B. Bernet u.a. (Hrsg.): Ausser Betrieb

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Titel
Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz


Herausgeber
Bernet, Brigitta; Tanner, Jakob
Erschienen
Zürich 2015: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rebekka Wyler, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Der Begriff der Arbeit ist in Bewegung geraten. Die Lohnarbeit im Industrie-, Gewerbe- oder Dienstleistungsbetrieb wird durch neue Formen konkurriert. Zunehmend löst sich die vertraglich abgesicherte, auf den Betrieb zentrierte Normalarbeit auf. Diese bildete den Fluchtpunkt eines schweizerischen Kapitalismus, der sich in erster Linie auf Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern stützte. Durch die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre wurde dieses System erschüttert. Schlagworte wie Modernisierungsverlierer und Zweidrittelsgesellschaft machten die Runde. Teilzeitbeschäftigung, Arbeit auf Abruf und Temporärarbeit tragen heute dazu bei, dass das Normalarbeitsverhältnis wieder zur Ausnahme wird. Bernet und Tanner sprechen in ihrem Sammelband von einer Entgrenzung der Arbeit wie auch von der Dezentrierung des Betriebs. Daher auch der mehrdeutige Titel des Sammelbandes und die Feststellung der Herausgeber/-innen, dass Arbeit heute ein Schwundphänomen darstelle, das gleichzeitig omnipräsent sei. Dieses Paradox bildet den Ausgangspunkt des Sammelbandes.

Ein kommentierter fotografischer Vorspann von Eva Lüthi und Thomas Hengartner fächert entlang der Tramlinie zum Flughafen Zürich Arbeitswelten auf und liefert damit einen stimmigen Einstieg ins Thema. Martin Lengwiler erläutert im ersten Beitrag die «Kodifizierung der Arbeit» im 20. Jahrhundert: Diese ist nicht zu trennen von den Institutionen des Arbeitsmarkts und des Bildungswesens sowie vom Zusammenspiel der Sozialpartner. Wer nicht der Norm entsprach, war benachteiligt, was beispielsweise Versicherungsleistungen und Altersvorsorge anging. Carola Togni schliesst mit ihrem Beitrag zur Geschichte der Arbeitslosenkasse, der mit dem Erlass des ersten entsprechendes Gesetzes 1924 einsetzt, hier an: Frauen wie auch Migranten/-innen waren vom Versicherungsschutz teilweise ausgeschlossen oder erhielten geringere Entschädigungen. Aufgrund unterbrochener Erwerbsbiographien hatten sie nicht dieselben Ansprüche wie der – so wollte es die Norm – lebenslang erwerbstätige Schweizer Mann.

Céline Angehrn illustriert die Rolle der Berufsberatung als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft: Ab den 1910er Jahren aufgekommen, sollte sie junge Leute auf eine zu Geschlecht und Schichtzugehörigkeit passende Position befördern. Der Artikel kommentiert Berufsbilder aus den 1940er und 1950er Jahren, die bei der Berufsberatung zum Einsatz kamen. Demgegenüber thematisiert Matthias Ruoss den Ruhestand: Diese dritte Phase des Berufslebens gewann im 20. Jahrhundert an Länge wie auch an Wichtigkeit. Als 1948 die AHV eingeführt wurde, kam es – trotz der niedrigen Beiträge, die vielen Menschen keinen Ruhestand im heutigen Sinn erlaubten – zu Diskussionen über die Gestaltung dieser dritten Lebensphase. Der Artikel weist auch darauf hin, dass der sogenannte Pensionierungsschock längst nicht alle traf und sich der Übergang gerade für Frauen vielfach anders gestaltete.

Iris Blum erläutert Arbeitsweisen von Vertretern, die ihre Produkte im direkten Kontakt an die Hausfrau bringen mussten. Hatten Hausierer lange Zeit einen schlechten Ruf, wurden die Verkäufer der 1930 gegründeten Kosmetikfirma Just nach US-amerikanischem Vorbild geschult. Ihre gesamte Lebensführung sollte eine optimale Berufsausübung und damit auch den kommerziellen Erfolg ermöglichen. Ebenfalls einen eigenständigen Blick auf das Thema Arbeit wirft Marina Lienhard in ihrem Text über die Arbeitsvorstellungen ausgewanderter Tropenschüler, die an der 1943 gegründeten Schweizerischen Tropenschule ausgebildet worden waren. Lienhard untersucht Machtverhältnisse nicht nur mit Blick auf das Andere, sondern auch auf das Selbst: Der Text zeigt, wie die Tropenschüler ihrerseits unter Ausbeutung durch Höhergestellte litten. Urs Germann analysiert Arbeit im Strafvollzug im 19. und 20. Jahrhundert. Diese diente der Besserung und Disziplinierung der Sträflinge, womit die Arbeit (noch mehr als im normalen Arbeitsmarkt) eine moralische Funktion erfüllte: Lasterhafte Lebensweisen waren zu korrigieren, potentielle Arbeitskräfte sollten wieder eingegliedert werden.

Anhand der Konzepte marxistisch orientierter Kunstschaffender der 1970er Jahre, die den handwerklichen Aspekt ihrer Arbeit hervorhoben, untersucht Gioia Dal Molin das Verhältnis von Kunst und Arbeit. Dal Molin widmet sich den Transformationsprozessen des Kulturschaffens, bis hin zu heute gängigen Vorstellungen von Kunstschaffenden als Unternehmer/-innen. Simona Isler thematisiert den Hausfrauenlohn: Teile der neuen Frauenbewegung stellten in den 1970er Jahren die Forderung auf, dass Hausarbeit entlohnt werden müsse. Nur so könne die Struktur kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse entlarvt werden, in denen Produktionsarbeit ohne (unbezahlte) Reproduktionsarbeit nicht denkbar sei. Den Streik als Nicht-Arbeit untersucht Christian Koller: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Arbeitsniederlegungen in der Schweiz ständig zu, bis zum Ersten Weltkrieg werden fast 2500 Streiks gezählt. Nach dem Landesstreik gingen die Zahlen zurück, unterbrochen durch Zwischenhochs in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und in den 1970er Jahren. Koller zeigt, wie für die Streikenden Arbeit grundsätzlich positiv konnotiert war, jedoch sollte diese Arbeit unter bestimmten Bedingungen stattfinden (oder sonst eben nicht stattfinden).

Andreas Fasel untersucht das 1948 durch bürgerliche Frauenorganisationen gegründete Schweizerische Institut für Hauswirtschaft. Zur effizienteren Gestaltung der Hausarbeit prüfte das Institut Haushaltgeräte und fungierte als Anlaufstelle bei Problemen. Was gut gemeint war, erhält im Rückblick einen leicht ironischen Anstrich. Niklaus Ingold und Flurin Condrau befassen sich mit betrieblichen Fitnessprogrammen der 1960er und 1970er Jahre. Neben Präventionsgedanken spielten Überlegungen zur Verbesserung des Betriebsklimas eine Rolle. Während Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Zentrum standen, fand gleichzeitig eine Verschiebung der Verantwortung statt: weg von betrieblichen Umständen und hin zum Individuellen.

Die Frage der Mitbestimmung im Betrieb untersucht Adrian Zimmermann. In den späten 1960er Jahren wurden Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie auch in den Schweizer Gewerkschaften kontrovers diskutiert. 1976 scheiterte die Mitbestimmungsinitiative deutlich an der Urne. Die Krise der 1970er Jahre läutete das Ende des progressiven Aufbruchs rund um 68 ein. Nicole Peter und Anja Suter zeigen anhand von Interviews mit Gewerkschaftsfunktionär/-innen im Ruhestand, wie sich die Gewerkschaftsarbeit seit 1970 verändert hat: Die Zeit der Patrons war vorbei, an ihre Stelle traten Manager, die wenig Erfahrung mit den Eigenheiten der Schweizer Gewerkschaftsbewegung hatten. Ebenso kamen die Gewerkschaftskader, die früher aus den Betrieben stammten, mehr und mehr aus anderen, häufig akademischen Ausbildungsgängen.

In den Augen von Marcel van der Linden ist der gemeinsame Nenner der im Buch versammelten Aufsätze die Thematisierung von Arbeitsformen ausserhalb des Betriebsalltags. Dies mache es gleichzeitig möglich, einen neuen Blick auch auf die Arbeit im Betrieb zu werfen. Denn unter Arbeit verstand und versteht man nicht immer dasselbe: Sind auch Arbeit im Haushalt, Prostitution oder Kriegsdienst Arbeit? Van der Linden definiert Arbeit ganz generell als eine zielgerichtete, bewusste Tätigkeit. Der Sammelband zeigt überzeugend, dass der Arbeitsbegriff breiter geworden ist. Dies, obwohl die Beispiele teilweise etwas zufällig wirken und auch dieser Band nicht alles abdecken kann und will. Es handelt sich um ein umfassendes Werk, worin auch Überraschungen nicht fehlen. Etwas mehr Systematisierung und Kommentierung durch die Herausgeber/-innen wäre denkbar gewesen. Bernet und Tanner kommt das Verdienst zu, das Thema Arbeit im 21. Jahrhundert neu aufgenommen und um zusätzliche Facetten erweitert zu haben.

Zitierweise:
Rebekka Wyler: Rezension zu: Brigitta Bernet, Jakob Tanner (Hg.), Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz, Zürich: Limmat Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 471-474.