F. Rogger: Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!

Cover
Titel
Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!. Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf ums Frauenstimmrecht


Autor(en)
Rogger, Franziska
Erschienen
Zürich 2015: NZZ Libro
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kellerhals Katharina, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern

Die Berner Historikerin Franziska Rogger versteht ihre Schrift als «Plädoyer für eine seriöse Geschichtsschreibung», die sie insbesondere bei wissenschaftlichen Abhandlungen zur Geschichte der Frau, genauer bei der Aufarbeitung des Frauenstimmrechtskampfes von 1959 und 1971 vermisst. So zeigt sie auf, dass die im Gosteli-Archiv gelagerten «Hauptquellen» der Arbeitsgemeinschaft der Frauenverbände, bei der sämtliche Fäden zu den nationalen Frauenstimmrechts-Abstimmungen zusammenliefen, bisher weder eingesehen noch ausgewertet worden seien. Die bisherige Geschichtsschreibung zur erwähnten Thematik verharre in einem disziplinären Kreislauf und habe (immer wieder die gleichen) schlicht falschen Schlussfolgerungen generiert; dazu gehöre unter anderem die kolportierte Aussage, dass im Schlussspurt des breit und emotional geführten Abstimmungskampfes vor 1971 die FBB (Frauenbefreiungsbewegung) den alles entscheidenden Input geliefert habe – der Einfluss der Neuen Frauenbewegung bezüglich dieser und anderer rechtlicher Errungenschaften werde überbewertet.

In Teil 1 trägt Rogger systematisch verfügbare Primärquellen aus verschiedensten Archiven und anderen Dokumentationsstellen zur Schweizerischen Frauenbewegung zusammen. Sie bewertet und vergleicht mit Sekundärliteratur von Historikerinnen wie Susanna Woodtli, Yvonne Vögeli, Barbara Studer und Beatrix Mesmer usw. und untermauert alles mit Zitaten der Zeitzeugin Marthe Gosteli, welche in besagtem Zeitraum als Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft agiert hatte. Rogger erzählt und dokumentiert minutiös den beschwerlichen Kampf der Schweizer Frauen für ein Stimm- und Wahlrecht und weitere rechtliche Anliegen zur Gleichberechtigung – der chronologische Bogen reicht von 1928, als sich die «Stimmrechtsschnecke» anlässlich der Eröffnungsfeier der SAFFA in Bewegung setzte, bis hin zur Nichtwahl Christiane Brunners, der zweiten Bundesratskandidatin, die 1993 von der Bundesversammlung nicht gewählt wurde.

Wir horchen auf, wenn wir vom andauernd vorgebrachten föderalistischen Argument lesen, welches die nationale Umsetzung des Frauen Stimm- und Wahlrechtes verhindere, weil zuerst Kantone und Gemeinden vorwärts machen müssten, man diese Anliegen nicht von der Bundesebene aus durchsetzen könne. Wir staunen einmal mehr, dass sowohl Bundesrat wie auch Parlament grundsätzlich einem Stimm- und Wahlrecht der Frau durchaus wohlgesinnt waren, aber der (männliche) Souverän den Frauen die Gleichberechtigung verweigert hat. Wir erfahren viel über die differenzierte Argumentation der Verfechterinnen eines Interpretationsweges, die den Artikel 24 der Bundesverfassung – «Stimmberechtigt ist jeder Schweizer […]» – geschlechtergerecht formuliert haben wollten und die den Verfechterinnen einer Verfassungsänderung – nur über ein Abstimmungs-Ja des männlichen Souveräns möglich – keine Chance einräumten. Wir können nachempfinden, wie die Frauen sich fühlten, als sie sich bei den Berner Grossratswahlen von 1958 «zwecks Verpacken des Wahlmaterials zur Verfügung» halten sollten, und wir würden sicher mit demonstrieren, als es 1969 darum ging, um jeden Preis die bundesrätliche Unterschrift unter die Europäische Menschenrechtskonvention zu verhindern, weil ein Teil genau dieser Rechte den Schweizer Frauen vorenthalten wurde. Nicht nur Demonstrationen, unzählige Tagungen, Pressekonferenzen und Märsche wurden – «Geduld ist das Merkmal der Schweizer Demokratie» – organisiert; Schweizer Frauen haben – so realisieren wir – über Generationen eine immense Erfahrung im Einsatz von politisch-taktischem Werkzeug erworben und weitergegeben.

Teil 2 beschreibt das Leben der bürgerlichen Frauenrechtlerin Marthe Gosteli. Die persönliche Entwicklung Marthe Gostelis – so Rogger – soll exemplarisch aufzeigen, wie eine Frau, traditionell eingebunden im bäuerlich-familiären KMU, sich zur individuellen Persönlichkeit und Kämpferin für die Sache der Frau entwickeln konnte.

Teil 3 nimmt nochmals die Familiengeschichte der Marthe Gosteli, verbunden mit derjenigen ihres Familienbesitzes, des Gutshofes Altikofen in Worblaufen, auf. Ausgehend vom 18. Jahrhundert wird diese Langzeitentwicklung quellennah ausgebreitet, es werden aber auch viele assoziativ-vage Bezüge – unter anderem Bemerkungen zu Raumplanung und Schulwesen – beigefügt, die nur marginal zur Thematik der Frauengeschichte beitragen.

Auch wenn das Buch über weite Strecken sehr persönlich, oft pathetisch wirkt, wird doch eindrücklich aufgezeigt, wie sich thematische Kontinuitäten im Wechsel der Generationen mit einem je eigenen Blick artikulieren. Wie ein Krimi liest sich die Phase des letzten Abstimmungskampfes unter Mitwirkung der FBB, die 1968 nicht mit diplomatisch- geduldigen Kampfmitteln agierte, sondern «Ein herrliches Ja zum dämlichen Stimmrecht» forderte und das 75-Jahre-Jubiläum des Zürcher Stimmrechtsvereins – eine «Aktion gegen die Verkalkung der Älteren» – sprengte.

Rogger bemüht sich, die Verdienste aller politischen Parteien zu berücksichtigen, sie kommentiert und bewertet raffiniert. So schreibt sie beispielsweise in einer Fussnote, die Laudatio, die anno 2012 anlässlich der Verleihung eines Buchpreises an einen vielfach berücksichtigten Schweizer Autor gehalten wurde, wäre für das «lustvoll-expressive » Werk von Iris von Roten, Frauen im Laufgitter, passender gewesen. Sie hat mit diesem Buch Frau Gostelis Traum, das Wirken der BSF-Frauen «breit, tief und nuanciert » zu dokumentieren, schon mit dem ersten Teil weitgehend erfüllt und hätte es eigentlich dabei belassen können.

Verdankenswert ist in jedem Fall aber ihre Reminiszenz an Marthe Gosteli, die mit erstaunlichem Gespür und noch rechtzeitig wichtige Daten über die andere Hälfte der Schweizer Bevölkerung gesammelt und archiviert hat. Der Titel des Buches ist ein Gosteli-Zitat und er suggeriert die Frage, ob wir, wenn die Geschichte der grossen Männer von der Geschichte der grossen Frauen abgelöst werden soll, wirklich weiterkommen werden.

Zitierweise:
Katharina Kellerhals: Rezension zu: Rogger, Franziska: «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!». Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf um das Frauenstimmrecht. Zürich: NZZ Libro 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 4, 2016, S. 45-47.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 4, 2016, S. 45-47.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit