D. Krämer: «Menschen grasten nun mit dem Vieh»

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Titel
«Menschen grasten nun mit dem Vieh». Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17


Autor(en)
Krämer, Daniel
Erschienen
Basel 2015: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ansgar Schanbacher, Mittlere und Neuere Geschichte, Institut für historische Landesforschung (Niedersachsen), Universität Göttingen GK Umweltgeschichte

Der grosse Vulkanausbruch des Tambora in Südostasien und der darauf folgende kühle und feuchte Sommer in Mitteleuropa bilden den Hintergrund für Daniel Krämers umfassende Analyse der Hungerkrise von 1816/17 in der Schweiz und für eine ausführliche theoretisch-methodische Auseinandersetzung mit der historischen Hungerforschung.

Im ersten Teil der Arbeit bereitet der Autor ausführlich und verständlich den theoretischen Hintergrund der Forschungen zum in der Geschichte der Menschheit allgegenwärtigen Phänomen des Hungers auf. Ausgehend von angebotsorientierten Ansätzen wie Thomas Robert Malthus’ Bevölkerungstheorie leitet Krämer zu ökonomischen Theorien über, die unter anderem das Konzept der «moral economy» E. P. Thompsons und die Zugangsrechte besonders berücksichtigende Theorie Amartya Sens beinhalten. In einem dritten Schritt schlägt Krämer anschliessend den Bogen zu Stephen Devereux’ durch politisches Versagen verursachten «neuen Hungersnöten». Das Buch bleibt jedoch nicht bei dieser Zusammenschau der bisherigen Theorien stehen, sondern bietet mit einem bereits an anderer Stelle1 erarbeiteten «Modell zur konzeptionellen Struktur des Hungers» eine gut nachvollziehbare Verschmelzung bisheriger theoretischer Überlegungen, wobei langfristige Prozesse wie die Bevölkerungsentwicklung, Auslöser wie Naturkatastrophen und Missernten, Konsequenzen für Regionen, Haushalte oder Individuen sowie kurz- und langfristige Anpassungen wie Migration oder verändertes Ernährungsverhalten Berücksichtigung finden.

Anschliessend bespricht der Autor ausführlich Grundlagen und Entwicklung der historischen Klimatologie sowie das Konzept der Verletzlichkeit beziehungsweise Vulnerabilität, dessen vielfältige theoretische Stränge er in einem eigenen Modell zusammenfasst. Diese, den ersten Teil seiner Arbeit dominierenden theoretischen Überlegungen bereiten die Auseinandersetzung mit dem «Jahr ohne Sommer» in der Schweiz fundiert vor, wobei Krämer Modell und Schweizer Fallbeispiel stets miteinander verknüpft.

Zwei Fragenkomplexe bilden den Rahmen für die Untersuchung der Hungerkrise, die den Schwerpunkt des zweiten Teils der Arbeit ausmacht. Die erste Gruppe von Fragen zielt auf die Vorgeschichte der Krise und behandelt dabei Strukturen sowie kurz- und langfristige Prozesse. Hierfür stellt der Autor die Situation der Schweiz während der Mediation (ab 1803) und zu Beginn der Restauration dar und betont die für die historische Forschung wertvolle Vielfalt der Kantonsverfassungen, aber auch die grosse Uneinigkeit und das vorherrschende Misstrauen zwischen den einzelnen Kantonen beim Fehlen einer wirkungsvollen zentralstaatlichen Autorität. Die zweite Gruppe von Fragen bezieht sich unmittelbar auf die Krise und untersucht Intensität und Ausmass des Hungers anhand der Indikatoren Preise, Demografie, Kriminalität und Körperhöhe. 2 Als Quellengrundlage dienen dem Autor dabei obrigkeitliche Protokolle, zum Beispiel der Tagsatzungen, der Kantonalregierungen und der Armenverwaltungen, das Allgemeine Signalement-Buch zur Einschätzung des Wandels der Kriminalität sowie das Passregister des Amts Entlebuch (Luzern), mit dessen Hilfe die Entwicklung der mittleren Körperhöhe in den Hungerjahren nachvollzogen werden konnte.

Das letzte Kapitel des Hauptteils bildet Hintergrund und Interpretation für zwei vom Autor entwickelte Mangelernährungskarten der Jahre 1817 und 1818, die die Intensität der Krise in verschiedenen Regionen der Schweiz auch visuell fassbar machen. Definition und Beschreibung der schweizerischen Ökozonen, der Gewerberegionen und der Bevölkerungsdichte um 1800, die jeweils als Karte visualisiert werden, bezieht der Autor dabei mit ein. Die Mangelernährungskarten basieren auf der eidgenössischen Volkszählung von 1860, bei der auf Bezirksebene auch die Grösse der jeweiligen Geburtsjahrgänge (Kohorten) ermittelt worden war. Anhand einer linearen Progression, deren Merkmale jedoch nicht konkret genannt werden, errechnete Krämer Schätzwerte für die Kohortengrössen von 1817 und 1818, die er mit den tatsächlichen Werten verglich. Je grösser die Abweichung, desto grösser war die Verletzlichkeit des jeweiligen Bezirks in der Nahrungskrise. Im Ergebnis erwiesen sich, auch mit den übrigen Hungerindikatoren verknüpft, 1817 besonders dichtbesiedelte und gewerbliche Gebiete nördlich des Zürichsees, einige Bezirke im Kanton Bern sowie Bezirke am Genfersee, die sich auf Weinbau spezialisiert hatten, als besonders von der Krise betroffen. Im Folgejahr hatten sich die negativen Auswirkungen der Hungerkrise jedoch eindeutig in die Ostschweiz (St. Gallen, Appenzell, Zürich) verschoben. Weniger betroffen waren Bezirke in der Südschweiz, Luzern und die Urkantone. In einem abschliessenden Fazit fasst Krämer gut nachvollziehbar langfristige Faktoren zusammen, die – miteinander verflochten – Einfluss auf die Hungerkrise von 1816/17 in der Schweiz hatten: Landnutzungssysteme, Gewerbe, Verkehrserschliessung, die Situation der Landwirtschaft, die Bevölkerungsentwicklung sowie internationale wirtschaftliche Konkurrenz.

Insgesamt gibt Krämers Studie einen vielseitigen und genauen Einblick in die Entstehung und Struktur der Hungerkrise von 1816/17 in der Schweiz, wobei politische Reaktionen und soziale Realitäten nicht zu den ausgewählten Schwerpunkten gehören. Unter der Voraussetzung einer ähnlich reichen Datenlage kann Krämers Untersuchungsmodell auch für andere historische oder aktuelle Hungerkrisen angewendet werden. Man kann sein Vorgehen ebenfalls als Appell verstehen, Hunger nie als plötzlich erscheinendes Ereignis zu sehen, sondern ihn immer aus historischen Prozessen und Strukturen, sozialer Verletzlichkeit und kulturellen Faktoren heraus zu erklären und daraus Lösungsmöglichkeiten zu skizzieren.

1 Daniel Krämer, Vulnerabilität und die konzeptionellen Strukturen des Hungers. Eine methodische Annäherung, in: Dominik Collet et al. (Hg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität, Göttingen 2012, S. 45–65.
2 Im digitalen Anhang des Buchs (www.boris.unibe.ch/68839/) sind alle verwendeten Preise und demografische Daten zugänglich.

Zitierweise:
Ansgar Schanbacher: Rezension zu: Daniel Krämer, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»: Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Basel: Schwabe Verlag, 2015,. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 172-174

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 172-174

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