W. Hafner: Pädagogik, Heime, Macht

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Titel
Pädagogik, Heime, Macht – eine historische Analyse.


Autor(en)
Hafner, Wolfgang
Erschienen
Zürich 2014: Integras
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Wolfgang Hafner befasst sich als Wirtschafts- und Sozialhistoriker seit Jahren mit der Thematik der Fremdplatzierung. Auf Anregung des Fachverbands Sozial- und Sonderpädagogik legt er eine Studie zu «Pädagogik, Heime, Macht» vor und geht dabei im Rahmen einer historischen Analyse der Frage nach, was Heimleitungen und Erziehende in ihrem Handeln geleitet hat: Woher nahmen sie das «Wissen» und was bewog sie in ihrem Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen? Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker leuchtet kenntnisreich die verschiedenen Bereiche in der Sozialpolitik, der Pädagogik bis hin zur Ökonomie aus und verbindet die verschiedenen Einflussebenen. Wie Wolfgang Hafner herausarbeitet, handelt es sich bei der Geschichte des Heimwesens in der Schweiz stets auch um eine Geschichte des schwezerischen Föderalismus und damit um die einflussreiche Rolle von Pfarrherren, Ärzten, Juristen, Kaufleuten, Bankiers wie auch Lehrern, die in den Aufsichtskommissionen der Anstalten Einsitz genommen hatten und auch anderweitig das Sozialwesen prägten. Die Studie, welche primär den Zeitraum des 20 Jahrhunderts abdeckt, lässt sich in vier Hauptbereiche unterteilen, die sich aus feingliedrig systematisierten Themenbereichen zusammensetzen:
Das Buch beginnt mit der Gründungsphase im 19. Jahrhundert und den rückwärtsgewandten Utopien sowie der Industrialisierung. Wolfgang Hafner zeichnet dabei nicht nur die grossen Linien nach, sondern streicht gekonnt Details heraus, die für das Verstehen sozialer Vorgänge von Bedeutung sind. Die «Verwahrlosung» war lange eine wirkungsmächtige Metapher, die die Verantwortlichen in ihrem Handeln leitete und dabei legitimierend für sogenannte Degenerationserscheinungen des Sozialen stand. Darüber hinaus zeigt Wolfgang Hafner, wie sich Psychoanalyse und Fordismus als System verschränkten und wie sich daraus Krankheits- und Versorgungsbilder ableiten liessen, um nicht zuletzt auch die Auslastung von Heimen sicherzustellen. Nicht ohne Zusammenhang wirkte sich der Kampf gegen das «Treiben der Kommunisten» auf die Gründung von Heimen aus, ja zeigte sich in der Argumentation zur Unterdrückung von Trieben. Wir erfahren ferner, wie Heimleitungen in der Zwischenkriegszeit gegen eine Professionalisierung des Erzieherberufs ankämpften, aus Angst, ihre eigene Position dadurch zu gefährden. Parallel entwickelten sich Heilpädagogische Seminare mit Heinrich Hanselmann in Zürich und Josef Spiller in Luzern, später dann in Freiburg. Verschiedene prononcierte und einflussreiche Vertreter (vgl. auch Anhang) werden im Band vorgestellt: Hanselmann, zum Beispiel, lässt sich einerseits als Neuerer einstufen, was seinen individualistischen Ansatz wie auch die Methoden betraf, gleichzeitig neigte er einem konservativreaktionären Weltbild zu. Gefragt wird ferner nach der Bedeutung von Religion als Legitimation einer strengen Erziehung. Wolfgang Hafner bezieht sich dabei auf Beispiele aus beiden Konfessionen. So wurde die Besserungsanstalt zur Bekehrungsanstalt mit dem Ziel der «Rettung» vor dem «Schmutz des Lebens».

In einem zweiten, auf die Zwischenkriegszeit hin fokussierten Hauptkapitel, in der der Milieukatholizismus seine goldenen Jahre hatte, befasst sich Wolfgang Hafner explizit mit der Erziehung im Zeichen religiöser Autoritäten. Die dem katholischen Milieu zugeschriebenen Eigenschaften waren auch anderen religiösen Gemeinschaften inhärent, insbesondere was die Erziehungsvorstellungen betraf. Hafner folgert denn auch, dass sich die katholischen Stammlande kaum von der schweizerischen Normalität abgehoben hätten. Dennoch scheinen interessante Differenzen auf: So verfügten die katholischen Heime über mehr Plätze als die anderen, die «reformierten», «protestantischen» oder «neutralen». Schwierig zeigte sich die Einführung des «Familiensystems» in katholisch geprägten Heimen, wo im Falle des St. Iddaheims in Lütisburg einzelne Schwestern die Rolle der «Mutter» übernahmen. Das katholisch geprägte Bild vom Heim als Familie entsprach jedoch mehr einer ständischen Vorstellung. Prägnante Themen, die Wolfgang Hafner herausarbeitet, sind weiter «die Entwicklung der Prügelmaschine im Zeichen der ‹Liebe›« wie auch die Debatte um Bettnässer vor dem Hintergrund eines zunehmenden Einflusses von religiösmoralisch orientierten Anstaltsleitern. Ein spezifisches Augenmerk widmet der Autor dem Sonnenberg-Skandal in Kriens von 1944 und dem späteren Skandal von Rathausen 1949. Besonders ausgeleuchtet werden die einzelnen Positionierungen: Dabei ging es den kirchlichen Vertretern stets um die Aufrechterhaltung der bestehenden Struktur. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich die Verhältnisse in den sogenannten Erziehungsanstalten kaum gross voneinander unterschieden, war der «Sonnenberg» auf Grund des ungeklärten Status der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft als Trägerin des Heims im Rahmen der katholischen Glaubensgemeinschaft wohl besonders angreifbar. Der Heimleiter wurde abgesetzt und die Anstalt geschlossen.
In einem anschliessenden Kapitel erfasst Wolfgang Hafner die Nachkriegsjahre und den Aufbruch im Heimwesen. So befand sich die traditionelle autoritäre Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg in einer mehrfachen Krise und die «Erziehung zur Arbeit» wandelte sich im Zeichen von technischer Professionalisierung, während sich die Heilpädagogik verwissenschaftlichte. Die Weiterentwicklung der Industriekultur wie auch die Entstehung einer Dienstleistungsgesellschaft stehen als Ursache für das abschliessende Kapitel zur «Heimkampagne der 68er oder das Aufbrechen aus der Blackbox Heim». Es sind diese, an der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung festgemachten und nachgezeichneten Entwicklungslinien, die das Buch besonders auszeichnen. Doch linear darf man diese Entwicklungen kaum denken, denn einerseits lässt sich für die Heimerziehung das Bild des Ozeandampfers verwenden, der sich mit einem langen Bremsweg bewegt, so Wolfgang Hafner. Gekennzeichnet ist die Entwicklung aber auch durch Ungleichzeitigkeiten, die lange andauerten.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Wolfgang Hafner, Pädagogik, Heime, Macht – eine historische Analyse, Zürich, Integras, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 459-461.

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