C. Rothen: Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule

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Titel
Selbstständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule im Kanton Bern, 1832–2008


Autor(en)
Rothe, Christina
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Hofer, Burgdorf

Christina Rothen erforscht in ihrer Studie, einer überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation, die historische Entwicklung der institutionellen Verwaltungs-, Steuerungs- und Aufsichtsmechanismen der Primarschulen im Kanton Bern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die einzelnen Akteure auf kantonaler und lokaler Ebene, ihre jeweiligen Entscheidungskompetenzen und ihre Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten. Die Untersuchung erstreckt sich über einen Zeitraum von 175 Jahren – von der Regenerationsperiode 1831, in welcher das Fundament der liberal-demokratischen Bildungsidee gelegt wurde, bis hin zu den Beschlüssen zur bernischen Volksschule im Jahr 2008. Mit dem methodischen Ansatz einer Geschichte der longue durée will die Autorin das Bewusstsein für langfristige Kontinuitäten und grundlegende Wandlungsprozesse der Verwaltungsstrukturen schärfen und insbesondere auch ein tieferes Verständnis zur Einordnung der jüngsten Reformen im Bereich des Schulmanagements schaffen.

Als Grundlage für ihre Untersuchung verwendet Rothen in erster Linie rechtliche Regelungen, die zum Primarschulwesen erlassen wurden: Gesetze, Verordnungen, Reglemente, Dekrete und Lehrpläne. Die Auswertung dieser normativen Texte gewährt einen Einblick in die Rahmenbedingungen, unter denen die an der Schulverwaltung beteiligten Akteure agier(t)en. Ergänzt wird das Quellenkorpus durch den punktuellen Einbezug von Akten der Erziehungsdirektion, Kreisschreiben, Dokumenten der Schulsynode, der Schulkommissäre und Schulinspektoren, des Tagblatts des Grossen Rats und der Staatsverwaltungsberichte. Diese geben Aufschluss über die Probleme bei der Implementierung einzelner Massnahmen, beleuchten die Wahrnehmung der verschiedenen Akteure und dienen der vertieften Analyse der Wandlungsprozesse. Um die Mitgestaltungsmöglichkeiten auf Gemeindeebene zu illustrieren, legt die Autorin einen speziellen Fokus auf die Primarschulen in der Gemeinde Köniz. Dabei stützt sie sich teilweise auf Frieda Hurnis Werk Von Schulen in den Dörfferen (1986), aber auch auf neuere Quellen.

Nach der Einleitung widmet sich Rothen in einem ausführlichen Kapitel den kantonalen Akteuren. Die Autorin thematisiert die Kompetenzen des Regierungsrats und skizziert die Entwicklung der Erziehungsdirektion (bis 1846 Erziehungsdepartement), die im 19. Jahrhundert lediglich aus einem Sekretariat und untergeordneten Kommissionen bestand, deren Verwaltungsapparat aber seit den 1950er-Jahren kontinuierlich anwuchs. Sie beschreibt die sich im Laufe der Zeit wandelnden Aufgabenbereiche der vom Staat angestellten Schulinspektoren, die mit dem Schulgesetz von 1856 die nebenamtlichen Schulkommissäre ersetzten. Weiter behandelt sie die Funktion der Schulsynode, welche durch die Revision der bernischen Staatsverfassung 1846 ins Leben gerufen und 1937 per Volksentscheid wieder aufgelöst wurde. Sie beleuchtet die schulspezifischen Kontroll- und Verwaltungspflichten der Regierungsstatthalter, die heute im Erziehungswesen keine relevante Rolle mehr spielen, und geht näher auf verschiedene kantonale Kommissionen ein.

Die lokalen Strukturen im Bildungsbereich nimmt Rothen ebenfalls eingehend unter die Lupe. Sie zeigt den zunehmenden Bedeutungsverlust der Geistlichkeit im 19. Jahrhundert auf, analysiert die Pflichten und Rechte der politischen Gemeinden und widmet insbesondere den Lehrerinnen und Lehrern, den Schulkommissionen als Organe der kommunalen Selbstverwaltung, der Elternmitwirkung und den Schulleitungen viel Raum.

Weitere Kapitel behandeln thematische Aspekte wie die Aufsicht über die Lehrpersonen und die Schülerinnen und Schüler, die Grenzen der Unterrichtsfreiheit sowie das Verhältnis zwischen zentralen Vorgaben und lokaler Administration. Gewisse Redundanzen sind angesichts des Aufbaus der Studie unvermeidlich – sie schmälern das Lesevergnügen allerdings keineswegs. Rothens Sprache zeichnet sich durch Sachlichkeit, Präzision, Verständlichkeit und Nüchternheit aus.

In ihrem Fazit kommt die Autorin zum Schluss, dass die in der Regenerationszeit eingeführten Strukturen und Zuständigkeiten in der Schulführung und -verwaltung auf kantonaler und kommunaler Ebene bis in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts relativ stabil blieben. Der tief greifendste Wandlungsprozess setzte Rothen zufolge in den letzten 20 Jahren ein. Sie konstatiert eine zunehmende Tendenz zu einer professionellen Verwaltung der Schule hin, «wobei sich die professionellen Akteure weniger auf [demokratische, M. H.] Aushandlungsprozesse und deren Ergebnisse, sondern auf vermeintlich wissenschaftliche Rationalitäten stützen». Die Einführung der Schulleitungen und ihre schrittweise Aufwertung gehen mit einer strukturellen Entmachtung und einem Bedeutungsverlust der demokratisch gewählten lokalen Schulkommissionen einher, die auf dem Gedanken des Milizsystems fussen. Das Konzept der «geleiteten Schule» führt Rothens Interpretation zufolge zu einer Hierarchisierung im Schulhaus, zu einem Wechsel von reaktiven zu proaktiven Kontrollmechanismen und zu einer zunehmenden Beschränkung der Selbstständigkeit der Lehrerschaft. Durch die Etablierung von kantonalen Mechanismen der Rechenschaftslegung sieht die Autorin zudem die Stellung und Einflussmöglichkeiten der Verwaltungsbehörden gestärkt.

Die Zielsetzung, mit ihrem historischen Abriss über die Berner Schulverwaltung grössere Zusammenhänge aufzuzeigen und Forschern, Studierenden, Lehrkräften sowie Politikern Anstösse zur Reflexion zu geben, erreicht die Autorin souverän. Teilweise bleibt die Studie etwas zu sehr dem Deskriptiven verhaftet; der lange Untersuchungszeitraum lässt vertiefte Analysen nur bedingt zu. Dennoch bietet die Lektüre einen reichhaltigen Erkenntnisgewinn zur Berner Schulgeschichte. Sie wirft zudem wichtige weiterführende Fragen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz auf und schärft das Bewusstsein für die momentan stattfindenden Entwicklungen.

Zitierweise:
Markus Hofer: Rezension zu: Rothen, Christina: Selbständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule im Kanton Bern, 1832 – 2008. Zürich: Chronos 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 4, 2016, S. 48-50.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 4, 2016, S. 48-50.

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