R. Wecker u.a. (Hrsg.): Eugenik und Sexualität

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Titel
Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz, 1900–1960


Herausgeber
Wecker, Regina; Braunschweig, Sabine; Imboden, Gabriela; Ritter, Hans Jakob
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Pascal Germann

Die Geschichte der Eugenik in der Schweiz ist seit den 1990er Jahren intensiv historisch erforscht worden. Zahlreiche Untersuchungen haben die Bedeutung von eugenischen Denk- und Handlungsmustern in der Psychiatrie, im Fürsorgewesen und für die Sozial- und Gesundheitspolitik in der Schweiz herausgearbeitet. Dabei liess sich der Befund erhärten, dass Akteure und Institutionen in der Schweiz bezüglich der Entwicklung eugenischer Ideen und Massnahmen eine Vorreiterrolle in Europa spielten. Von den Autorinnen und vom Autor dieses Buches liegen bereits bedeutende Studien vor, die die historische Aufarbeitung der Eugenik massgeblich mitgeprägt haben. Was also vermag der schmale Band Neues zum Thema beizutragen?

Das Buch, das im Rahmen von zwei vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekten entstanden ist, leistet zweierlei: Erstens bieten Einleitung und das ausführliche Schlusskapitel eine interpretative Synthese, die Forschungsresultate zu einzelnen Kantonen und Städten zusammenführt und in den Kontext gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen der Schweiz stellt. Zweitens enthält der Band fünf sorgfältig rekonstruierte Fallstudien zur Geschichte der Psychiatrischen und eugenischen Praxis in der Schweiz. Anhand von Krankengeschichten der psychiatrischen Kliniken in Basel fokussieren sie auf je unterschiedliche Massnahmen, die auf eine Regulierung von Reproduktion und Sexualität abzielten. Die Studien fragen dabei nach der Bedeutung eugenischer Diskurse und Motive und schliessen insofern eng an bereits bestehende Arbeiten mit anderen regionalen Schwerpunkten an. Gleichzeitig erweitern die Beiträge den Analyserahmen, indem sie die Geschichte der Eugenik in sexualitätshistorische Kontexte stellen. So verweisen die Autorinnen und der Autor in der Einleitung auf die bereits bekannte, aber immer noch irritierende Tatsache, dass wichtige Exponenten der Eugenik zugleich Fürsprecher einer sexuellen Liberalisierung waren. Von diesem Befund ausgehend fragt der Band nach den Zusammenhängen, die zwischen eugenischen Bestrebungen und jenen sexualitätshistorischen Entwicklungen bestanden, die zu einer zunehmenden Trennung von Sexualität und Fortpflanzung führten. Dieses Erkenntnisinteresse stellt eine verbindende Klammer der Beiträge dar und erlaubt es, Ambivalenzen der Eugenik in den Blick zu nehmen, die dem Bild der Eugenik als einer ausschliesslich reaktionären, mit rassistischen Ideologien und autoritären Staatsmodellen sympathisierenden Bewegung zuwiderlaufen.

Hans Jakob Ritter und Gabriela Imboden behandeln im ersten Beitrag die Praxis der psychiatrischen Ehefähigkeitsbegutachtung. Diese Gutachtertätigkeit basierte auf dem Eheverbot für Geisteskranke, das 1912 ins Schweizerische Zivilgesetzbuch aufgenommen wurde. Wiewohl die Einführung des Verbots explizit eugenisch motiviert war, finden sich in den psychiatrischen Gutachten kaum eugenische Argumentationen. Wie der Beitrag überzeugend zeigt, war für das Urteil der Psychiater weniger die Erbgesundheit der Nachkommen als ihre geschlechtsspezifisch differenzierte Vorstellung einer verantwortungsvollen Elternschaft ausschlaggebend. Bisweilen attestierten Psychiater eine Ehefähigkeit nur unter der Bedingung, dass eine Sterilisation vorgenommen werde. Mit der Akzeptanz einer «sterilen Ehe» – so argumentiert der Beitrag – konnte der «eugenische Zweck des Eheverbots» besser durchgesetzt und zugleich «sexuelle Bedürfnisse stärker anerkannt» (S. 47) werden als mit einer rigiden Eheverbotspraxis.

Auch Sterilisationsmassnahmen im Kanton Basel-Stadt wurden in der psychiatrischen Praxis nie ausschliesslich eugenisch begründet, wie der darauffolgende, ebenfalls von Ritter und Imboden verfasste Beitrag zeigt. Analog zu Forschungsergebnissen aus anderen Kantonen, wie etwa Bern und Zürich, kommen sie zum Schluss, dass die meisten Sterilisationen in Zusammenhang mit einer Abtreibung erfolgten. Voraussetzung dieser Kopplung war, dass Abtreibungen in Basel-Stadt seit 1919 aufgrund einer psychiatrischen Diagnose legal vorgenommen werden konnten. Psychiater empfahlen aus unterschiedlichen Gründen, die Abtreibung mit einer Sterilisation zu verbinden. Oft verwiesen sie auf die sozialen Umstände der Frauen, sprachen ihnen die Fähigkeit zur Mutterschaft ab oder erhofften sich eine ehestabilisierende Wirkung, wenn Sexualität ohne Angst vor einer neuen Schwangerschaft möglich würde. Wiewohl Frauen nicht selten unter erheblichem Druck standen, ist es bemerkenswert, dass es nicht wenige Frauen gab, die abtrieben und sich gleichzeitig erfolgreich gegen eine Sterilisation wehrten. Der Autor und die Autorin zeigen schlüssig auf, wie sozialhygienische, ökonomische und eugenische Diskurse sowie sexualreformerische Bestrebungen zusammenspielten und dabei einen Raum «sowohl für individuelle Entscheidungen wie für administrative staatliche Zugriffe» (S. 76) eröffneten.

Waren von Sterilisation in erster Linie Frauen betroffen, wurde die Kastration vorwiegend bei männlichen Sexualdelinquenten angewandt, wie ein weiterer von Gabriela Imboden verfasster Beitrag zeigt. Eine enge Verbindung zur Eugenik bestand nur in einer relativ kurzen Phase um 1900, als die Anwendungsfelder der Kastration und der Sterilisation noch nicht klar voneinander getrennt waren. In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich die Kastration als anerkannte Massnahme zur Verbrechensbekämpfung. Zwar fehlten dafür die gesetzlichen Grundlagen, jedoch ermöglichte die Verbindung von Justiz und Psychiatrie die Kastration im Rahmen von Strafverfahren durchzuführen, indem sie als therapeutische Massnahme definiert wurde. Der Beitrag arbeitet anhand von Fallbeispielen heraus, wie Delinquenten bisweilen nur unter Androhung der Verwahrung in die Kastration einwilligten. In geschlechts- und sexualitätshistorischer Hinsicht interpretiert die Autorin den Körpereingriff als eine «paradoxe Herstellung von Männlichkeit» (S. 107), da er auf das bürgerliche Ideal der männlichen Triebbeherrschung abzielte.

Thematisch etwas quer steht der Beitrag von Sabine Braunschweig, der sich einem wenig erforschten Gebiet der Psychiatriegeschichte widmet: dem Umgang mit Sexualität im psychiatrischen Pflegealltag. Ein zunächst einseitig restriktiver Umgang, wie ihn das erst in den 1920er Jahren gelockerte Berufszölibat für Pflegende zum Ausdruck brachte, wurde zunehmend durch regulative Vorstellungen abgelöst, die ein Ausleben von als normal geltender Sexualität ermöglichen sollten. Wie die Autorin argumentiert, haftete der Sexualität aber weiterhin ein «Moment der Gefährdung» (S. 135) an, weshalb die Anstalten stets bestrebt waren, sie in streng überwachten Schranken wie etwa der geforderten Privatheit oder der heterosexuellen Norm zu halten.

Regina Wecker weitet in ihrem Beitrag den thematischen Horizont aus und beleuchtet anhand unterschiedlicher Gebiete Zusammenhänge zwischen Eugenik, Geschlecht und sexueller Liberalisierung. Unter anderem rekonstruiert sie, wie Exponentinnen der Frauenbewegung ihre empanzipativen Vorstellungen von Sexualität und ihre Forderungen nach verbessertem Mutterschutz, nach Verhütung unerwünschter Schwangerschaft und nach legaler Abtreibung nicht selten mit eugenischen Ideen verbanden. Hier zeige sich «das ambivalente Gesicht der Eugenik» (S. 152) besonders deutlich, wie die Autorin feststellt. Die im Beitrag dargestellten Verbindungen zwischen Eugenik, Sexualreform und Frauenbewegung sind zwar nicht neu, werden hier aber zum ersten Mal in ihrer Bedeutung für die Entwicklungen in der Schweiz herausgearbeitet.

Dieser bereits synthetisierende Beitrag leitet gut in das inhaltlich substantielle Schlusskapitel über, das mit einer provokativen These aufwartet: Die Widersprüche und Ambivalenzen, wie sie die in den Beiträgen herausgearbeiteten Verbindungen zwischen eugenischen Kontrollvorstellungen und sexueller Liberalisierung offenbarten, seien «konstitutiv» gewesen «für die Durchsetzungskraft und Stärke der Eugenik» (S. 165). Die Autorinnen und der Autor widersprechen zudem der Annahme, eugenische Vorstellungen hätten im Zuge des Ausbaus des schweizerischen Sozialstaates an Akzeptanz gewonnen. Vielmehr kommen sie zum Schluss, dass gerade die für die Schweiz typische Delegation sozialer Aufgaben an private Organisationen zur langen Kontinuität der Eugenik in der Schweiz beigetragen habe.

So überzeugend solche Argumentationen sind, so lässt sich doch ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen diesen übergreifenden Thesen des Buches und den Ergebnissen der empirischen Fallstudien konstatieren. Während Erstere die Eugenik ins Zentrum des Interesses stellen, relativieren Letztere deren Bedeutung für die konkrete Begründung von Eheverboten, Sterilisationen oder Kastrationen. Anders als der Titel des Bandes suggeriert, weisen die Beiträge weit über einen engen Fokus auf die Eugenik hinaus, wenn die Autorinnen und der Autor die untersuchten Massnahmen in heterogene Kontexte stellen, die von der Verwissenschaftlichung der Armen- und Sozialpolitik, über eine liberalisierte Abtreibungspraxis bis hin zu einer Psychiatrisierung der Kriminalitätsbekämpfung reichen. Es ist gerade eine Stärke der präsentierten Fallstudien, dass sie keine monokausalen Kurzschlüsse produzieren und Deutungen entwickeln, die der komplexen Gemengelage von Motiven, nichtintendierten Effekten und individuellen Handlungsspielräumen Rechnung tragen. Damit leistet der Band einen wichtigen und fundierten Beitrag zur Geschichte der Regulierung, Disziplinierung und Normierung sexuellen und reproduktiven Verhaltens in der Schweiz des 20. Jahrhunderts.

Zitierweise:
Pascal Germann: Rezension zu: Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden, Hans Jakob Ritter, Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz, 1900–1960, Zürich: Chronos, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 469-471.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 469-471.

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