S. Steiner: Die schweizerische Militärjustiz 1914–1921

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Titel
Unter Kriegsrecht. Die schweizerische Militärjustiz 1914–1921


Autor(en)
Steiner, Sebastian
Reihe
Die Schweiz im Ersten Weltkrieg (4)
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
CHF 68.00 / € 68.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Béatrice Ziegler, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz

Sebastian Steiner befasst sich in Unter Kriegsrecht mit einem Aspekt der Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg, der bislang kaum in den Fokus der historischen Forschung gelangt ist, obwohl die Frage der Militärjustiz in der zeitgenössischen Öffentlichkeit durchaus kontrovers diskutiert wurde: So kritisierte die Sozialdemokratische Partei sie als Klassenjustiz und verlangte schließlich ihre Abschaffung. Selbst die Tatsache, dass Ende der 1970er-Jahre aufgrund der Thematisierung von Todesurteilen während des Zweiten Weltkriegs im Film „Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.“1 eine heftige Kontroverse über die Militärjustiz geführt wurde, führte nicht dazu, dass sich die historische Forschung dem Thema auch für die Zeit des Ersten Weltkriegs zuwandte.

Die vorliegende Studie nimmt sich diesem nun umso umfassender an: So werden Entstehung und Entwicklung der Militärjustiz ebenso wie ihre Konzeption vor dem Ersten Weltkrieg untersucht und in ein Verhältnis zur Ausarbeitung des zivilen Strafrechts gesetzt. Ihre quantitative Bedeutung in der Untersuchungsperiode wird erfasst bzw. eingeschätzt und kommentiert. Vor allem aber wird die Entwicklung der Militärjustiz im militärischen, sozialen und politischen Kontext während des Ersten Weltkriegs analysiert, die Kategorien der geahndeten Delikte werden systematisch und quantitativ eingeordnet. Entstanden ist die Darstellung eines äußerst komplexen Geflechts von sich verändernden Einflussfaktoren und -kräften. Die Dissertation positioniert sich auch im Verhältnis zu den transnationalen Perspektiven, die für das Projekt, in dem sie entstand, zentral waren.2 Dies, obwohl sie sich für die Analyse und Darstellung des Themas vorerst als nicht vorrangig erwiesen, auch wenn der Vergleich mit anderen Lösungsansätzen in anderen nationalen Rechtssystemen zuweilen vertiefende Einsichten ermöglichte.

Die historische Forschung zum Militärstrafrecht generell und insbesondere während des Ersten Weltkriegs ist erratisch. So ist denn auch die Liste des Autors zu den Feldern, in denen er Forschungslücken aufreiht, lang. Dass das Thema bislang vernachlässigt wurde, so stellt er fest, dokumentiere sich auch in seiner mageren Darstellung im „Historischen Lexikon der Schweiz“ bzw. in dessen Lücke bei den Verhältnissen im Ersten Weltkrieg.3 Die fehlende Aufarbeitung mag zum einen daran liegen, dass die Anforderungen an die Analyse eine eigentliche interdisziplinäre Zugangsweise erforderten4, indem juristische Betrachtungsweisen des Strafsystems, seiner Zielsetzungen sowie der Kategorisierungen von Delikten einbezogen werden mussten. Zum anderen sollte aber auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Strafwürdigkeit einer Handlung gesellschaftlich ausgehandelt wird und sich im Wandel der Zeit verändert. Um hier zu Aussagen zu gelangen, braucht es eine kulturanalytisch sensible Untersuchung bzw. eine gesellschaftsgeschichtliche Analyse5, die der Tatsache der starken Politisierung der Militärjustiz im Ersten Weltkrieg Rechnung tragen kann. Ein weiterer Grund mag in den überaus großen Quellenbeständen liegen und in der Schwierigkeit, sie und ihre Aussagemöglichkeiten zueinander in Bezug zu setzen – eine Herausforderung, der sich Sebastian Steiner mit einem sorgfältig dokumentierten Vorgehen stellt.

Für die Geschichte der Militärjustiz vor dem Ersten Weltkrieg führt der Autor vor allem zwei Elemente aus, die großen Einfluss auf das diesbezügliche Geschehen in der Untersuchungsperiode nahmen: zum einen der Sachverhalt, dass der Bundesstaat noch nicht mit einem zivilen Strafrecht ausgestattet war, die Verständigung über elementare Voraussetzungen und Strukturen des Strafens demnach nicht vorhanden war, zum anderen, dass das Militärstrafgesetz nicht nur sehr alt war, sondern auch anerkanntermaßen drakonische Strafen beinhaltete.

Die quantitativen Auswertungen führen Steiner zu einer verdichteten Darstellung der Entwicklung der Militärjustiz ab 1914, indem er festhält, dass deren Tätigkeit gegenüber der Vorkriegszeit unverändert hoch blieb, dass aber bezüglich der Anzahl der Vorgänge wie auch der Verteilung und Struktur der Delikte starke Schwankungen feststellbar sind. Bedeutsam scheint auch sein Befund, dass zivile Personen überaus zahlreich involviert waren, teilweise sogar die Mehrheit der Verurteilten darstellten. Er schließt insgesamt, dass sich gegenüber der Vorkriegszeit eine starke Militarisierung des Strafrechtssystems feststellen lässt, insbesondere, weil sich das Militärjustizwesen stark ausweitete.

Anschließend an diese allgemeinen Schlussfolgerungen nimmt der Autor eine Phaseneinteilung der Entwicklung vor: Er stellt zwischen 1914 und 1915 eine enorme Expansion des Militärstrafrechtssystems in quantitativer wie qualitativer Hinsicht fest. Für eine zweite Phase spricht er von einer „Rekalibrierung“ (1916–1917). Diese wurde nicht zuletzt vorgenommen, weil die Militärjustiz an ihre Grenzen stieß und sich deshalb wieder verstärkt auf eigentlich militärische Straftatbestände einschränkte und damit auch eine Entpolitisierung einleitete. Die dritte Phase brachte nach Steiner eine starke Repolitisierung des Militärjustizsystems, indem ab 1918 ihr Wirkungskreis wieder stark und häufig über Notverordnungen erweitert wurde und eine deutlich zunehmende Zahl von Zivilisten betraf. Da 1921 die Initiative zur Abstimmung kam, die die Militärjustiz abschaffen wollte, weitet der Autor seine Untersuchung bis zu diesem Jahr aus: Die ersten Nachkriegsjahre standen im Banne der Verfolgung von Delikten, mit der die Beteiligung am Landesstreik geahndet wurde und die dann auch für den Abstimmungskampf instrumentalisiert wurde.

Für die Verdeutlichung der drei Phasen und im Sinne einer Tiefenbohrung wählte der Autor jeweils einen Fokus, den er inhaltlich diskutiert: So gelangen vor allem die Pressezensur (Fokus I), die Dienstverweigerung (Fokus II) sowie die Landesstreikprozesse (Fokus III) in den Blick. Diese Tiefenbohrungen charakterisieren inhaltlich auf der Ebene der Gerichtsfälle die jeweilige Phase, auch wenn die Arten von Vergehen immer vielfältiger auftraten. Mit dem inhaltlichen Fokus gelingt es, die gesellschaftliche Entwicklung in der Militärjustiz mit wichtigen Typen von Vergehen zu verbinden.

Die Arbeit hätte es verdient, eine dezidiertere sprachliche Schlussredaktion zu erhalten, denn stellenweise ist die Darstellung etwas umständlich und anstrengend zu lesen. Umso mehr überzeugt die Studie jedoch in ihrer Bewältigung und Strukturierung eines überaus weiten Feldes, sodass wichtige Erzählstränge nachvollziehbar und für weitere Arbeiten nutzbar werden. Wie der Autor selbst betont, wäre das von ihm genutzte Material noch unter verschiedenen Aspekten weiter auswertbar. Die Studie wird dafür eine wichtige Orientierungshilfe leisten.

Anmerkungen:
1 Richard Dindo / Niklaus Meienberg, 1976, https://www.swissfilms.ch/de/film_search/filmdetails/-/id_film/8AA9070540B749048A79F2B90F72B355 (09.05.2019).
2 Die Schweiz im Ersten Weltkrieg. Transnationale Perspektiven auf einen Kleinstaat im totalen Krieg. Sinergia 141906, http://p3.snf.ch/Project-141906 (10.06.2017).
3 Vgl. Steiner, S. 16. Der HLS-Eintrag datiert von 2009; https://beta.hls-dhs-dss.ch/de/articles/009618/2009-11-10/ (09.05.2019).
4 Zum Begriff „interdisziplinär“ vgl. Béatrice Ziegler, Politische Bildung im fächerübergreifenden Unterricht. Gefestigte Perspektiven und fachliche Konzepte als Grundlage, in: Sabine Manzel / Monika Oberle (Hrsg.), Kompetenzorientierung – Potenziale zur Professionalisierung der Politischen Bildung, Wiesbaden 2018, S. 35–46.
5 Der Autor bezieht sich sich dabei auf eine Vorreiterstudie von Oswald Überegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (Tirol im Ersten Weltkrieg 1), Innsbruck 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
23.05.2019
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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