A. Holenstein: Mitten in Europa

Cover
Titel
Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte


Autor(en)
Holenstein, André
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Simon Teuscher, Universität Zürich

André Holenstein traut sich, die Geschichte der Schweiz neu zu erzählen. Dadurch sticht sein neues Buch aus der jüngsten Debatte über Schweizergeschichte heraus. Denn diese scheint bisweilen im Hin und Her zwischen politisch motivierten Mythenbeschwörungen und geschichtswissenschaftlichen Berichtigungen festzustecken. Nicht, dass sich André Holenstein aus politischen Debatten heraus halten würde. Er bekennt sich unumwunden zur Absicht, einen Beitrag zu aktuellen Debatten über das Verhältnis der Schweiz zu Europa zu leisten. Das heisst aber nicht, dass sich sein Buch auf die historische Untermalung eines politischen Parteistandpunkts reduzieren liesse. Vielmehr nimmt er die politische Aktualität zum Anlass, neue Fragen an die Geschichte der Schweiz seit dem Ausgang des Mittelalters zu stellen. Das Buch identifiziert «tote Winkel» der herkömmlichen nationalgeschichtlichen Perspektiven und unterzieht diese einer ergebnisoffenen Untersuchung. Diese fragt zum einen nach Verflechtungen wirtschaftlicher, militärischer, politischer und kultureller Art zwischen der Schweiz und dem umliegenden Europa. Zum anderen zeichnet sie nach, wie ebendiese Verflechtungen in Identitätsvorstellungen und Geschichtsbildern unsichtbar gemacht worden sind.

«Mitten in Europa» entwickelt nicht nur neue Narrative, sondern experimentiert auch mit Darstellungsformen. Während die meisten Nationalgeschichten die jüngste Zeit besonders ausführlich behandeln, sind die ersten zwei Drittel dieses Buches der Eidgenossenschaft vor 1798 gewidmet. Dagegen gelangt der Zeitraum zwischen Helvetik und Gegenwart eher knapp und in Form eines Epilogs zur Darstellung. Gerade im Schlussteil präsentiert sich der Haupttext über weite Strecken als Dialog mit langen, die Seitenmargen auffüllenden Zitaten von Politikern und Historikern. Und statt die Ausführungen mit Beispielen zu belasten, werden diese immer wieder durch Tabellen ergänzt. Diese inventarisieren so unterschiedliche Dinge wie die ausländischen Wirkungsstätten von Tessiner Baufachleuten, die hugenottischen Refugiantengeschlechter, die in die eidgenössischen Führungsschichten aufgestiegen sind, oder patriotische Idealisierungen der Schweiz samt den Negativ-Stereotypen, aus deren Umdeutung sie hervorgegangen sind.

Was ergeben nun die Erkundungen im neuen Terrain? Einige Verflechtungsphänomene erweist das Buch erst als solche, indem es bekannte Sachverhalte in neue Zusammenhänge stellt. So wussten wir zwar aus Einzelbiografien, dass mancher Schweizer Gelehrte eine Zeit lang als Hauslehrer Fürstenkinder unterrichtet hatte. Doch erst André Holensteins synthetisierender Zugriff (samt der Inventarisierung fürstlicher Hauslehrer in Tabellenform) macht den Umfang und die grundlegende Bedeutung dieses Phänomens für die karge Schweizer Bildungslandschaft fassbar – und verbindet es mit der Mittlerrolle, die viele Schweizer Gelehrte zwischen den verschiedenen europäischen Wissenschaftstraditionen wahrnahmen. In einer Verflechtungsperspektive erscheinen die Hauslehrer als Teil einer weiteren Wanderungsbewegung spezialisierter Berufsgruppen (etwa auch der über ganz Europa ausströmenden Bündner Zuckerbäcker oder Tessiner Stuckmeister), die symptomatisch für eine grundlegende wirtschaftspolitische Konstellation der Eidgenossenschaft war.

Letztlich ist es vor allem die eingehende Untersuchung der politischen und militärischen Verflechtungen, die in den Befund mündet, dass die raison d’être der Schweiz in einer spezifischen Form der Transnationalität zu suchen sei. Diese lässt sich verkürzt so umschreiben: Dank des Söldnergeschäfts und der damit verbundenen militärischen Bündnisse mit den umliegenden Fürstentümern konnten die eidgenössischen Orte auf den Aufbau stehender Heere verzichten – beziehungsweise deren Unterhalt benachbarten Fürsten überantworten. Obwohl sich eidgenössische Truppen an fast allen frühneuzeitlichen Kriegen beteiligten, liess sich so ihr eigenes Land weitgehend aus dem europäischen Kriegsgeschehen heraushalten. Gleichzeitig machten die Pensionen, die fremde Fürsten als Entschädigung für ihre Söldnerwerbungen entrichteten, in vielen Orten den Löwenanteil der obrigkeitlichen Einnahmen aus. So konnten diese darauf verzichten, eines der Systeme der Vermögens- oder Einkommensbesteuerung einzuführen, die schwer auf den Volkswirtschaften der umliegenden Territorialstaaten lasteten. Vor allem die Soldverträge mit Frankreich beinhalteten ausserdem Zoll-, Niederlassungsund Handelsprivilegien und begünstigten dadurch nebst der Arbeitsemigration auch den Ausbau der Exportwirtschaft und die Auslandengagements eidgenössischer Financiers.

Die Kombination aus schwacher Staatlichkeit, enger Anlehnung an umliegende Mächte und boomender Aussenwirtschaft setzte sich unter veränderten Vorzeichen nach dem Untergang der alten Eidgenossenschaft fort. Für das Fortbestehen und die Verdichtung der Kooperation zwischen den eidgenössischen Orten sorgten immer wieder der Wille und der Druck der benachbarten Monarchien. Das gilt nicht erst für den Wiener Kongress, an dem sich vor allem Russland und Österreich dem Auseinanderdriften der eidgenössischen Orte in den Weg stellten. Schon ab dem 18. Jahrhundert trugen die französischen Ambassadoren phasenweise mehr zur Schlichtung der innereidgenössischen Zwiste bei als die eidgenössische Tagsatzung. Bisweilen umschreibt André Holenstein die Beziehungen zwischen den eidgenössischen Orten als deren «innere Aussenpolitik». Nicht nur dieser Wortgebrauch verleitet zur Frage, ob eine Verflechtungsgeschichte der Schweiz wirklich darauf angewiesen ist, die Existenz dieser Schweiz als einheitlicher Akteur von Anfang, auch schon für die Zeit vor 1500, vorauszusetzen. Hätte sie nicht bei den Verflechtungen der einzelnen Orte ansetzen können, aus denen erst allmählich die Eidgenossenschaft hervorgegangen ist?

Das Buch mündet im Befund eines seltsam widersprüchlichen Verhältnisses zwischen der starken Verflechtung der Schweiz und der Verfestigung von Absonderungsidealen. Ob diese wirklich bruchlos bis auf die Erzählung über die Bösen Vögte aus dem Weissen Buch von Sarnen aus dem Jahr 1470 zurückgehen, wäre wohl noch zu diskutieren. Denn das Weisse Buch brachte zum Zeitpunkt seiner Niederschrift ja eher ein Geschichtsbild Unterwaldens oder der Waldstätte als der damaligen Eidgenossenschaft zum Ausdruck. Überhaupt hätte das Buch auch thematisieren können, dass bis nach 1500 in den eidgenössischen Orten auch ganz andere Konzeptionen des politischen Raums verfochten wurden. Der Zürcher Humanist Felix Hemmerli und der Berner Twingherr Ludwig von Diesbach betonten beispielsweise in ihren Schriften die Verbindungen zwischen Städten wie Zürich und Bern und den grossen Fürstenhöfen. Und als der Einsiedler Mönch und Habsburger Parteigänger Albrecht von Bonstetten als Erster eine Karte der Eidgenossenschaft zeichnete, war ihm weniger an deren Abgrenzung nach aussen hin als an der Suggestion gelegen, diese befinde sich – mitten in Europa.

Doch nichts wäre verkehrter, als diesem Buch die Auslassung der einen oder anderen Einzelheit vorzuhalten. Denn seine Stärke liegt ja gerade darin, Akzente zu setzen und neue Perspektivierungen und Narrative zu entwickeln. Um die Auseinandersetzung mit diesen wird so bald keine Überblicksdarstellung der Geschichte der Schweiz herumkommen.

Zitierweise:
Christophe Vuilleumier: Rezension zu: André Holenstein, Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte, Baden: Hier + Jetzt, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 165-167