Rossfeld, Roman; Thomas, Buomberger; Patrick, Kury (Hrsg.): 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg. 14/18. La Suisse et la Grande Guerre. Baden 2014 : hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, ISBN 978-3-03919-325-7

Hebeisen, Erika; Niederhäuser, Peter; Schmid, Regula (Hrsg.): Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkriegs. Zürich 2014 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1221-8 238 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Erwartungsgemäss hat das 100-Jahr-Gedenken zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen entsprechenden Niederschlag auch in der historiographischen Produktion gefunden: in der klassischen Publizistik, in Ausstellungen und Filmen. Übereinstimmend und zutreffend wird erklärt, dass diese Zeit – eine Periode, keine Epoche – lange Jahre wenig interessierte, weder in der Öffentlich- keit noch in der Geschichtswissenschaft, und darum ein erheblicher Nachholbedarf besteht. Im Folgenden sollen vier Publikationen kurz vorgestellt werden: ein gesamtschweizerisches Werk, zwei kantonale Darstellungen und ein Band aus der französischen Schweiz.

Als Begleitpublikation einer an verschiedenen Orten präsentierten Ausstellung konzipiert, wird der 16 Beiträge umfassende Sammelband von Roman Rossfeld, Thomas Buomberger und Patrick Kury auch in der weiteren Auseinandersetzung mit den Jahren 14/18 eine zentrale Stellung einnehmen. Er bietet einen breiten Überblick über den aktuellen Forschungsstand, das heisst, er vermittelt das gegebene faktische Wissen und das derzeitige Problemverständnis. Wichtig ist den Herausgebern, wie im Vorwort deklariert, die Analyse der über den Nationalstaat hinausgreifenden Austausch- und Interaktionsverhältnisse zwischen der Schweiz und den Krieg führenden Ländern sowie ein Eingehen auch auf die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungskreise. Jakob Tanner betont in seinem einleitenden Beitrag, wie sehr die Realzeit und die nachträgliche Herstellung des Geschichtsbildes dieser Zeit durch transnationale Kräftefelder geprägt waren. Besonders deutlich habe sich dies in der «engen Verklammerung von Exportindustrie und internationaler Vermögensverwaltung» offenbart und bis in die Fiskusgestaltung der föderalistischen Schweiz hineingewirkt (S. 11).

Die Präsentation ist einleuchtend in vier Teile gegliedert: Der erste Teil ist mit Mobilisierung, Grenzbesetzung und nationale Kohäsion überschrieben, er behandelt vor allem zivile Probleme: Vollmachtenregime (Oliver Schneider), Propagandakrieg (Alexandre Elsig), der Graben zwischen deutscher und welscher Schweiz (Alain Clavien); auf die doch zentrale Problematik der militärischen Landesverteidigung wird bloss mit einer sehr speziellen Episode, nämlich der Meuterei auf dem Gotthard, eingegangen (Rudolf Jaun). Im zweiten Teil erhalten die Landesversorgung und die Kriegswirtschaft sowie der Wirtschaftskrieg die nötige Beachtung (Serge Paquier, Roman Rossfeld, Peter Moser). Der dritte Teil ist klassischen, zum Teil aber auch neu verstandenen Themen gewidmet: der Neutralität (Carlo Moos), den humanitären Werken (Cédric Cotter, Irène Herrmann, Thomas Bürgisser) und der Fremdenabwehr (Patrick Kury). Der vierte Teil beschliesst den Band mit einem Kapitel zum Landesstreik (Thomas Buomberger) und mit einem Kapitel zu den späteren Verarbeitungen der tatsächlichen oder angeblichen Erfahrungen der Kriegsjahre (Konrad J. Kuhn und Béatrice Ziegler). Ein im zweiten Teil untergebrachtes, materiell aber besser zum vierten Teil passendes Kapitel kann dank guter Quellenlage aufzeigen, wie eine Familie aus dem Basler Bildungsbürgertum Krieg und Kriegsalltag erlebt hat (Heidi Witzig). Wünschenswert wäre gewesen, zusätzlich und wie angekündet, auch etwas über das Alltagsleben der übrigen, mittelständischen und unterschichtlichen Bevölkerung zu erfahren. Dieses wird aber indirekt in der Schilderung der Anstrengungen im Bereich der privaten Fürsorge und des staatlichen Sozialwesens dennoch beleuchtet (Elisabeth Joris, Beatrice Schuhmacher).

Eine nicht speziell angepriesene, aber praktizierte Qualität mancher Beiträge besteht darin, dass einzelne Bereiche der Jahre 14/18 in einen grösseren Zeitraum eingebettet werden, mit dem Einbezug der Jahre vor 1914 etwa bezüglich der Auslandabhängigkeit in der Nahrungsmittelversorgung, der Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft oder des Engagements im humanitären Bereich. Gleichsam am anderen Ende, also mit Blicken in den Zeitraum nach 1918, erhält man etwa den Hinweis, dass noch im Sommer 1919 russische Militärflüchtlinge im Wallis gesundgepflegt wurden, um sie nachher in den von Frankreich geführten Kampf gegen die Bolschewiki zu entlassen. Und einen grösseren Ausblick gibt der bereits erwähnte Beitrag, der sich mit der geschichtspolitischen Nutzung der Kriegsjahre 14/18 durch die Geistige Landesverteidigung auseinandersetzt. Das war nicht einfach Nachleben, sondern aktive Instrumentalisierung durch die Vermittlung, nicht eines klar konturierten Bildes, sondern einer diffusen und entsprechend flexibel nutzbaren Anschlussstelle.1 Ausblicke vermittelt auch das Kapitel zum Landesstreik, unter anderem mit dem Hinweis, dass die aargauische Sektion des als Reaktion auf den Landesstreik geschaffenen Vaterländischen Verbandes bis heute gegen «fremd Einmischungen in unser staatliches Eigenleben» weiterkämpft.

Die Präsentation der inhaltlich durchwegs substanziellen Beiträge besticht durch die leserfreundliche Strukturierung der Texte, mit den Eröffnungspassagen, die einen kurzen Problemaufriss vermitteln, und andersfarbig unterlegten Einschubtexten. Besonders verdienstvoll ist der reichhaltige Illustrationsteil, der selbst Kennern der Zeit neue Bilder vorlegt. Es hätte dem hohen Niveau der Publikation entsprochen, wenn zur Ikonographie ein eigener Beitrag mitgegeben worden wäre, der die Problematik der Bildquellen speziell reflektiert hätte. Das hätte auch Gelegenheit für Erläuterungen zur politischen Funktion der Karikaturen der beiden hauptsächlich verwendeten Satirezeitschriften Nebelspalter und Arbalète sowie zu dem in der französischen Schweiz offenbar stärker genutzten Postkartenmedium gegeben. 2

Die deutschschweizerischen Herausgeber konnten mehrere Kolleginnen und Kollegen der französischen Schweiz für die Mitarbeit an diesem Band gewinnen. Dies mildert ein wenig das dennoch herrschende Ungleichgewicht in der Bearbeitung des gemeinsamen Forschungsgegenstandes. Sehr zu begrüssen ist, dass der Band, der zugleich ein Musterbeispiel binnenschweizerischer Kooperation ist, auch in einer französischen Version vorliegt. Während in der deutschen Schweiz zahlreiche Anlässe durchgeführt und ungleich mehr Schriften publiziert worden sind, hat es in der Suisse romande nur gerade zu einem grösseren Kolloquium gereicht, in dem die Romands weitgehend unter sich geblieben sind (vgl. unten).

Der vielteilig untergliederte Band bietet am Schluss keinen Versuch einer Synthese und lässt die einzelnen Kapitel weitgehend unverbunden nebeneinander stehen, so dass Leser und Leserinnen sich selbst ein Gesamtbild der Geschichte der Schweiz zwischen 1914 und 1918 machen müssen. Eine der wenigen Ausnahmen verweist auf den Zusammenhang, der aus der Aufnahme von Internierten und der Freigabe von benötigten Importen bestand (S. 277). Eine Synthese hätte möglicherweise zu einer Textgattung geführt, von der man hätte sagen können, sie bediene ein Geschichtsverständnis im Sinne der traditionellen Nationalgeschichte (Kuhn/Ziegler, mit Bezug auf Carol Nater Cartier, S. 383). Es ist aber nicht einzusehen, warum neben dem Interesse für regionale und transnationale Geschichte nicht doch auch weiterhin ein Interesse für die nationale Entwicklung bestehen bleiben soll. Nationale Erzählung muss nicht einfach überwunden, sondern in Kombination mit dem Blick für das Transnationale erfasst werden. Damit verfällt man nicht zwangsläufig einem traditionellen und darum antiquierten Modernisierungs- und Fortschrittsglauben. Jakob Tanner zeigt dies mit seinen Bemerkungen zur Entwicklung des nationalen Steuersystems, das in den Jahren 1914 bis 1918 nur verhalten vorangekommen und dessen Ausbau in den Jahren 1939 bis 1945 vorangetrieben worden sei. Im gleichen Zusammenhang ist auch davon die Rede, dass der schweizerische Sozialstaat nach 1945 mit dem AHV-Obligatorium einen Quantensprung vollzogen habe. Unsere Beschäftigung mit der Schweiz im Ersten Weltkrieg soll durchaus, aber ohne teleologischen Entwicklungsglauben, auch zur Frage führen, welche Fundamentalveränderungen die national gefasste Gesellschaft – teils infolge des Kriegs, teils auch beinahe unabhängig von diesem – erfahren hat, insbesondere infolge der nötig gewordenen Organisationsverdichtung auf allen drei Staatsebenen und der im Rahmen des Vollmachtenregimes umgesetzten und bürokratisch gefassten Interaktionen zwischen Staat und Privatwirtschaft.

Nicht überraschend vermitteln Blicke auf die kantonalen Gegebenheiten eine besonders «vielstimmige und vielgestaltige Geschichte», wie dies im von Erika Hebeisen, Peter Niederhäuser und Regula Schmid herausgegebenen Sammelband festgehalten wird (S. 9). Ob im Kanton Zürich oder in anderen Kantonen zeigen sie auf, wie einzelne Menschen und Personengruppen die Kriegsjahre in ihren unterschiedlichen Lebenslagen und sozialen Positionen erlebt haben. Rahel Herbers Abklärungen zu den Reaktionen auf den Kriegsausbruch zeigen, dass kaum Ängste bestanden, direkt in den Krieg einbezogen zu werden, dass sich aber viele wegen der wirtschaftlichen Konsequenzen des Krieges Sorgen machten. Die bei einem kleinen Teil der Bevölkerung festgestellte Kriegseuphorie wird als Reaktion nach deutschem und österreichischem Vorbild gedeutet (S. 67), sie könnte aber auch einem ureigenen vaterländischen Reflex entsprungen sein. Ein eindrückliches, von Adrian Knoepfli vorgestelltes Beispiel der Selbstorganisation auf kommunaler Ebene ist die in Winterthur im November 1916 lancierte Aktion zur Steigerung der Kaninchenzucht zum Zwecke der Fleischversorgung. Sie war von einer speziellen Kommission getragen, die von einem Schriftsetzermeister präsidiert wurde und der ein Materialverwalter, ein Pfändungsbeamter, ein Büroangestellter, ein Küfermeister, ein Webermeister und ein Giesser angehörten – ausschliesslich Männer (S. 41). Thomas Neukoms Beitrag kann man entnehmen, dass die Grenze ziemlich durchlässig blieb und insbesondere gegen Kriegsende reger Schmuggel betrieben wurde, selbst unter Mitwirkung von Kantonspolizisten und selbst unter Mistfuhren und in Jauchefässern; so gelangten Pfeffer, Kakao, Kaffee, Seife und Gummiwaren nach Deutschland und Kartoffeln, Eier und Butter in die Schweiz. Später kam es zu einem florierenden Stumpenkrieg an der innerdeutschen Grenze; die ganze Grenzbevölkerung sei der Gefahr ausgesetzt gewesen, moralisch zu verderben (S. 92). Ein Grenzzwischenfall, bei dem ein Mann aus der deutschen Nachbarschaft von Schweizer Militärs (freiwilligen Grenzsoldaten) erschossen wurde, offenbarte die Tendenz, sich eher mit der deutschen Zivilbevölkerung als mit dem eigenen Militär zu identifizieren.

Während die Teile Krieg und Wirtschaft, Krieg und Alltag, Krieg und Klassenkampf, Krieg und Erinnerung bereits gegebene Forschungsfelder mit zum Teil durchaus neuen Gesichtspunkten versehen und in jedem Fall vertiefte Kenntnisse vermitteln, erschliesst der Teil Krieg und Kultur einen in Grundzügen zwar ebenfalls bekannten, bisher jedoch wenig bearbeiteten Bereich mit Ausführungen zu den Lebensbedingungen der in Zürich sich zumeist nur vorübergehend aufhaltenden Emigranten, zu ihren Publikationsmöglichkeiten, zu dem, was der Staatsschutz über sie zu berichtet wusste (etwa ob im Konkubinat lebend oder nicht), zu den Aktivitäten der Dadaisten und der Entstehung des Cabaret Voltaire 1916 (Nicole Billeter). Vorgestellt wird hier das frühe Œuvre des später als Kari- katurist bekannt gewordenen Exilrussen Gregor Rabinovitsch, der 1915, gewissermassen Goya weiterführend, mit einer Serie dunkler Graphiken zum Schrecken des Krieges gegen die Verbrechen der Gegenwart protestierte (Jochen Hesse). Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der Welt der jungen Cinématographie, die nach den Wanderkinos die ortsfesten Kinos und nach den einfachen Ladenkinos schnell auch Filmpaläste entstehen liess: in Zürich etwa das Orient (das inzwischen geschlossene ABC). Treffend die Feststellung, dass die visuelle Unterhaltungskultur eine gewisse Affinität zum Krieg hatte, Krieg nicht nur ein bevorzugtes Thema war und das neue Medium selber zu einem Teil des Krieges wurde (S. 148). Eindrücklich wird dies am Beispiel eines deutschen Propagandafilms gezeigt, der von der Gegenseite leicht zum Nachteil seiner Produzenten umgedreht werden konnte (Adrian Gerber).

Auch diese Publikation sorgt mit einer Vielzahl neuer Bildquellen, die mehr als nur Textillustrationen sind, für eine Anreicherung der historiographischen Überlieferung. Wie die gesamtschweizerische Publikation vermeidet auch dieser kantonale Beitrag jede Heroisierung dieser Zeit; er verzichtet aber auch auf zu einfache Kritik aus der Retrospektive. Es genügt ihm, die in der Zeit selber sich manifestierende Kritik sichtbar zu machen. Dazu ein Beispiel: Eine Nebelspalter- Ausgabe vom Sommer 1917 lässt einen Milchlieferanten sagen, dass es ihm recht sei, wenn es noch keinen Frieden gebe (S. 27).

Während die Zürcher Variante der Schweizer Geschichte des Ersten Weltkriegs abgehandelt wurde, ohne die Frage der Repräsentativität für die Schweiz zu stellen und allfällige kantonale Besonderheit anzusprechen (Zürich ist Zürich – und vielleicht auch die Schweiz), stehen am Anfang der Darstellung zum Kanton Basel-Stadt Fragen nach den Besonderheiten dieser Region. Robert Labhardt nennt vor allem drei Aspekte: die grössere Nähe zum Kriegsgebiet und die entsprechende Bedrohung, die darin begründete relative Zurückhaltung in den Parteinahmen und die besondere Betroffenheit der Industriestadt von den Kriegsauswirkungen auf den internationalen Handel. Neben den Ausführungen zu diesen Fragen nimmt das Buch das volle Programm der auch in Abhandlungen zur gesamten Schweiz präsenten Themen auf (wachsende soziale Not, Versorgungsprobleme, humanitäres Engagement etc.). Die Grenznähe der Stadt wirkte sich in vielfacher Weise aus: Man fühlte sich bei Kriegsbeginn besonders bedroht, es gab Fluchtvorbereitungen, wie man sie vom Mai 1940 kennt; man konnte den Krieg leicht wahrnehmen (das berühmte Feuer im Elsass), aber nicht das gewaltige Zerstörungspotential des modernen Krieges; man war dem Elsass – wie schon 1870/71 – besonders verbunden, lieferte täglich 20’000 Liter Milch nach Mülhausen. Deserteure oder Refraktäre aus dem Elsass wurden aber speziell rigoros zurückgeschafft. Über die Weiterführung des kleinen Grenzverkehrs erfahren wir jedoch nichts. Labhardt stellt eine besondere Verbundenheit der Grenzstadt mit der Eidgenossenschaft fest, die einerseits zu einer «gesteigerten Loyalität» führte (S. 64), andererseits aber auch die Klage freisetzen konnte, dass man «das Dasein einer halbvergessenen, vom Bund stiefmütterlich behandelten Provinzstadt, fast ausgeschlossen vom internationalen Blutkreislauf» lebe (S. 154). Im Kapitel zur Basler Chemie erhält dieser Blutkreislauf nur wenig Aufmerksamkeit, und es werden aufgrund von Primärakten vor allem die Spannungen zwischen Kapital und Arbeit dargestellt. Die Basler Arbeit ist alles in allem ein schönes Beispiel dafür, was das 100-Jahr-Gedenken an Erweiterung und Vertiefung unseres Wissens über die Jahre 1914 bis 1918 möglich gemacht hat.

Der Kolloquiumsband der französischen Schweiz wird mit einem Beitrag zur allgemeinen Frage der Funktion des kollektiven Erinnerns eröffnet: François Jequier diskutiert die Licht- und Schattenseiten der Erinnerungskultur und schlägt sich in der Gegenüberstellung von histoire und mémoire erwartungsgemäss und dezidiert auf die Seite der Geschichtswissenschaft. Sie sei die reflexive und fragende Seite, während die Erinnerung auf Fixierung und Sakralisierung angelegt ist. Historiker müssten dem Druck der konkurrierenden Erinnerungsansprüche widerstehen und die «maîtrise du passé» behalten (S. 31). Der von Christophe Vuilleumier, dem Präsidenten der Société d’Histoire de la Suisse Romande, herausgegebene Band präsentiert die 30 weiteren Beiträge in einer dreiteiligen Gliederung, die zwischen der «Suisse humanitaire», der «Suisse tourmentée» und der «Suisse engagée» unterscheidet, wobei die Eigenschaften des Aufgewühlt- und Engagiertseins weitergehend jedem der unterschiedenen Bereiche zugeschrieben werden könnten. Ein viertes Kapitel zu einem inzwischen eigentlich unerlässlichen Bereich wird dagegen nicht präsentiert: Zur Wirtschaft gibt es bloss in der ausführlichen Bibliographie einige Angaben.

Die Beiträge des ersten Teils befassen sich mit einem bereits eingehend bearbeiteten Themenfeld. Sie vermögen aber neue Facetten auszuleuchten. Zwei seien speziell hervorgehoben: Jean-Luc Blondel und Claire Bonnélie ermuntern, das reichhaltige und keineswegs ausgeschöpfte IKRK-Archiv auszuwerten; Patrick Bondallaz beleuchtet die bisher in ihrer Bedeutung verkannten Hilfsaktion für die Opfer des Überfalls auf Belgien. Der Autor betont, dass das Humanitäre mit dem Politischen hier eine enge Verbindung eingegangen ist (S. 75). Die heute noch in der deutschen Schweiz kaum zur Kenntnis genommene Belgienhilfe bildete eine wichtige Basis für die bilateralen Beziehungen der Zwischenkriegszeit.

Im zweiten Teil, der sich vor allem mit den Spannungen zwischen den beiden grossen Landesteilen befasst, leistet Oliver Meuwlys Aufsatz über die Divergenzen innerhalb der grossen Landesparteien einen echten Forschungsbeitrag. Meuwly zeigt auf, wie neben der Einführung des Proporzwahlrechts die gänzliche Übernahme der Verantwortung für das Vollmachtenregime des Bundesrats 1918/19 das Ende der Freisinnigen als breite Volkspartei einläutete (S. 199). Alain Jacques Tornare vermittelt, wie sehr Freiburg in den verschiedensten Bereichen «farouchement et ostensiblement» frankophil gewesen ist (S. 286); besonderes Interesse verdient der Abschnitt, der aufzeigt, dass Freiburger (jedoch kaum einzig aus Frankophilie) den lockenden Arbeitsangeboten aus Frankreich gefolgt sind und dort die Lücken der französischen Mobilisierten gefüllt haben (S. 278). Über die Kriegsjahre hinaus sind Georges Andreys Abklärungen zum Begriff der Romandie von Bedeutung. Dieser taucht offenbar im Herbst 1915 in der Gazette de Lausanne erstmals auf und wird von da an vor allem unter den Kulturschaffen- den zu einer gängigen Bezeichnung (S. 310). Jean-Charles Giroud macht auf die bisher wenig beachtete Bedeutung der Plakate aufmerksam und auf das Paradox, dass die schweizerische Plakatkultur, hochstehend in der Vorkriegszeit, ausgerechnet in den Kriegsjahren, in denen sie gebraucht worden wäre, einen Nieder- gang erlebt. Dem ist allerdings beizufügen: Dieses Manko wurde durch die Post- karten kompensiert, die in der andernorts zugänglich gemachten, von infoclio.ch unterstützten Arbeit von Alexandre Elsig und Patrick Bondallaz ausgewertet worden sind.

Der vor allem den militärischen Problemen gewidmete dritte Teil rekapituliert in den drei Beiträgen von Jean-Jacques Langendorf, Alexandre Vautravers und Hervé de Weck die militärgeschichtlichen Kenntnisse zu den getroffenen Verteidigungsdispositionen und zur verfügbaren Rüstung. Christophe Vuilleumier ruft, gestützt auf das Historische Lexikon der Schweiz, in einem kleinen Beitrag in Erinnerung, dass abgesehen von in Frankreich lebenden Auslandschweizern zusätzlich rund 14’000 Schweizer in den Reihen der französischen Armee (insbesondere der Fremdenlegion) gekämpft haben, diese Tatsache aber im schweizerischen Geschichtsbewusstsein bloss ein Schattendasein fristet («une ombre fugace dans la mémoire helvétique», S. 484). Pikant ist das Detail, dass 1919, am ersten Jahrestag des Kriegsendes, ein Waadtländer Regierungsrat diesen unerlaubterweise in fremden Diensten engagierten Freiwilligen einen offiziellen Dank aussprach. Die in anderen Armeen (insbesondere in der deutschen) kämpfenden Schweizer dürften sich auf Einzelfälle beschränken, wie der in Namibia in den deutschen Kolonialtruppen dienende Konrad Zellweger, Appenzeller Landammann-Sohn, einer war. Maurizio Binaghi zeichnet die Lages des Tessins zwischen schweizerischen Offensivplänen und italienischen Irredentismus-Tendenzen nach. Der Beitrag zeigt in eindrücklicher Weise zweierlei: die alte Besetzungsmentalität, die von der deutschen Schweiz ausging, sowie, damit verbunden, die Geringschätzung gegenüber den Tessinern, die nicht die gewünschte Ordnung aufrechterhalten könnten und einen bestimmten Charakter hätten. Diese Einstellung wurde auch vom Waadtländer Korpskommandanten Treytorrens de Loys mitgetragen, ja gefordert. Im Tessin gab es vor allem vor 1914 Stimmen, welche gegen die Germanisierung des Kantons protestierten. Ob das bekannte Grabenphänomen auch die italienische Schweiz erfasste, muss als nach wie vor ungeklärt eingestuft werden, obwohl es die Meinung gibt, dass die beiden lateinischen Landesteile in dieser Hinsicht eine Einheit gebildet hätten.

1 Dieses Kapitel ist ein Kondensat der ebenfalls von Kuhn und Ziegler herausgegebenen und von Tobias Straumann in der SZG 65/1 (2015), S. 120–122, besprochenen Publika- tion Der vergessene Krieg. Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, Baden 2014.
2 Einen aufschlussreichen Einblick in die Welt der Fotopostkarten gibt der von Peter Pfrunder von der Fotostiftung Winterthur herausgegebene Band Schöner wär’s daheim. Fotopostkarten 1914/18 aus der Schweiz, Zürich 2014.

Redaktion
Veröffentlicht am
24.01.2019
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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