ betitelt. Interessant dabei sind die beteiligten Personen, die mit ihren Initiativen diese Reise vorantreiben:
• Da ist ein Churer Priester, der das Archiv 1874 in Sicherheit bringt und es bei den Franziskanerinnen in Muotathal versteckt.
• Da ist ein Churer Domherr, der das Archiv, nachdem es 1892 ins Diözesanarchiv von Chur gelangt ist, für seine Bistumsgeschichte durchforscht.
• Da ist ein Kardinalstaatssekretär des Heiligen Stuhls in Rom, der sich aufgrund der Publikation jener Bistumsgeschichte 1907 nach dem Verbleib des Nuntiaturarchivs erkundigt.
• Da ist ein Churer Bischof, der 1911 dem Papst schreibt, das Archiv wäre nun bereit für den Transport nach Rom.
• Da ist ein Stiftsarchivar der Abtei Disentis, der 1921 eine Anfrage an das Staatssekretariat stellt, das Archiv zu konsultieren, was dort eine erneute Suche auslöst, da es Chur nie verlassen hat.
• Da ist ein eifriger Archivar, der beauftragt vom Staatsekretariat via Churer Bischof das Archiv daraufhin und noch im selben Jahr nach Bern in die neuerrichtete Nuntiatur übersiedelt und dort innerhalb einer neuerlichen Ordnungsarbeit die Archiveinheiten in die Grundstruktur der heutigen Nummerierung bringt.
• Da ist der Nuntius der neuen Nuntiatur, der nach Rom berichtet, dass der aus Rom zugesandte Schrank zu klein sei für das ganze Material.
• Da ist ein Churer Diözesanarchivar, der 1926 zufällig noch weitere Akten des Archivs findet und ebenso nach Bern schickt.
• Und schliesslich ist da noch ein Bundesrat, dank dessen Hilfe das Archiv nach einem entsprechenden Entscheid des Heiligen Stuhls im Jahre 1926 nach Rom transportiert werden kann, um im Vatikanischen Geheimarchiv endlich zur Ruhe zu kommen. (S. XVII–XXII)

Die dritte Etappe der Geschichte des Archivs besteht dann in seiner systematischen Erschliessung, die nach Jahrzehnten und einigen Anläufen im Inventar von Liggenstorfer ihren Abschluss findet.

Und die vierte Etappe kann beginnen: Der Bestand des Archivs ist nun bereit für die Forschung. Dank seiner Aufarbeitung durch Liggenstorfer können Historikerinnen und Historiker in der Schweiz und weltweit auf einfache Weise, und ohne erst nach Rom reisen zu müssen, in Erfahrung bringen, was sie zu welchem Thema im Archiv der Luzerner Nuntiatur finden können. Der Beitrag des Inventars ist somit, mehr „Licht ins Dunkel“ zu bringen, nicht nur in Bezug auf die Schweizer Nuntiatur, den „staatskirchenrechtlichen Aspekt“ oder das „Verhältnis Heiliger Stuhl – Schweizerische Eidgenossenschaft“, sondern überhaupt auch in Bezug auf die Geschichte der Schweiz und Europas, sei es nun in politischer, wirtschaftlicher, soziologischer, pädagogischer, kirchlich-pastoraler oder theologischer Hinsicht. (S. XXVIII–XXX)

Schon beim Durchstöbern des unerschöpflichen Materials des Inventars erhält man ein bestimmtes Bild vom Leben der Nuntiatur innerhalb der damaligen Zeit. Manches überrascht, weckt die Neugier und könnte die Forschenden je nach Interesse nach Rom locken. Hier ein paar Beispiele:
Wer sich für die Schweizer Geschichte von Bildung und Erziehung interessiert, für die oder den könnte sich ein Blick in die Nr. 194 lohnen, die u. a. Akten zur Korrespondenz der Nuntiatur mit dem Kanton Luzern beinhalten, etwa die Titel:
„Verzeichnis der Rangordnung der Studirenden der Kantonsschule und der Theologie zu Luzern, nach den Classen und Lehrfächern einzeln bestimmt und zusammengetragen am Schlusse des Schuljahres 1853/45, Luzern (1854)“. (S. 136)

„Vierter Jahresbericht über die schweizerische Rettungsanstalt für katholische Knaben am Sonnenberg bei Luzern 1862-1863, Solothurn 1863“. (S. 137)

Oder in der Nr. 258 den Titel:
„Nuntius von Wien an den Nuntius Lorenzo Gavotti: Frei-Platz für Berner und Walliser Studenten im Kolleg in Wien (Wien, 15. Oktober 1644)“. (S. 185)

Apropos Wallis: In der Nr. 171 über das Bistum Sion gibt es folgende Akte:
„Breve von Papst Klemens X. an den Nuntius Odoardo Cibo: Aufhebung der Exkommunikation von Adrian V. von Riedmatten, Bischof von Sitten, nach seiner Wahl zum Bischof (Rom, 17. August 1675)“. (S. 109)

Wissen die Walliser Historikerinnen und Historiker, dass ihr als Helden-Bischof verehrter Adrian vor seiner Wahl zum Bischof exkommuniziert war? Und warum um Himmels Willen war er denn exkommuniziert?

Forschende der Theologie kommen auf ihre Kosten. Hier drei Beispiele aus den Bereichen Dogmatik (Nr. 249), Kirchengeschichte (Nr. 255) und Pastoraltheologie (Nr. 257):
„Die Lehre von dem Unfehlbaren Lehramte des römischen Papstes und ihrer wahrer Sinn. Ein belehrendes Wort der Schweizerischen Bischöfe an ihre Diözesanen (1871)“. (S. 172)

„Protestation des Evêques de la Suisse contre le récent acte de violence exercé à l’égard de notre Saint Père le Pape (Freiburg, 1870)“. (S. 179)

„Rath des Kantons Bern: Reglement über den katholischen Gottesdienst in der Hauptstadt Bern (Bern, 22. August 1823)“. (S. 183)

Oder hier noch ein Beispiel aus der Nr. 260 für Kulturhistorikerinnen und Bibliothekswissenschaftler:
„Nuntius Michelangelo Conti an den Pfarrer Jakob Bourquenaud in Vuisternens, Diözese Lausanne: Lizenz zum Bücherlesen (Luzern, 30. Juli 1696)“. (S. 188)

Es ist zu hoffen, dass all diese Titel, diese in langjähriger Knochenarbeit zusammengetragenen Einträge, ihrenWeg in die Hände der historischen Forschergilde finden, um sie durch einen kleinen, aber für die Schweiz wichtigen Teil des Vatikanischen Geheimarchivs zu führen. Für dieses Geheimarchiv braucht man zwar eine entsprechende „Lizenz zum Bücherlesen“, doch dank Liggenstorfer sind die Inhalte des Luzerner Nuntiatur- Archivs in Form eines Inventars für alle zugänglich.

Citation:
Marc Bayard: Rezension zu: Roger Liggenstorfer. "Archivio della nunziatura di Lucerna" im Vatikanischen Geheimarchiv, Città del Vaticano: Archivio Segreto Vaticano, 2017. Zuerst erschienen in: https://doi.org/10.5281/zenodo.2592438, 13.03.2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
18.03.2019
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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