E. Arens u.a. (Hrsg.): Integration durch Religion?

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Titel
Integration durch Religion?. Geschichtliche Befunde, gesellschaftliche Analysen, rechtliche Perspektiven


Herausgeber
Arens, Edmund
Erschienen
Zürich 2014: Pano Verlag
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jeannette Behringer

Spätestens seit den Anschlägen auf die Redaktion des französischen Satiremagazins «Charlie Hebdo» im Januar 2015 ist die Rolle und Bedeutung von Religion in europäischen Gesellschaften auf schmerzhafte Weise erneut ins öffentliche Blickfeld gerückt. Der öffentliche Tenor in zunehmend säkularisiert erscheinenden Gesellschaften scheint zu sein, dass Religion nicht nur nicht zu gesellschaftlicher Integration beiträgt, sondern diese gar gefährdet oder kontraproduktiv wirkt. Implizit oder explizit beziehen sich diverse Aussagen dabei auf die Rolle «des Islam». Und während die einen die Debatte um die Rolle der Religion verweigern – Terror habe mit Reli¬gion nichts zu tun –, fühlen sich die anderen in ihrer kritischen Einschätzung von Religion bestätigt und reagieren mit einer vehementen Forderung nach Zurückdrängen «der Religion» aus «modernen» Gesellschaften.

Der vorliegende Aufsatzband ist allein schon deshalb eine unverzichtbare Lektüre für alle Interessierten, die diese Fragen umtreiben, da das (Spannungs)Verhältnis zwischen Religion und Integration aus interdisziplinärer Perspektive beleuchtet wird. Der Band, der aus einer Tagung im Rahmen des an der Universität Luzern bestehenden Forschungsschwerpunkts «Religion und gesellschaftliche Integration in Europa» hervorgeht, thematisiert die Frage, welche Rolle Religion und Religionen heute für die soziale und politische Integration in den Ländern Europas spielen. Antworten auf diese Frage werden in drei thematischen Kapiteln gegeben. Der erste Teil widmet sich dem Thema der Integrationsleistungen von Religion. Der Blickwinkel auf diese Frage geschieht vor der Annahme, dass soziale Integration eine der zentralen Anforderungen sich ausdifferenzierender Gesellschaften darstellt. Jörg Stolz und Fabian Huber klären in ihrem Beitrag zunächst die Kategorie der Integration aus der Perspektive der erklärenden Soziologie, die sich der Frage nach der «guten» oder «schlechten» Integration verweigern muss. Vielmehr definieren sie Dimensionen der Integration (kulturelle, strukturelle und rechtliche Position sowie Interaktion und Identifikation) und zeigen anhand zweier Indikatoren (das Beherrschen einer Nationalsprache sowie der Akzeptanz von Homosexualität) zum Teil überraschende Ergebnisse bezüglich der Integration konfessioneller Gemeinschaften. Gerd Pickel thematisiert vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung von freiwilligem Engagement die Rolle von religiösem Sozialkapital für die Integration moderner Gesellschaften. Auf zweifache Weise sei dies ein unterschätztes Thema: In Zeiten einer sich verändernden Religiosität zeigen sich religiöse Motive vielfältig auch im freiwilligen Engagement, sei es als Motivation (auch ausserhalb von Kirchgemeinden) oder als Ausdrucksform, indem Engagement im Rahmen kirchlicher Infrastrukturen stattfindet oder in Beziehung zu einer Kirche steht. Die Mitarbeit in diesen «faithbased Netzwerken» ist im europäischen Vergleich besonders hoch, wo Modernisierung und Wohlfahrt am weitesten vorangeschritten sind. Die Bedeutung religiösen Sozialkapitals für gesellschaftliche Integration liegt in der Herausbildung sozialen Vertrauens. Daraus ergibt sich für Pickel die Anforderung an Kirchen, sich wesentlich stärker mit freiwilligem Engagement in Bezug auf die Rückwirkung auf eigene Strukturen auseinanderzusetzen. Antonius Liedhegener frägt nach der Rolle von Religion im Hinblick auf soziale Integration – der Eingliederung von Einzelnen, Gruppen oder Teilsysteme in übergeordnete Systeme – sowie auf systemische Integration – der Beleuchtung von Beziehungsmustern zwischen Teilsystemen sowie der daraus folgenden (In)Stabilität von Gesamtsystemen. Liedhegener entwirft ein theoretisches Modell, das Religion als einen möglichen Teilaspekt einer latenten moralischen und kulturellen Unterstützungsstruktur in der Gesellschaft sieht. Diese Struktur ist wiederum Teilbereich dreier zentraler Modi gesellschaftlicher Integration: der gegenseitigen Abhängigkeit der Teilsysteme einer Gesellschaft, eines minimalen Wertekonsenses sowie politischer Integration, die durch das politische System geleistet wird. Inwiefern jedoch Religionen angesichts religiöser Pluralität überhaupt einen Beitrag zu einem Wertekonsens leisten können, untersucht die Politikwissenschaftlerin Tine Stein. Am Beispiel der Menschenrechte untersucht sie das Potenzial für einen overlapping consensus Rawlʼscher Prägung. Vor dem Hintergrund seiner Auffassung, dass auch umfassende Lehren, z.B. Religionen, unter bestimmten Bedingungen Teil einer weiten Sicht öffentlicher Vernunft sein können, stellt sie die Frage, inwiefern diese etwas zu einem universalistischen Verständnis der Menschenrechte beitragen können. Anhand verschiedener interreligiöser, globaler Projekte arbeitet sie die Wirkung für einen Menschenrechtsdiskurs heraus. Dieser bleibt aber gebunden an die grundsätzliche Anerkennung der Säkularität politischer Ordnung, an den Willen und die Fähigkeit zur Selbstreflexion im Umgang mit Wahrheitsansprüchen und entsprechender Entwicklungsfähigkeit.

Der zweite Teil des Bandes thematisiert die Integrationswirkungen religiöser Traditionen. Verena Lenzen erläutert die neuzeitliche Integrationsgeschichte des Judentums zwischen Assimilation, Identität und Emanzipation. Zentral auch für heutige Integrationsdebatten ist die Bewertung des Prozesses als Akkulturation, der Integration nicht nur als Anpassungsleistung an gesellschaftliche Normen und Praktiken benennt, sondern Integration auch als Bewahrung autonomer Räume und Entstehung gesellschaftlicher Innovation, gar als Motor der Modernisierung, begreift. Wilhelm Damberg schliesst mit seinem Beitrag über die Entwicklung des Katholizismus im 18. und19. Jahrhundert an und beschreibt die Rolle der katholischen Kirche nach der französischen Revolution sowie der Zeitenwende von 1803/1815 nicht als nachholende Modernisierung, sondern (auch) als kluge KoProduktion gesellschaftlicher Entwicklung von Staat und Kirche. Paul Nolte knüpft an diese grundlegende Einschätzung an, indem er den Wandel von Religion der Nachkriegszeit als zivilgesellschaftliche Ressource beschreibt. In drei Phasen zeichnet er die Funktion von Kirche als Integrationsspenderin, als Mitgestalterin von Konflikt und Dissens im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen sowie seit 1990 als Teil einer multireligiösen Realität, die Integration und Konflikt neu miteinander verknüpft. Zweifach, so Nolte, profitiert Religion von postmodernen Entwicklungen im Sinne von «moralisch inspirierten Gemeinschaften in einer pluralistischen Gesellschaft des Engagements»: sie ist Spezialistin für Bewertungsfragen, die in Aushandlungsprozessen gefragt ist; und sie ist Trägerin von Verantwortung im Sinne einer Sorge um die Nächste oder den Nächsten. Vor dem beschriebenen Hintergrund der Postmoderne untersucht Daria Pezzoli-Olgiati die Rolle des Spielfilms angesichts multi-religiöser Strukturen. Das sozial Imaginäre ist dabei eine Kategorie, die Erfindung einerseits und gesellschaftliche Realität andererseits repräsentiert und integriert; sie interagiert mit der kulturellen Praxis Film. Am Beispiel der Stellung von Yasmin, einer Britin mit pakistanischen Wurzeln, wird die Suche des persönlichen Wegs der Integration zwischen reflektiertem Umgang mit der eigenen Herkunft, einem eigenen Verständnis der Geschlechterrolle und den Anforderungen der britischen Gesellschaft verdeutlicht.

Im dritten Teil werden Fragestellungen bezüglich dem Potenzial rechtlicher Regelungen von Religion hinsichtlich einer integrativen Wirkung verdeutlicht. René Pahud de Mortanges erörtert Entwicklungen, die mit einer zunehmenden Multireligiosität in Bezug auf Integration an das Rechtssystem, genauer: an das religionsverfassungsrechtliche System gestellt werden. Mortanges führt den Begriff der Inkorporation anstelle des Integrationsbegriffs ein, der eine mehrstufige Wechselwirkung zwischen Rahmenbedingungen und Eingliederung einfängt. Das Inkorporationsregime der Schweiz ist, so arbeitet der Autor heraus, religionsplural, und es ist eine Antwort auf die multireligiöse Landschaft. Die sachgerechte Ausgestaltung wird allerdings jeder Inkorporation von religiösen Gemeinschaften gerecht. Während es für die etablierten Grosskirchen gut abschneidet, besteht Handlungsbedarf für kleinere Religionsgemeinschaften und muslimische Gemeinschaften. Rechtliche Anerkennung wird in der Schweiz durch die direktdemokratischen Mitsprachemöglichkeiten verzögert. Musliminnen und Muslime werden als nichtintegriert wahrgenommen, hinzu kommt eine geringe Einbürgerungsquote. Multireligiosität birgt jedoch auch Konfliktpotenzial, auch wenn, wie Gerhard Robbers ausführt, alle grossen Religionen normativ getragen sind durch eine Friedensethik und durch religiöse Toleranz. Die wichtigste Präventivregelung für religiöse Konflikte ist eine umfassende Religionsfreiheit. Gleichwohl ist die Frage, welche Haltung oder welches Verhalten noch durch Religionsfreiheit gedeckt ist und wo Missbrauch des Rechts zum religiösen Bekenntnis vorliegt. Hier sind, so Robbers, aus guten Gründen die rechtlichen Grenzen eng gezogen. Dennoch: Die verfassungsmässig garantierte Religionsfreiheit ist vorbehaltlos, jedoch nicht schrankenlos. Nur wenn Demokratie und Rechtsstaat begründet und in ihren Grundlagen gefährdet erscheinen, erlaubt das Recht Eingriffe in dieses hohe Gut. Der Band schliesst mit einem Blick auf die internationale Situation. Heiner Bielefeldt erläutert die Religionsfreiheit als Menschenrecht, das im Kernbestand sowohl positive wie negative Freiheit umfasst – zu glauben oder nicht zu glauben, in jedem Fall und immer selbstbestimmt zu handeln – und die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. An verschiedenen Beispielen erläutert er Missverständnisse, die den beschriebenen Kernbestand der Religionsfreiheit gefährden, zum Beispiel Missinterpretationen um Neutralität oder Säkularität des Staates. Religionsfreiheit bedeutet für staatliche Instanzen vielmehr, eine aktive Politik der Offenheit, Inklusion und Nicht-Diskriminierung zu verfolgen, die in pluralen und multireligiösen Gesellschaften das Recht auf Religionsfreiheit auf individueller Ebene gewährleistet. Es enthält das Paradox für staatliche Akteure, in aktivem SichEinlassen auf religiöse Pluralität gleichzeitig Zurückhaltung zu deren Regulierung zu üben, um den grösstmöglichen Freiheitsraum für Individuen und ihre Bekenntnisse zu ermöglichen. Bielefeldt macht deutlich, dass als implizite Grundlage der Religionsfreiheit stets die gegenseitige Anerkennung als Subjekte möglicher Verantwortung steht, die Grundlage aller Formen von Kooperation oder mindestens des Respekts sind.

Integration durch Religion ist ein unverzichtbares Konvolut für all jene, die in wissenschaftlichen, transdisziplinären oder praktischen Zusammenhängen arbeiten und mit religionssoziologischen, politologischen, juristischen, kulturellen, politischen und ethnischen Fragestellungen und Lösungen befasst sind. Der Blick auf die Bedeutung von Religion und Religionen in der modernen Gesellschaft eröffnet für manche ein überraschend positives Bild auf ihre – unter bestimmten Bedingungen – hohe Integrationsleistung in vermeintlich säkularen Gemeinschaften. Insbesondere Beiträge zum religiösen Sozialkapital, zur Darstellung religiöser Identität im Film oder auch zum overlapping consensus könnten konkrete Denkanstösse für Kirchen und Religionsgemeinschaften sein, nicht nur interkonfessionell sondern auch brückenschlagend weit stärker als bisher in Öffnung oder Kooperation zu denken – und sich damit auf der Basis der Religionsfreiheit weniger nur um die eigene Konfession oder Weltanschauung zu sorgen, sondern sich mit anderen Gemeinschaften stärker an der Transparenz und Bedeutung von Religion in und für eine Gesellschaft einzusetzen. Gewünscht hätte man sich in der Debatte auch genuin theologische Beiträge, die den aktuellen Stand um einen interreligiösen Diskurs nachzeichnen. Zudem stellt sich die Frage, warum eine der zentralen Punkte der Auseinandersetzung um zentrale Rechtsgüter einerseits und das Recht auf Ausnahmen, das Thema der Gleichberechtigung von Frau und Mann, nicht in einem eigenen Aufsatz vertiefend behandelt wird. Zu guter Letzt bleibt nur noch zu wünschen, dass der nächste Band mehr Autorinnen versammelt und sich einer inklusiven Sprache bedient. Es sei den neun Autoren und den drei Autorinnen hoch angerechnet, dass sie die Leserinnen und Leser mit der heute üblichen Fussnote verschonen, dass aufgrund der leichteren Lesbarkeit auf Verwendung der weiblichen Form verzichtet wird. Jedoch wäre es wünschenswert, hier auf etablierte und leicht zu handhabbare Standards inklusiver Sprache zurückzugreifen.

Zitierweise:
Jeannette Behringer: Rezension zu: Edmund Arens et al., Integration durch Religion? Geschichtliche Befunde, gesellschaftliche Analysen, rechtliche Perspektiven, Zürich, Pano Verlag/Nomos Verlagsgesellschaft, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 465-469.