: Deutschland und der Erste Weltkrieg. . Köln 2014 : PapyRossa Verlag, ISBN 978-3-89438-540-8 123 S.

Ebert, Jens (Hrsg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918. Göttingen 2014 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1390-3 394 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Richard Albrecht, Privatgelehrter

Das erste Buch zum Ersten Weltkrieg untersucht mit dem Schwerpunkt Deutsches Reich die «Rivalitäten der imperialistischen Großmächte am Vorabend des Krieges» genannte internationale Interessens- und Machtkonstellation im allgemeinen und speziell die «Julikrise» und den «Kriegsausbruch» Anfang August 1914 als Ergebnis reichsdeutschkriegstreibender Politik. Sodann geht es um die militär- und innenpolitische Entwicklung von Anfang bis Ende des «ersten großen Weltfest des Todes» (Thomas Mann), Kriegsverlauf, Kriegszieldebatte und Antikriegsopposition 1914/15, Kriegswirtschaft, Kriegskultur und Kriegsalltag an der Front und in der Heimat, fortgeschrieben über die Januarstreiks 1918 bis zur deutschen «Novemberrevolution» 1918, wobei auch beide russische Revolutionen Februar und Oktober 1917 sowie der «Frieden von BreskLitowsk» einbezogen sind. Das wird in insgesamt 23 kurzen Kapiteln sowie sechs Seiten themenbezogene «Literaturhinweise» so grundlegend wie lesbar als politikgeschichtliches Grundwissen zum Ersten Weltkrieg dargestellt.

Besonders angesprochen haben mich: sowohl F.s einleitende Erinnerungshinweise zur reichsdeutschen Vorgeschichte des Krieges, der 1905/06 von Generalstabchef v. Schlieffen als Angriffs- und Blitzkrieg geplant war (Richard Albrecht, Der SchlieffenPlan und seine Konsequenzen. Imperialdeutsche Blitzkriegsvorstellungen: August 1914; September 1939; in: soziologie heute, 7 [2014], 36, 20−22) und dessen abenteuerliche, unrealisierbare und völkerrechtsfeindliche Politik bis 1914 weder von Nachfolger v. Moltke militärisch noch von der Reichsleitung politisch korrigiert wurde; als auch der «Bilanz» genannte resümierende Ausblick auf die «gigantischen» Kosten des elenden Krieges, seiner Millionen Gefallenen und Verwundeten – wobei kurz auch reichsdeutsche Kriegsgewinnler, etwa Krupp als Rüstungskonzern mit einer Profitsumme von etwa 800 Millionen Reichsmark 1914/18, genannt werden.

Im Ausblickskapitel «Zur Geschichtsschreibung» erinnert F. sowohl an den Grundkonsens der deutschen (von ihm «Historiker» genannten) Zeitgeschichtler, daß «die deutsche Reichsregierung die Hauptverantwortung für die Entfesselung des Krieges getragen habe», als auch daran, daß diese sachliche Übereinkunft 2013/14 durch Bücher des australobritischen Zeitgeschichtlers C. Clark (Die Schlafwandler) und des ganzdeutschen Politologen H. Münkler (Der Große Krieg. Die Welt 1914−1918) aufzubrechen versucht wurde und wird.

Für das zweite Buch zum Ersten Weltkrieg, eine Edition von FeldpostBriefen aus dem Weltkrieg 1914−1918 hat sich der Hg. viel Mühe gegeben, das Material überzeugend arrangiert und sachkundig im 62-seitigen Nachwort argumentiert. Im Verlags¬hinweis heißt es zur Besonderheit dieser Edition: «Fast 29 Milliarden Postsendungen wurden während des Ersten Weltkriegs verschickt, der deutlich größere Teil an die Front. Trotzdem erschienen bisher in Buchausgaben ausnahmslos Briefe ‹aus dem Felde›. Der vorliegende Band bricht gleich mehrfach mit den Publikationstraditionen: Ausgiebig werden erstmals auch Briefe aus der Heimat berücksichtigt, die von oft schwierigen, ja dramatischen Lebensumständen erzählen. Die Post von Kriegsgefangenen, die viele Jahre in teilweise exotischen Weltgegenden verbrachten (Indien, Afrika, Zentralasien), wird ebenso einbezogen, wie deutschsprachige Feldpost aus der k.u.k. Monarchie. Mehr als 20.000 Feldpostbriefe und -karten hat Jens Ebert in Archiven in Berlin, Stuttgart, Wien, Dresden, Darmstadt und Bremen gesichtet. In seiner Auswahl stehen stilistisch ausgefeilte Briefe aus dem Bildungsbürgertum oder Adel neben fehlerhaften Kurzmitteilungen ungeübter Briefschreiber, die in ihrer Hilflosigkeit und trockenen Offenheit oft besonders berührend sind. Die Kriegserfahrungen lesen sich in diesen Briefen nicht selten ganz anders, als sie zeitgenössisch in der Öffentlichkeit vermittelt wurden. Der Band gibt einen authentischen Einblick in die kollektive Gefühlswelt zur Zeit des Ersten Weltkriegs.»

E. selbst schreibt im Nachwort «Großer Krieg und kleine Leute»: Die im Buch veröffentlichten Postsendungen «bergen viel Unbekanntes im scheinbar Bekannten. Wir begegnen zahlreichen Facetten des Lebens im Krieg, die unser Bild von jenen Jahren erweitern und abrunden können. Es sind verschiedenste, teils widersprüchliche, teils heute unverständliche Sichtweisen, die wir ernsthaft und kritisch zur Kenntnis nehmen sollten.»

Die auf gut 300 Buchseiten in chronologischer Anordnung veröffentlichten Feldpostbriefe und -postkarten aus «Front» und «Heimat» unterlagen einer Doppelselektion: Auch die vom Hg. durchgesehenen gut 20.000 Dokumente waren nur eine kleine Auswahl der «insgesamt 28,7 Milliarden Sendungen», die während des Krieges «zwischen Heer und Heimat ausgetauscht» wurden und die, so E., «eine einzigartige historische Quelle» als «Objekt wissenschaftlicher Untersuchung darstellen.» Und so spricht E. denn auch zahlreiche Problemfelder und Auswertungsaspekte an: Etwa den Mythos der bevölkerungsmehrheitlichen Augustbegeisterung, die er so kommentiert: «Wenn es denn Kriegsbegeisterung gegeben hat, verflog sie angesichts der Kriegsrealität rasch.» (Als prominentes Anschauungsbeispiel dieser Desillusionierung gilt Max Slevogt: Mit Kriegsbeginn hussapatriotisch begeistert, als Freiwilliger und Schlachtenmaler der 6. Armee (Bayern) zugewiesen, läßt er sich, nach eigener Kriegserfahrung von «blinder Zerstörung» erschüttert, am 2. November 1914 entlassen. (Wilma Ruth Albrecht, Max Slevogt (1868−1932). Leben, Werk, Landschaft und Wirkung des Malers und Zeichners zwischen gesellschaftlicher Repräsentation und phantastischer Inspiration, Osnabrück, Hintergrund, 2014, 40−42, XIII: Krieg) Auch in anderen Bereichen pflegt E. als Zeitgeschichtler eine Sicht von unten: einfühlsam beschreibt er die Lage von Frauen zu Hause mit ihren neuen Belastungen und Aufgaben und deutet das später in den 1920er Jahren unverkennbare «neue weibliche Selbstbewußtsein nicht nur der sozialdemokratischen Frauen» als vom Krieg «beschleunigte gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse».

Von den vielen im Nachwort (mit seinem 4-seitigen Abspann Novemberrevolution und Nachkrieg) angesprochenen Bereichen seien hier nur wenige Problemfelder als offene Forschungsfragen erwähnt: Zunächst fiel E. auf, «dass die Erzählung von Tod und Sterben im Ersten Weltkrieg noch nicht so kulturell tabuiert [war] wie im Zweiten.» Auch verweist E. auf Briefe von der «Heimatfront» und vom kriegsbestimmten Sterben dort infolge katastrophaler Lebensmittelversorgung und fehlender medizinischer Betreuung, besonders im Steckrübenwinter 1916/17 (Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot [...], hg. Thomas Flemming, Bernd Ulrich, München, 2014, 159−164) und nach dem Ausbruch der Grippe genannten Pandemie in der letzten Kriegsphase 1918 (Eckard Michels, Die «Spanische Grippe» 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs; in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 58 [2010], 1, 1−33). Insgesamt gab es im Deutschen Reich «schätzungsweise 800.000 Hungertote». Angesprochen werden auch die beiden Dunkelfelder Suizid und Desertion: Wie viele Soldaten im Ersten Weltkrieg suizidal wurden und «angesichts apokalyptisch anmutender Verhältnisse den einzigen Ausweg im Selbstmord sahen, ist nicht überliefert»; und auch «das Thema Desertion, für die es leider in den Feldpostarchiven keine Nachweise zum ersten Weltkrieg gibt, war [wie] zu allen Zeiten tabuiert.»

Vor einigen kritischen Bemerkungen zu (gegebenenfalls in Neuauflagen zu korrigierende) Schwächen von E.s Buch als Do¬kument ein wegen Kürze und Sprachhülse («noch gesund») doppelt typisches Feldpostkartenbeispiel aus Serbien, geschrieben von «Ersatzreservist Wilhelm Schmitt an Philipp Schmitt in Biedenkopf» am 10.11.1915: «Die besten Grüße aus Serbien sendet Euch allein euer Wilhelm. Bin jetzt noch gesund und munter was ich von Euch allen auch hoffe. Auf Wiedersehen».

Schwächen finden sich im Buch auf verschiedenen Ebenen: Einmal, Einzelheiten betreffend, gibt es beim Briefwechsel der Bremer Eheleute Kaisen vom 17.11. 1916 eine Falschzuordnung: es ist [recte] ein Brief der Frau an ihren Mann im Feld; E.s Wertung, in Reichsdeutschland hätte es 1918 eine «wirkliche Revolution» gegeben, überzeugt auch mich nicht. Zum anderen geht es um systematische Schwächen: weniger ums fehlende Literaturverzeichnis, auch nicht um die zahlreichen politischen, wissenschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Prominamen im Briefe«sample» (von denen nur rund ein Dutzend im Personenverzeichnis steht); sondern daß manche (auch dieser Gruppe wie etwa Lenin, Trakl und Cassirer) im Personalverzeichnis ebenso wenig erfaßt sind wie wichtige Briefschreibende, etwa die Bremer Eheleute Pöhland 1916; auch wer in E.s Nachwort erwähnt wurde, hätte (etwa durch Kursivsatz gekennzeichnet) zusätzlich als Person registriert werden können. Und drittens hätte auch im Wissen, daß jedes endlich erscheinende Forschungsfeld faktisch ins Unendliche tendiert, der als Schlüsseldokument anzusehende Brief von «Unbekannt an den Oberpostsekretär Schiebelhuth in Darmstadt» vom 11.10.1915 unterm Aspekt militärisch versierter Beschreibung von Frontlage, -erlebnis und -kommentierung eines Artilleristen angemessene Aufklärung verdient – zumal der Briefempfänger Hans Schiebelhuth (1895−1944) als Publizist, Lyriker und Übersetzer im Darmstädter Kreis um Carlo Mierendorff (1897−1943) und dessen dessen Zeitschrift Das Tribunal (1919/21) aktiv war, in der wissenschaftlichen Literatur (bereits 1987) vorgestellt wurde (Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943, Berlin 1987, 23, 26, 41, 46, 131, 170−173) und auch (bereits 2004) in der deutsch(sprachigen) Wikipedia einen Eintrag erfuhr.

Das dritte Buch zum Ersten Weltkrieg, P.s magnus opum, besteht im Kern aus 13 Kapiteln mit durchschnittlicher Länge von etwa 35 Seiten; vorangestellt sind Vorwort und Prolog, hintangestellt 1148 Fußnoten, eine gut 30-seitige Bibliographie sowie Abkürzungen, Bildnachweis und Personenregister. Schließlich gibt es etwa in der Buchmitte 16 Seiten Anschauungsmaterial in Form von 29 (meist Farb-) Abbildungen. Das Buch ist insgesamt übersichtlich angelegt, typographisch augenfreundlich gestaltet und läßt sich trotz mancher Passagen mit sozialwissenschaftlichem Theoriejargon flüssig lesen.

«Mein besonderes Interesse» – so P. im Vorwort – «gilt den jeweiligen diskursiven Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Handelns beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten, also der umfangreichen Literatur im Kontext der geistigen Mobilmachung, aber auch dem Propagandaschrifttum, den Kriegszieldiskussionen, den Werken der Kriegsteilnehmer und der Kriegsgegner und der Kriegsgegner und nicht zuletzt den Artefakten der Memorialkultur. Im Zentrum stehen dabei die Mittelmächte, die nach allem, was wir heute wissen, den Krieg nicht allein verschuldeten, aber durch ihr Verhalten in den entscheidenden Krisenwochen ihn doch jedenfalls maßgeblich mit auslösten. Korrespondierend soll aber auch das Geschehen in den gegen das Deutsche Reich und die Habsburger Monarchie verbündeten Staaten, namentlich in Großbritannien, Frankreich und Italien, sowie im neutralen Ausland in den Blick genommen werden. Ziel dieser Arbeit ist eine ‹dichte Beschreibung› im Sinne der Kulturtheorie von Clifford Geertz, der den Menschen in ein Bedeutungsgewebe verstrickt sieht, das er Kultur nennt.»

Dieses Autorenanliegen wird als Grundmotiv mit seiner Konzentration auf Ideologie, Künstler und Wissenschaftler meist chronologisch und kapitelweise durchvariiert von «Menschen im Krieg» über «Akademische Schützengräben», «Lage des Judentums», «Schweizer Exil», gewalterfahrungsbezogener «Krieg in den Menschen» bis zum Ende mit «Tote Helden» als Ausblick.

Pʼs Nacht über Europa hat freilich grundlegende Webfehler. Diese sind nicht im Tatbestand begründet, daß P.s Darstellung typischerweise sekundärbequellt ist; sondern bestehen darin, wie der habilitierte Potsdamer Zeitgeschichtler mit Quellen um¬geht. Das zeigt sich en détail in der dreiseitigen Skizze über Ernst Blochs erstes (west)schweizerisches Exil 1917/19. Dort präsentiert P. Bloch (wie den Autor Hugo Ball) als Prototyp des mit der 1917 im Deutschen Reich gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei verbun¬denen «kämpferischen Pazifismus». Wer sich die Quellenbasis genau anschaut, bemerkt, daß P. die 1985 erschienene Buchedition Kampf, nicht Krieg auswertet, den Hg. aber, aus dessen Forschungen er Hinweise übernimmt, weder in seinen Anmerkungen noch in seiner Bibliographie nennt (Ernst Bloch, Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917−1919, hg. Martin Korol, Frankfurt/Main 1985).

Für noch ärgerlicher halte ich, daß P. wohl eine «völkerpsychologische» Schrift des Sexualkundlers Magnus Hirschfeld zum Kriegsbeginn einbringt, aber dessen thematisch höchst relevante Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges nicht kennt. Das ist für jemanden, der als Privatdozent wissenschaftlich über Gewalterfahrungen im ersten industriell geführtem Großen Krieg arbeitet, nicht nur peinlich, sondern auch nicht nachsehbar – war es doch Hirschfeld, der bereits 1929 darauf hinwies, daß der Armenozid (vgl. Richard Albrecht, Murder(ing) Armenians. The Tur¬kish genocide against the Ottoman Armenians during the First World War […]; in: SZRKG, 108, (2014), 127−148) als «Ausrottung der armenischen Bevölkerung in der Türkei [...] das fraglos größte Verbrechen des Ersten Weltkrieges» war (Magnus Hirschfeld; Andreas Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkriegs [1929]; Nachdruck der 2. neubearbeiteten Auflage: Hanau o.J., 607 p., zit. 510; ähnlich kürzlich Söhnke Neitzel: «Der große Sonderfall ist der Genozid an der Armeniern, dessen Ausmaß im Ersten Weltkrieg singulär blieb.» [Der historische Ort des ersten Weltkrieges in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 64 [2014] 16/17, 14.4.2014, 17−23, zit. 21]).

Zitierweise:
Richard Albrecht: Rezension zu: Gerd Fesser, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Köln, Papyrossa, 2014, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage [=Basiswissen], 123 S.; Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914−1918, hg. Jens Ebert, Göttingen, Wallstein, 2014, 394 S.; Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin, Ullstein/Propyläen, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 410-414.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen