A. Mattioli: Verlorene Welten

Cover
Titel
Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910


Autor(en)
Mattioli, Aram
Erschienen
Stuttgart 2017: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 26,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Julius Wilm, Hochschule Merseburg

Die Blütezeit des Westerns liegt bereits einige Jahrzehnte zurück, doch die US-amerikanische Westexpansion und der ihr begegnende Widerstand indianischer Nationen ist in der Populärkultur noch präsent wie kaum eine andere geschichtliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Auch heute dürfte so gut wie kein Kind aufwachsen, ohne mit „Indianergeschichten“ in Berührung zu kommen. Jeder erwachsene Mensch kennt das Gegeneinander von American Indians und weißen Siedlern als erzählerische Folie zahlloser Filme und Romane.

Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft nähert sich dem Thema eher selten. Es gibt zwar einige neuere Monografien zu Spezialthemen und Übersetzungen von älteren Übersichtswerken, doch bislang keine den aktuellen Forschungsstand reflektierende Synthese zum indianischen Nordamerika in der Zeit der Kolonisierung. Mit seinem Buch „Verlorene Welten: Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910“ unternimmt es Aram Mattioli, Professor für die Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Luzern, diese Lücke zu schließen.

Im Jahr 1492 war das heutige Hauptland der USA überzogen von einem Mosaik aus über 500 indianischen Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Wirtschaftsweisen. Häufig landwirtschaftlich orientiert und teilweise hochentwickelt, unterhielten diese Gemeinwesen Handelsbeziehungen über weite Entfernungen. Bis 1900 wurde die indigene Bevölkerung infolge von eingeschleppten Krankheiten, Massakern und Zwangsumsiedelungen von einstmals fünf bis zehn Millionen auf 237.000 reduziert. Diese angeblichen Steinzeitmenschen lebten in Reservate eingepfercht, und vielfach wuchsen ihre Kinder, von den Eltern getrennt und ihrer Kultur entfremdet, zwecks Umerziehung in Internaten auf. Das Buch „Verlorene Welten“ zeichnet die Geschichte dieser nahezu totalen Ausgrenzung und Zerstörung nach; es nimmt die indianischen Gesellschaften dabei in den Blick als selbstständige Akteure, die auf höchst unterschiedliche Weise mit dem Eindringen der Europäer umgingen und trotz widrigster Bedingungen den Fortbestand ihrer Kulturen und Gemeinschaften bis heute sichern.

Die sechs Hauptkapitel des Buches folgen einer chronologischen Ordnung, legen aber jeweils den Fokus auf ein bestimmtes geografisches Gebiet, um so den indigenen Widerstand und das Vorgehen amerikanischer Siedler und der Staatsmacht in der jeweiligen Epoche exemplarisch zur Anschauung zu bringen. Beginnend im Nordosten der Kolonialzeit und der frühen USA (Kapitel 2 und 3) über den Südosten in der Ära der Zwangsumsiedelungen der 1810er- bis 1830er-Jahre (Kapitel 4), wendet sich der Blick auf Kalifornien während des Goldrauschs (Kapitel 5) und zu den Great Plains zwischen den 1840er- und den 1890er-Jahren (Kapitel 6). Die einzelnen Gebietsstudien stellen indianische Kulturen und Wirtschaftsweisen vor und zeichnen ihren Wandel und ihre Marginalisierung im Zuge des zunehmend konfliktreichen Kontakts mit vordringenden Europäern und US-Amerikanern nach. Das Kapitel 7 zum Leben in den Reservaten und dem versuchten Ethnozid durch die Zwangsverschickung indianischer Kinder in Internate und Privatisierung der Reservatsländereien seit den 1880er-Jahren legt den Fokus auf das Geschehen im Gesamtstaat.

Mattiolis Darstellung greift auf die hierzulande noch häufig ignorierten Forschungsergebnisse der US-amerikanischen „Ethnohistory“ sowie der „New Western History“ zurück und räumt mit vielen verbreiteten Klischees auf. Dass zum Beispiel landwirtschaftliche Praktiken unter den indianischen Nationen seit der präkolumbianischen Zeit weit verbreitet waren, weshalb auch die Zerstörung von Feldern und Plantagen zu den bevorzugten Kriegstaktiken des Militärs und der Siedlermilizen gehörte, ist ausgespart in dem von der Populärkultur und der älteren Geschichtsschreibung tradierten Bild von Jägern und Sammlern im Konflikt mit einer landwirtschaftlich geprägten Siedlergesellschaft. Die zum Sinnbild „der Indianer“ erhobenen nomadischen Reiterkulturen der Great Plains hatten sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts herausgebildet, nachdem Pferde, die den Kolonisten in Neumexiko entlaufen waren und sich rasch vermehrten, es möglich machten, von der Büffeljagd zu leben. Die indigenen Gesellschaften der Plains-Region hatten in früheren Jahren durchaus sesshaft gelebt und waren mit Agrikulturtechniken vertraut.

Für die indigenen Gesellschaften Nordamerikas zeitigte das Eindringen europäischer Kolonialmächte sehr schnell katastrophale Folgen, indem eingeschleppte Krankheiten ganze Dörfer dahinrafften und bedeutende Lücken in das soziale Gefüge rissen. Für die so geschwächten indianischen Nationen, die nur selten zu einer gemeinsamen Linie gegenüber den Eindringlingen fanden, war der Handel und zeitweise auch die Waffenbrüderschaft mit den französischen, britischen und spanischen Kolonialisten indes keine rein negativ betrachtete Angelegenheit. In Auseinandersetzungen mit anderen indianischen Nationen konnte der Zugang zu europäischen Waren und Waffen eine entscheidende Ressource sein; zudem ließ die Konkurrenz der verschiedenen Kolonialmächte den Indianern einen gewissen Spielraum, diese Beziehungen zu ihren Gunsten auszugestalten. Ausgerechnet die Gründung der USA ab 1776, die gemeinhin als Geburtsstunde moderner demokratischer Verhältnisse wahrgenommen wird, führte nun dazu, dass diese Spielräume zunehmend kleiner wurden und schließlich ganz verschwanden. Während die französischen Kolonialisten vor allem an einem einträglichen Handel mit Pelzen interessiert waren und die britische Regierung zur Herrschaftssicherung die Besiedlung des Westens einschränkte, zielte die Politik der „Modellrepublik“ USA darauf, ihren Bürgern laufend neue landwirtschaftliche Nutzflächen als Privatbesitz zu überlassen. Für die indianischen Nationen war in dieser Konzeption schlichtweg gar kein Platz.

Die resultierende Geschichte von erzwungenen, ungleichen Verträgen, Massengewalt und Internierung in Reservaten sowie den indianischen Gegenstrategien, zu denen nicht nur Kriege (noch so ein Klischee), sondern mitunter auch die Anrufung des Obersten Gerichtshofes gehörte, legt Mattioli ausführlich dar. Die recht begrenzte Überlieferung von Quellen zum Denken und Handeln von indigenen Akteuren, die im Gegensatz zu ihren Gegnern nur wenig schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, hat manche amerikanische Autoren dazu veranlasst, auch mündlich tradierte Überlieferungen, die lange nach den Geschehnissen aufgezeichnet wurden, miteinzubeziehen. Mattioli legt die strengeren Kriterien der klassischen Quellenkritik an und verzichtet auf Zeugnisse dieser Art. Durch die Auswertung einer sehr umfangreichen Literatur und gut ausgewählter Zitate gelingt dem Buch auch ohne Einbeziehung der Oral History-Quellen eine plastische und überzeugende Darstellung indianischer Akteure und Strategien.

Implizit stellt das Buch Fragen auch an die deutsche Erinnerungskultur, welche die Auswanderer in die „Neue Welt“ und deren dortiges Wirken kaum problematisiert. Wie Mattioli aber zeigt, forcierte kein anderer als der hierzulande vielfach geehrte 1848er-Revolutionär Carl Schurz in seiner Funktion als amerikanischer Innenminister (im Amt 1877–1881) die Zwangsverschickung indianischer Kinder in Internate und die Privatisierung von Reservatsländereien (das „allotment“) mit dem Ziel, die Indianer als besondere Ethnie gänzlich aufzulösen. Für viele Native Americans waren diese von deutschen Zeitungen noch anlässlich der aktuellen Neuausgabe von Schurz’ „Lebenserinnerungen“ als modern und aufgeklärt gewürdigten Reformbemühungen mit einem Verlust an politischer Autonomie, einer weiteren Verarmung und traumatischen Familientrennungen verbunden.

„Verlorene Welten“ ist ein sehr gelungenes und für den deutschsprachigen Raum überfälliges Werk, das eine Synthese der neueren Forschung zur Geschichte der Indianer Nordamerikas im 18. und 19. Jahrhundert bietet. Ein besonderer Vorzug des Buches, das sich auch an einen breiteren Leserkreis als das historische Fachpublikum wendet, liegt in der häufigen Verwendung von Quellen schweizerischer und deutscher Zeitzeugen und Akteure. In der amerikanischen Literatur eher selten verwendet, betonen diese Zeugnisse eindrucksvoll Zusammenhänge des damaligen Geschehens in Nordamerika mit der europäischen Auswanderungsgeschichte.

Redaktion
Veröffentlicht am
15.11.2017
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Weitere Informationen