H. Knorr: Rekonstruktion von Ausbreitungsvorgängen in der Urgeschichte

Titel
Rekonstruktion von Ausbreitungsvorgängen in der Urgeschichte.


Autor(en)
Knorr, Hartmann
Erschienen
Norderstedt 2014: Books on Demand - BoD
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Huber Adrian

Kultureller Wandel wird in der prähistorischen Archäologie häufig und meistens beiläufig durch Ausbreitungsvorgänge erklärt. Das Ziel des hier besprochenen Buches ist es, solche Vorgänge theoretisch zu charakterisieren und die Struktur der Argumente zu untersuchen, anhand derer auf solche Bewegungen geschlossen wird.

Konkreter Fall: Der Beginn des Jungneolithikums am Zürichsee ist geprägt von Keramikformen der Egolzwiler- und der Cortaillodkultur, deren zentralen Verbreitungsgebiete weiter westlich in der Zentralschweiz beziehungsweise in der Dreiseenregion liegen. In der stratigrafischen Abfolge der Zürcher Pfahlbausiedlungen wird die Cortaillodkultur von der Pfynerkultur abgelöst. Sie existierte am Bodensee zeitgleich mit der Cortaillodkultur am Zürichsee. Mit Absolutdatierungen lässt sich ein Vordringen der Pfynerkultur zwischen 3900 und 3600 v.Chr. bis weit ins Schweizer Mittelland modellieren. Bereits im 38. Jh. v.Chr. hatte sie den Zürichsee erreicht und in einer Spanne von rund 50 Jahren die Cortaillodkultur verdrängt.

Genügt dieser hinlänglich bekannte Befund — Knorr spricht in vergleichbaren Zusammenhängen von «archäologischen Basisaussagen» — dem Anspruch, der sich vereint in der Fachbezeichnung «Ur»-«Geschichte»? — Natürlich nicht! Erst die Zuschreibung historischer «Entitäten» verwandelt den Vorgang in einen kulturhistorischen Prozess. Erst dieser Schritt gestattet es, der Quellenfrage «was ist geschehen», die eigentlich historischen Fragen «wie ist es geschehen» und «warum ist es geschehen» nachzusetzen. «Warum» fragt nach den Gründen/Ursachen von Geschehnissen und zielt auf Ereignisgeschichte ab. «Wie» fragt nach dem Mechanismus von Geschehnissen, also nach Prozessgeschichte.
Eine viel verwendete prozessuale Antinomie zur Wie-Frage ist im Zusammenhang mit Ausbreitungsvorgängen durch das Begriffspaar «Migration» versus «Diffusion» gegeben. Dabei meint der erste Begriff die Verbreitung von Dingen, Verhalten sowie Menschen selbst durch die Wanderung und Niederlassung von Personengruppen. Diffusion bezeichnet die Verbreitung von Dingen und Verhaltensweisen durch Vermittlung.

Wie kann man von Basisaussagen eindeutig auf konkrete kulturhistorische Prozesse schliessen? Wie ordnet man typisierten Funden historische Entitäten zu? Wie überführt man archäologische Kategorien in historische Begriffe? Und wie sind diese Fragen für kulturgeschichtlich so folgenreiche Vorgänge wie z. B. die von Nahost ausgehende «Neolithisierung» Europas behandelt worden?

Damit sind die Leitfragen gesetzt, die durch das knapp fünfhunderseitige Buch von Hartmann Knorr führen — oder sagen wir, das Erscheinen der Studie als Ereignis betonend, zu diesem knapp fünfhundertseitigen Werk geführt haben. Als Motivation gibt der Autor explizit seine Begegnungen mit zahlreichen «Urgeschichtsschreibungen» an, in denen er keine schlüssigen Begründungen für die behaupteten historischen Prozesse (Migration/Diffusion) erkennen kann. Die Verwunderung über die Rekonstruktion konträrer historischer Prozesse aus demselben Bestand von Basisaussagen habe den Effort zusätzlich beflügelt.

Schon dem Unternehmen an und für sich gebührt Respekt. Wie oft kapituliert das Fach angesichts der Komplexität und anderer Verpflichtungen vor seinen historischen Aufgaben und begnügt sich mit dem antiquarischen Grundumsatz! Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Natürlich weiss der Rezensent als Mitarbeiter einer Bodendenkmalpflege genau um die anspruchsvolle Leistung, die «Was-Frage» zu beantworten, und schätzt sie — wie übrigens auch Hartmann Knorr — keinesfalls gering.

Die vorliegende Arbeit liest sich als Theoriebeitrag von strukturierendem und resümierendem Charakter. Der Autor lotet das Gebiet so tief wie systematisch aus. Das ist ein grosses Verdienst und eine Schwäche zugleich, je nach Standpunkt des Lesers: Ein Verdienst wegen der synthetischen Leistung und der Behandlung aller denkbaren Aspekte. Schon die rund siebenhundert zitierten Titel im Literaturverzeichnis und ein siebzigseitiger Anhang zeugen vom enormen Kenntnisreichtum des Autors zum Thema; nicht allein auf dem Gebiet der Archäologie, sondern auch der Erkenntnistheorie, und von Wissenschaften mit ähnlichen genealogischen Problemstellungen, zum Beispiel der Humangenetik und der Sprachtheorie.

Als Schwäche stellt sich dieses Gewicht für jene heraus, die sich im Thema nicht bereits wie Fische im Wasser bewegen: Die umfassende Darstellung erfordert viele und meistens nicht bis zur Selbsterklärung ausgeführte Verweise auf den Korpus der erwähnten Literatur. Zudem weist der Text in sich als Zeugnis und Abbild der angestrebten Systematik eine dichte, mit Abschnittkürzeln signalisierte Vernetzung in alle möglichen Richtungen auf. Es ist für Novizen nicht leicht, sich darin intuitiv zurechtzufinden.

Das hat auch mit den Begriffen zu tun. Theorie besteigt aus verschiedenen Gründen, beispielsweise zur Distinktion (voilà: Unterscheidung!), Metaebenen (sic! übergeordnete Ebenen). Und sie tut das gerne begrifflich kund. Wo sie sich in theoretisch etablierte Domänen anderer Wissenschaften beugt, stellt sie den Bezug durch die Aneignung von Fachbegriffen ohne Erklärungen und axiomatische Herleitungen her.

Gerade zwei Grafiken lockern das Buch auf. Sie sind zentral und daher richtig gesetzt. Doch auch ihre Ausgestaltung (unbeschriftete Achsen!) bestätigt die Vernachlässigung der visuellen Kommunikation. Orthografische Bagatellen da und dort wären den kleinkrämerischen Hinweis nicht wert, wenn sie im Zusammenhang nicht erahnen liessen, dass der Autor in verlegerischen Aufgaben im Stich gelassen wurde.

Die Form macht jedenfalls klar, dass sich die Reichweite des Buches auf ein spezialisiertes Fachpublikum beschränken wird. Dem Urheber ist das nicht vorzuwerfen, übt er doch nur das Vorrecht aus, Genre und Anspruch zu bestimmen. Jedes Buch über archäologische Theorie wäre aber eine Chance, für das wissenschaftlich fundamentale und doch nicht äusserst populäre Geschäft Terrain zu gewinnen. Dem Rezensenten gehört in diesem Zusammenhang sicher nicht der erste Stein. Die überspitzte Frage sei dennoch gestattet, ob es wirklich vernünftige Dinge gibt, die man seinen Kindern nicht erklären kann.

Die semantische Sperrigkeit und die schwer erfassbare Fülle stehen im Widerspruch zum letztlich klaren Aufbau. Er belegt das Werk eines Versierten, der sehr genau weiss, was er tut: Die Einleitung mit Fragestellung und Disposition enthält eine formale Überraschung, indem sie thesenhaft die Ergebnisse der Untersuchung vorgreift und der Zusammenfassung am Schluss vor allem den Ausblick überlässt.

Es folgt die Formalisierung von archäologischen Ausbreitungsvorgängen nach erkenntnistheoretischen Grundsätzen in vier Teile: Basisaussagen (Es gibt Befund Y an Ort X zur Zeit Z), Zuschreibung einer Ausbreitungsidentität, Zuschreibung eines prozessualen Geschichtsmodells (Story), Begründung der Zuschreibungen durch indexalische Aussagen.

Diese einzelnen Elemente werden in den folgenden Kapiteln hinsichtlich ihrer konstruierten Strukturen erörtert. Während die theoretischen Begriffe der Basisaussagen (Befundtypenkreis, Bewegungsaussage) prähistorische Fakten umhüllen, beziehen sich Ausbreitungsidentitäten und prozessuale Geschichtsmodelle auf historische/ethnografische Paradigmen oder rein modellhafte Überlegungen. Dieses Verhältnis erfordert einen Brückenschlag, dessen Möglichkeit im Sinn eines aktualistischen Prinzips (Retrodiktion) begründet werden muss. Das geschieht vermittelst der indexalischen Aussagen (kulturhistorische Indizien). Ihre Erörterung schiebt sich daher entgegen der formalistischen Ordnung zwischen jene der Basisaussagen und der Ausbreitungsidentität ein.

Besonders gewinnbringend lesen sich die Ausführungen, wo sie bildhaft werden. Etwa die systematische Versammlung der Verlaufsmuster von Ausbreitungsvorgängen, oder die Rundschau aller Migrations-Diffiusionstypen (MD-Typen). Diesem idealtypischen Konstrukt liegt die Erkenntnis von Migration und Diffusion als Pole eines fliessenden Kontinuums zu Grunde. Auch bei Diffusionsvorgängen spielt Personenverkehr meistens eine Rolle. Was noch als Diffusion und was als Migration betrachtet wird, ist relativ und davon abhängig, mit welcher Intensität der Verkehr fremder Personen in einem etablierten Kontaktnetz üblich war.

Das Lieblingsstück des Rezensenten rankt sich um die erwähnten Grafiken, die eine Art Museum aller denkbaren MD-Typen nach der Ordnung ihrer Wirkungsprinzipien darstellen. Ihre Vielfalt entsteht dadurch, dass Ausbreitungsprozesse durch wenige sehr einflussreiche Fremde genauso bewirkt werden können wie durch eine Vielzahl weniger einflussreicher. Ein Blick in die Vitrine bremst elegant die mathematische Strukturdiskussion von Diffusions-, Poisson- und Laplace-Gleichungen, denn die Unterscheidung von Diffusions- und Migrationstypen versteckt sich unentschlüsselbar in funktionalen Koeffizienten. Ein und dieselbe integrierte Wirkung (Migrationsgrad) geht aus einer Vielzahl abgestimmter Verhältnisse von Anzahl Migranten, ihrer Aufenthaltsdauer und ihrem Einfluss hervor.

Klärung ist nur durch eine Reduktion der Variablen zu schaffen. Besonders wirkungsmächtig, weil auch für die Abgrenzung vom üblichen Personenverkehr im etablierten Kontaktnetz verwertbar, wäre eine unabhängige Bestimmung der Anzahl Migranten. Die beiden folgenden Kapitel widmen sich deshalb der Frage, ob sich Grössenordnungen von Migrationen in der Verbreitung menschlicher Genomtypen oder der Änderung von Sprachen und Sprachfamilien erschliessen lassen. Die Zielführung beider Schienen bewertet Hartmann Knorr pessimistisch.

Es fügt sich ein kritisches Panoptikum aktuell verwendeter Argumentmuster an. Das ist wegen des Facettenreichtums relevanter Forschungen an und für sich lehrreich. Vor allem aber gelangen hier die kulturhistorischen Indizien zur vollen Geltung. Zudem hilft die Exemplifizierung durch den Autor an konkreten Fällen (z. B. Neolithisierung, Megalithik, Schnurkeramik, Glockenbecher) das bis hierher abstrakte Konzept in seinem exakten Duktus zu begreifen.

Bei alledem beschleicht den Leser eine Ahnung, dass Ur-Geschichte möglicherweise nicht halten kann, was ihre Bezeichnung verspricht. In der Tat ist Hartmann Knorrs Bilanz ernüchternd: Selbst die ganz generelle Unterscheidung von Ausbreitungsvorgängen als Migration oder Diffusion kann nur unter besonders günstigen Voraussetzungen schlüssig gelingen. Ob sich die Bedingungen tatsächlich realisieren lassen, ist ungewiss. Die als Ausblick notierte Hoffnung, dass sich Schlüssel dereinst aus paläodemografischen, humangenetischen und isotopengeografischen Untersuchungen ergeben könnten, wirkt da eher wie Trotz gegen postprozessualistischen Abgesang. In dieser Haltung zur Wissenschaft finden sich Autor und Rezensent jedoch allemal, völlig ungeachtet der historischen Ratlosigkeit zum jungsteinzeitlichen Kulturwandel am Zürichsee.

Zitierweise:
Adrian Huber: Rezension zu: Hartmann Knorr, Rekonstruktion von Ausbreitungsvorgängen in der Urgeschichte. Norderstedt 2014. Zuerst erschienen in: Jahrbuch Archäologie Schweiz, Nr. 98, 2015, S. 275-276.

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Zuerst veröffentlicht in

Jahrbuch Archäologie Schweiz, Nr. 98, 2015, S. 275-276.

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