P. Grace: Affectionate Authorities

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Titel
Affectionate Authorities. Fathers and Fatherly Roles in Late Medieval Basel


Autor(en)
Grace, Philip
Erschienen
Burlington 2015: Ashgate
Anzahl Seiten
186 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lucas Burkart, Historisches Seminar, Universität Luzern

Die Studie von Philip Grace widmet sich der historischen Analyse von Vätern im Spätmittelalter oder besser von Vaterrollen und -figuren um 1500. Seinen Gegenstand untersucht er im Sinne einer exemplarisch-repräsentativen Fallstudie für das spätmittelalterliche Basel. Auf Basis eines klug zusammengestellten Quellenkorpus gelingt ihm eine Darstellung, in der antike und christliche Diskurstraditionen nicht nur eng verwoben sind mit sozialen Beziehungsmustern, sondern in der die Wechselwirkung von Diskurs und sozialer Praxis als Rahmung für Vorstellung, Verständnis und Deutung vielfältiger Vaterrollen zum eigentlichen Protagonisten der Studie avanciert.

Der von Grace gewählte Ansatz und Zugang wäre ohne die Genderforschung nicht denkbar. Analog zum «sozialen Geschlecht» postuliert er ein Verständnis der Vaterrollen weit über deren biologische «Bestimmung» hinaus und verfolgt die Spuren der von Gesellschaft und Kultur geprägten Väter in einer spätmittelalterlichen Stadt. Zugleich verweist Grace darauf, dass für die Analyse «historischer Väter» die Rede vom Patriarchat zu kurz greife; der Begriff wird in einer unüberschaubaren Breite von Bedeutungen verwendet und ist für eine historische Untersuchung analytisch kaum trennscharf einsetzbar, zumal er durch moderne Ideologien hochgradig aufgeladen ist. In seinem eigenen Ansatz folgt Grace weniger einer Theorie – vielmehr versucht er, die diskursiven und sozialen Handlungsfelder auszumachen, in denen Vaterfiguren im Spätmittelalter wirksam wurden. Mehrere solche Felder, nach denen die Studie gegliedert ist, bestimmt Grace, wobei er dabei dennoch von einer theoretischen Prämisse ausgeht, die gewissermassen als Koordinatennetz hinterlegt ist und die den Beziehungsraum zwischen Vätern und ihren Kindern – Söhne und Töchter gilt es (wenig überraschend) deutlich zu unterscheiden – determiniert: Eine Achse dieses Koordinatennetzes, so Grace, wird bestimmt durch die Hierarchie von Vater-Kind-Beziehungen, die andere durch die darin liegenden Affekte.

Vor diesem Hintergrund breitet Grace seine Quellen aus, die humanistische Traktatliteratur ebenso umfassen wie Familienkorrespondenz beziehungsweise Briefe von Vätern an und über ihre Kinder. Er berücksichtigt dabei sowohl die «internationale» Literatur wie etwa Albertis Traktat Della famiglia als auch Angehörige des oberrheinischen Humanismus: Texte von Sebastian Brant, Erasmus von Rotterdam, Jakob Wimpfeling werden ebenso ausführlich untersucht wie die Briefe des Johannes Amerbach an seine Söhne und seine Frau Barbara. Entscheidend für die Studie ist aber, dass ihr Autor diese Texte, die vor allem einen idealtypischen Einblick in die moralische und pädagogische Befindlichkeit städtischer Eliten bieten, um Bestände aus der Zivilgerichtsbarkeit ergänzt, die in Basel besonders reich überliefert sind. Grace konzentriert sich dabei in erster Linie auf die Kundschaften, das heisst Zeugenaussagen laufender Gerichtsfälle, die meist reichhaltiger sind als etwa Urteilsbücher und in denen besagte Zeugen «Geschichten » erzählen. Da Grace diese Quellen «gegen den Strich», das heisst gegen die Erwartung und Intention sowohl derjenigen, die die Aussagen machen, wie derjenigen, die sie schriftlich fixieren, liest, also nicht nach wahren oder falschen Aussagen sucht, umschifft er die von der Kriminalitätsforschung betonten Herausforderungen, die mit der Analyse dieser Quellen einhergehen, und eröffnet Blicke auf das Selbstverständnis, die Vorstellung, aber auch Abweichungen von Vätern und ihren sozialen Rollen.

Grace’ Umgang mit den Quellen überzeugt, weil er sie nicht schematisch in Theorie und Praxis scheidet, sondern sie als verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten geteilter Diskurs- und Denkfelder versteht. In den Kundschaften sieht er gewissermassen die Basis, auf der die Bildung und Verwendung von Vaterdiskursen und -metaphern fusst, zugleich schlägt sich diese in humanistischen Traktaten und Briefen geführte Rede aber in den Normen, die vor Gericht verhandelt werden, ihrerseits deutlich nieder. Das ist konzeptionell überzeugend und zugleich quellennah präsentiert.

Die wichtigste zeitgenössische Erwartung (Kap. 3) bildet die Pflicht eines Vaters, seine Kinder zu versorgen – häufig genug nur mit dem Nötigsten: Nahrung und Kleidung. Entsprechend verbinden sich – gerade in der spätmittelalterlichen Stadt – mit dieser ersten Vaterpflicht Debatten um Armut, Fürsorge und Kindspflege beziehungsweise der Rolle, welche die städtische Obrigkeit darin zu übernehmen hat. Das ist deswegen für das Thema erhellend, weil sehr deutlich wird, dass die Frage eigentlich nicht lautet «was ein Vater ist», sondern «was er tut»; anders formuliert: Nach spätmittelalterlichem Verständnis wird zum Vater, wer sich wie ein solcher verhält. Dies berührt aber nicht nur soziale Phänomene, sondern wirkt sich auch auf Recht, Politik und Ökonomie aus, etwa wenn aus Kindspflege Erbansprüche (Kap. 4) erwachsen und von der Obrigkeit gegenüber leiblichen Kindern verteidigt werden. Gegenüber einem sozial und kulturell geprägten Rollenverständnis treten der biologische Vater und Blutsverwandtschaft in ihrer Bedeutung deutlich zurück; eine Vielzahl von unterschiedlichen Rollen und Funktionen substituieren sie in verschiedenen Bereichen.

An den Praktiken des transgenerationellen Transfers lassen sich aber auch die deutlichen Unterschiede in der Beziehung zu Söhnen und Töchtern ausmachen, die auch die Bereiche der Bildung (Kap. 5) und der Moral (Kap. 6) kennzeichnen, die Philip Grace in seiner Studie ebenfalls ausführlich behandelt.

Der Fokus, den Grace auf die Väter richtet, nimmt somit die ganze Gesellschaft in den Blick; dabei verliert die Studie den roten Faden nicht. Vielmehr zeigt ihr Autor auf, dass Vaterrollen vielfältig wirksam wurden und dass der Diskurs über Rollen und Pflichten von Vätern einen Raum konturierte, der weit weniger von Eindeutigkeiten geprägt war, als dass er vielfältig gestaltbar war. Die Analyse seiner Quellen weist aber nicht nur Aussagewert für Basel auf; es gelingt Philip Grace immer wieder, seine Beobachtungen und Befunde an die internationale Forschung anzuschliessen und damit eine aussagekräftige und repräsentative Fallstudie vorzulegen.

Während konzeptioneller Zugang, Quellenanalyse und deren Darstellung weitgehend überzeugen, hat das Buch jedoch auch seine Schwächen. Diese beziehen sich vor allem auf den historisch-politischen Kontext zu Basel um 1500 (S. 17f.), der in seiner Darstellung zu sehr der älteren Literatur folgt. Entsprechend dem von Wackernagel geprägten Paradigma fehlt etwa der Bischof als politischer Akteur und der Klerus als Teil der städtischen Gesellschaft vollständig, obwohl die Arbeiten von Sieber-Lehmann, Fouquet und anderen hierüber längst ein weit differenzierteres Bild geliefert haben. Noch überraschender ist jedoch das Fehlen wichtiger Forschungsliteratur (Burghartz, Signori, Simon-Muscheid), die unterschiedliche Bereiche der von Grace behandelten Thematik eng berührt. Die fehlende Rezeption dieser Forschung irritiert, weil die Studie von Grace ansonsten einen ebenso vielschichtigen wie interessanten Beitrag liefert, der zudem weitgehend angenehm zu lesen ist.

Zitierweise:
Lucas Burkart: Rezension zu: Philip Grace, Affectionate Authorities. Fathers and Fatherly Roles in Late Medieval Basel, Burlington: Ashgate, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 104-106.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 104-106.

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