A. Gerber: Zwischen Propaganda und Unterhaltung

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Titel
Zwischen Propaganda und Unterhaltung. Das Kino in der Schweiz zur Zeit des Ersten Weltkriegs


Autor(en)
Gerber, Adrian
Reihe
Zürcher Filmstudien 37
Erschienen
Marburg 2017: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
624 S.
Preis
€ 48,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Jessica Berry, Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich

In seiner filmwissenschaftlichen Studie "Zwischen Propaganda und Unterhaltung. Das Kino in der Schweiz zur Zeit des Ersten Weltkriegs" erforscht Adrian Gerber die Schweizer Kinoöffentlichkeit der 1910er-Jahre. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Ersten Weltkriegs. Es handelt sich um eine hauptsächlich rezeptionshistorische Untersuchung. Erschlossen werden also nicht nur die seinerzeit in Schweizer Kinos gezeigten Filme aus Ländern beiderseits der Frontlinie und ihre Produktions- und Distributionskontexte, sondern auch – und vor allem – ihr Aufführungsrahmen und die öffentliche Resonanz in der neutralen Schweiz sowie die kommerziellen und politischen Strategien des Filmeinsatzes während der Kriegszeit. Zudem wird analysiert, welche Zuschauergruppen, aber auch Pressestimmen etc. die Filme wie wahrnahmen, diskutierten und verhandelten; all dies in einem historischen Kontext, der ein besonderes und neues Spannungsfeld zwischen Unterhaltung und Propaganda bot.

Gerber untergliedert seinen Band in drei große Blöcke. In einem ersten theoretischen Teil beschäftigt er sich methodisch mit dem Begriff ‚Kinoöffentlichkeit’. Er reiht sich hier in eine Forschungslinie ein, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten international etabliert und verschiedene Öffentlichkeitskonzepte hervorgebracht hat. Eine Stärke von Gerbers Zugang liegt darin, dass er es versteht, den viel diskutierten Begriff für seinen Untersuchungsgegenstand fruchtbar zu machen und auf der Grundlage des historischen Materials ein eigenes Öffentlichkeitsmodell auszuarbeiten. Der zweite Teil widmet sich dann den Anfängen und frühen Entwicklungen des Kinonetzes in der Schweiz und zeichnet den Filmmarkt mit seinen Verleihstrukturen und dem Filmangebot, also gleichsam den Grundlagen der Kinoöffentlichkeit, detailliert nach.

Auf dieser Basis baut der umfangreichste dritte Teil auf, der das eigentliche Herzstück der Monografie bildet. Darin wendet sich Gerber der rezeptionshistorischen Untersuchung zu. Seine Vorgehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass er neben der Darstellung grundsätzlicher und übergreifender Momente der Kinoöffentlichkeit in der gesamten Schweiz sechs filmische und zwei ereignisbezogene Fallstudien vorlegt, in denen er Schwerpunkte setzt und relevante Aspekte an einzelnen Filmen beziehungsweise an konkreten Vorgängen und Vorfällen herausarbeitet. Zum Filmkorpus zählen sowohl kommerzielle Kriegsfilme als auch amtliche Propagandaproduktionen der kriegführenden Länder (weit überwiegend geht es um Streifen ausländischer Herkunft, da zu dieser Zeit kaum Schweizer Produktionen existierten). In beiden Gruppen sind sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale Filme vertreten, wobei es sich bei den amtlichen überwiegend um dokumentarische Produktionen handelte.

Angesichts der schwierigen Quellenlage verdient die intensive und detaillierte Quellenarbeit große Anerkennung. Neben dem aus schweizerischen und internationalen Archiven zusammengetragenen historischen Filmmaterial hat Gerber für seine Untersuchung der Rezeptionssituation auch eine Fülle an vielfach erstmals ausgewertetem schriftlichem Archivmaterial herangezogen, darunter zeitgenössische Filmrezensionen, programmatische Texte zum Kino und diplomatischen Schriftverkehr, aber auch administrative Papiere aus Bund, Kantonen und Gemeinden sowie Zeitungsberichte über Vorfälle in und um Kinoaufführungen. Hinzu kommt umfangreiches Bildmaterial aus Publikationen zum Film, Standfotografien, Screenshots und Ansichtskarten.

Gerber zeigt, in welchem Maße die neutrale Schweiz für die am Krieg teilnehmenden Staaten einen strategisch wichtigen Ort darstellte. Es ging um die öffentliche Meinung und politische Positionierung im Kriegsgeschehen. Die Länder hatten mithin großes Interesse daran, was in den Schweizer Kinos gezeigt wurde. Propagandaorganisationen wurden vor Ort eingerichtet, die teilweise sogar eigene Produktionsstrukturen zu etablieren suchten. Für das Deutsche Reich entwickelte Harry Graf Kessler besonders weitgehende Ideen. War auch das Medium Film noch nicht das primäre Propagandainstrument der kriegführenden Staaten, so zeigt Gerber doch, dass der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt markierte, ab dem der Film auch in der Auslandspropaganda der Großmächte gezielt eingesetzt wurde.

Hochinteressant ist die Beobachtung des Autors, dass sich das Schweizer Publikum den propagandistischen Absichten der Produzenten vielfach entziehen konnte. Dass es unvorhersehbar war, wie ein Film wirken würde, zeigt er am Beispiel von „Graf Dohna und seine Möwe“ (1917): Der amtliche deutsche Propagandafilm sollte die Seekriegserfolge des deutschen Reichs zeigen und eine wohlwollende Haltung erwirken. Stattdessen löste er bei vielen Schweizern eine Reflexion über die Kriegsgräuel aus. Gerber unterstreicht hier die Erkenntnis, dass die Bedeutung eines filmischen Werks ihm nicht immanent ist, sondern dass sie ihm vielmehr von einem Publikum, von der jeweiligen Kinoöffentlichkeit in einem bestimmten historisch-diskursiven Kontext zugeschrieben wird. Was man dazu erfährt, ist – wie manches andere im Buch – auch dann lesenswert, wenn man kein spezifisches Interesse an schweizerischen Vorgängen hat.

Schließlich geht die Studie auf den sprachlich-kulturellen Graben innerhalb der Schweiz ein und darauf, wie dieser sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs im Kino bemerkbar machte. Zunächst manifestierte er sich in Bezug auf die Sympathien, die man den kriegsführenden Staaten entgegenbrachte: Die Einwohner der deutschsprachigen Schweiz sympathisierten tendenziell mit Deutschland und den Mittelmächten, die der lateinischen Schweiz unterstützten eher die Alliierten. Was vorher nur ein sprachregionaler Unterschied in der Nähe zu den Nachbarländern war, wurde im Krieg zu einer politisch-kulturellen Kluft, die sich in bilingualen Orten sogar in Handgreiflichkeiten im Kino äußern konnte.

Mit dieser kulturellen Differenz in Verbindung steht eine grundlegendere Beobachtung, die Gerber macht: Das Verhalten im Kino gestaltete sich in den jeweiligen Sprachregionen der Schweiz recht unterschiedlich. So schauten die Deutschschweizer Kriegsfilme, um ihre visuelle Neugier, ihre Informations- und Unterhaltungslust zu befriedigen. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz hingegen kam die Neigung hinzu, dem Gezeigten mit einer politischen Lesart offensiv und demonstrativ zu begegnen. Dementsprechend wurden die Filme in den jeweiligen Sprachregionen anders beworben, und der Autor veranschaulicht auch, dass diese verschiedenen Herangehensweisen in ein unterschiedliches Zuschauerverhalten im Kinosaal mündeten. Während in Deutschschweizer Kinos die Filme eher in Ruhe betrachtet wurden, reagierten die Zuschauer in der lateinischen Schweiz häufiger mit Äußerungen verbaler oder anderer Art. Selbst das Programmangebot reflektiert diese unterschiedlichen Rezeptionsweisen in den Sprachregionen. In der Deutschschweiz wurden Filme aus Staaten beiderseits der Front gezeigt, in der lateinischen Schweiz waren fast nur Filme der Alliierten zu sehen.

Die Sorgfalt der historischen Quellenarbeit zeigt sich auch anhand des reichhaltigen Anmerkungsapparates. Gelegentlich nehmen die Fußnoten halbe, in Extremfällen sogar fast ganze Seiten in Anspruch. Man kann die Anmerkungen fast als eigenen Text lesen, und zwar mit Gewinn. Andererseits tendiert dieser Reichtum an Information bisweilen dazu, den Leser zu überwältigen. Besonders wenn einzelne Aspekte mehrfach berührt werden, könnte dies den Wunsch nach Straffung hervorrufen.

Gerber hat mit seiner hier publizierten Dissertationsschrift, die er am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich verfasst hat, sorgfältige Archivrecherche mit einem innovativen Zugang verbunden. Seine Studie fördert nicht nur unbekanntes und teilweise unidentifiziertes Schrift-, Film- und Bildmaterial zu Tage, sie ebnet auch Wege für zukünftige (film-)historische Forschungsarbeiten zur Schweiz. Obschon die Geschichte der schweizerischen Filmproduktion im größeren historischen Rahmen bereits aus verschiedenen Blickwinkeln wissenschaftlich aufbereitet wurde und natürlich auch allgemeine filmhistorische Darstellungen zur Schweiz und zu Einzelaspekten des Schweizer Films vorliegen, besteht insbesondere mit Blick auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts noch erheblicher Forschungsbedarf. Das gilt vor allem für die Entwicklung der schweizerischen Kinoöffentlichkeit, namentlich die Rezeptions- und Diskursgeschichte. Adrian Gerbers Buch leistet einen gewichtigen Beitrag dazu, diese Lücke zu schließen. Es hat nicht nur das Zeug, ein Standardwerk zu werden, sondern bereitet zudem dank der sorgfältigen Gestaltung mit vielfach farbig und qualitativ hochwertig gedruckten Bildern auch Vergnügen.

Redaktion
Veröffentlicht am
03.04.2018
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