C. Scheidegger: Zwischen den konfessionellen Fronten

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Titel
Zwischen den konfessionellen Fronten. Schriften des Buchhändlers und Schwenckfelders Jörg Frell (um 1530-um 1597) von Chur


Autor(en)
Scheidegger, Christian
Reihe
Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 29
Erschienen
Chur 2013: Desertina
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jan-Andrea Bernhard

In der Täuferforschung ist Christian Scheidegger, stellvertretender Leiter der Abteilung Alte Drucke und Rara, Zentralbibliothek Zürich, kein unbekannter. Bereits verschiedentlich hat er sich vor allem durch Studien zur Zürcher Täuferforschung hervorgetan. Hier legt er eine umfassende Quellenedition der gedruckten und handschriftlichen Quellen des Buchhändlers und Schwenckfelders Jörg Frell aus Chur vor.

Anlass der Edition war vor allem das Aufspüren von bislang weitgehend unbekannten Schriften aus der Hand von Jörg Frell, deren drei, die wohl massgebendsten, im Staatsarchiv Graubünden aufbewahrt werden.

Scheidegger macht zur Edition eine knappe Einleitung, in der in einem ersten Teil der Forschungsstand zu Frell (S. 9–11) und das Leben Frells (S. 11–19) vorgestellt werden. Scheidegger stützt sich dabei stark auf die autobiographischen Teile in Frells Nachlass und seinen Verfolgungsbericht, auf den erhaltenen Briefwechsel der Churer Pfarrer mit Bullinger sowie auf weitere Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz. In diesem Rahmen wird unter anderem die Distanzierung Frells von den Täufern und die Hinwendung zu den Schwenckfeldern um das Jahr 1564 (S. 13f.) vorgestellt. Es folgt ein allgemeiner Teil zu den religiösen Dissidenten in den Drei Bünden, in dem skizzenhaft das Wirken verschiedener Täufer und Dissidenten nördlich und südlich der Alpen dargestellt wird (S. 19–29). Als nennenswerte Erkenntnis resultiert daraus, dass sowohl zwischen den Täufern als auch zwischen den Schwenckfeldern ein grosses Beziehungsnetz bestand, das die bündnerischen Landesgrenzen deutlich sprengte. Allerdings war das längere Wirken dieser Dissidenten beziehungsweise Nonkonformisten auch darum möglich, weil die Landesgesetze Bündens relativ tolerant, das heisst frei von Inquisition waren.

Schliesslich stellt der Verfasser das schriftliche Werk von Frell vor. Die dazu verfassten einleitenden Bemerkungen versuchen den Theologen Frell zu orten (S. 29–32). Daraus resultiert, dass Frell kein sogenannter Schwärmer, doch aber sehr biblizistisch und spiritualistisch war. Er arbeitete kompilatorisch, das heisst dass er, unter steter Zuhilfenahme der Bibel, Schriften verschiedener Theologen heranzog und verband. Dabei ist nicht nur an Schwenckfeld oder Sebastian Franck zu denken, sondern auch an Erasmus, Leo Jud oder Thomas a Kempis. Zentral scheint auch der Frell’sche Dualismus vom äusseren Wort (Reden der Bibel) und inneren Wort (Reden des Heiligen Geistes nach der Wiedergeburt). Nach der Vorstellung der einzelnen edierten Handschriften und Drucke sowie der Editionsrichtlinien (S. 33–45) werden schliesslich die Texte – mit Ausnahme der Autobiographie, die Vasella bereits 1942 herausgab – ediert (S. 47–383). Es sind dies: Familien- und Andachtsbuch (S. 49–140), Verfolgungsbericht (S. 143–219), Einleitung zur Familienbibel (S. 225–242), Versgebete (S. 245–249), Ein schön lieblich Gespräch (S. 253–263), Klage Gottes (S. 267–277), Sechsundreissig Zeichen (S. 281–308), Geistliches Abc für Schüler Christi (S. 313–317), Unterschied des inneren und äusseren Wortes (S. 321–326), Notwendige Vermahnung (S. 329–342), Von den friedsamen Reich Christi (S. 345–356) sowie Lieder nach Frells Reimpaargedichten (S. 359–383). Letztere Lieder hat Ute Evers bearbeitet, und sie sind nicht nur eine sehr wertvolle Vervollkommnung der Edition von Frells nachgelassenen Schriften, sondern auch Hinweis darauf, dass Frell viele seiner Texte in Reimform verfasst hat, so zum Beispiel den Verfolgungsbericht mit einem 84-strophigen Lied beendete (S. 206–219). Es folgen Literaturverzeichnis (S. 385–391), Orts- und Personenregister (S. 393–396) und das Abbildungsverzeichnis (S. 397–416), das mehrere Handschriften und Drucke präsentiert, ergänzt durch weitere Darstellungen.

Natürlich kann im Rahmen dieser Rezension das sehr facettenreiche Werk nicht angemessen gewürdigt werden. Gerade bei einer Edition ist dies umso schwieriger, weil es sich dabei nicht primär um Geschichtsschreibung handelt, sondern um einen grundlegenden Beitrag zur weiteren Erforschung von Frell und seinem Umfeld. Scheidegger macht durch die vorliegende Edition – und dies ist besonders löblich – denn auch fast alle, teilweise mühsam gefundenen Schriften von Jörg Frell zugänglich und hat damit ein Werk geschaffen, an dem kein Täufer- und Schwenckfeld-Forscher mehr unbedacht vorbeigehen kann. Die dazu verfasste Einleitung ist natürlich dementsprechend nur bedingt ein Forschungsbeitrag. Die Edition selbst ist sehr sorgfältig aufgebaut. Als Marginalie finden sich einerseits die Foliierung und die – für die Zitierung wichtigen – Zeilenangaben, andererseits handschriftliche Marginalien, die Frell selbst eingetragen beziehungsweise drucken lassen hat. Letztere sind einerseits Bibelstellen, andererseits knappe Zusammenfassungen zentraler Theologica oder andere Hinweise beziehungsweise Verweise auf Literatur (z.B. S. 109, 190 etc.). An der Fusszeile sind zwei Apparate gedruckt: einerseits der textkritische Apparat, der alle urchstreichungen, Ergänzungen et cetera anführt, andererseits ein Apparat, der Worterklärungen liefert, von Frell benutzte Quellen ergänzt, wirkungsgeschichtliche Bemerkungen beinhaltet, weitere Bibelstellen anführt sowie personen- und literaturspezifische Angaben macht. Der zweite Apparat offenbart, obwohl er knapp gehalten ist, immer wieder, dass der Verfasser die Materie ausnehmend kennt und er dadurch eine wirklich bewundernswerte Gesamtschau ermöglicht. Immer wieder wird auf Abhängigkeiten, Parallelen und Beziehungen innerhalb der Schriften Frells verwiesen (z.B. S. 63, 241, 273, 348 etc.).

Trotz dieser grundsätzlich bemerkenswerten Edition der Schriften von Frell zeigt das Werk auch Grenzen. In aller gebotenen Kürze sollen einige davon genannt werden: Abgesehen, dass hin und wieder massgebende Literatur- bzw. Quellenangaben fehlen, offenbart sich im Abschnitt über die religiösen Dissidenten, dass der Verfasser der (Konfessions-)Geschichte Bündens zum Teil nicht en détail kundig ist. Es ist nicht immer klar, dass Chur nur Bundstagsort, also mit Zürich nicht vergleichbar war und überhaupt keine Führungsstellung in den Drei Bünden innehatte – wenn schon, dann war dies Ilanz, wie Bundi aufgezeigt hat. 1 Dies illustriert auch, dass beim Vergleich der Konfessionsgeschichte Bündens mit derjenigen anderer Orte der damaligen Schweiz Vorsicht geboten ist. Die Inbezugsetzung des Gantnerhandels zur «politischen Grosswetterlage» (S. 26) im Umgang mit Andersgläubigen greift denn auch ins Leere, weil in den Drei Bünden die Reformation eben gerade nicht mithilfe der weltlichen Obrigkeit durchgesetzt wurde. Der daraufhin folgende Überblick über die reformatorische Emigration aus Italien, basierend auf Bonorand, ist zwar löblich, greift aber zu kurz, wenn nur einige scheinbar exemplarische Namen genannt werden. Die Thematik ist viel zu komplex – handelt es sich doch um etwa 800 reformatorische Emigranten, darunter viele Nonkonformisten –, vor allem aber stehen die Italiener nur bedingt in einer direkten Beziehung zu täuferischen Kreisen nördlich der Alpen. Umso mehr wären beim entscheidenden Jahr 1571 profundere Ausführungen wünschenswert gewesen, zum Beispiel zur Bedeutung von Mino Celsi oder zu Girolamo Turriani und der nonkonformistischen Gemeinde in Plurs.

Am bedauernswertesten ist wohl aber, dass der Verfasser es unterlassen hat, obwohl er darauf verweist, beim Verfolgungsbericht beziehungsweise bei den diesbezüglichen Ausführungen zum Jahre 1571 und zur damaligen Synode in Chur das betreffende Synodalprotokoll beizuziehen, das im Staatsarchiv Zürich (E II 381, 1270–1278) und in der Zentralbibliothek Zürich (S 124, Nr. 68–70) greifbar ist. Die zumindest in Anmerkungen referierte Inbezugsetzung wäre besonders zu begrüssen gewesen, da damit eine breitere Basis für weitere historische Forschungen zum Gantnerhandel gelegt worden wäre.

Die kritischen Bemerkungen sollen aber mitnichten den Wert und die Qualität der vorliegenden Edition schmälern. Die Schriften zu Frell liegen nun vor, so dass der geneigte (Kirchen-)Historiker Jörg Frell auch theologiegeschichtlich in allen Feinheiten untersuchen kann. In jedem Fall wird sich zeigen, dass die erkömmlichen Zuordnungen Konformismus und Nonkonformismus beziehungsweise orthodox und häretisch auch dogmengeschichtlich zu überdenken sind. Bezeichnenderweise benutzte ja Frell in seinem Familien- und Andachtsbuch vor allem Gebete aus Des Leidens Jesu Christi Historia (Zürich 1534) von Leo Jud, Pfarrer am St. Peter in Zürich.

1 Vgl. Martin Bundi, Zur Führungsrolle des Grauen Bundes und der Stadt Ilanz in der frühen Reformbewegung Graubündens, Zürich 2012 (Zwingliana 39), S. 23–50.

Zitierweise:
Jan-Andrea Bernhard: Rezension zu: Christian Scheidegger, Zwischen den konfessionellen Fronten. Schriften des Buchhändlers und Schwenckfelders Jörg Frell (um 1530 – um 1597) von Chur, Chur: Desertina-Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 458-460.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 458-460.

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