U. Urs Altermatt: Die Schweiz in Europa. Antithese, Modell oder Biotop?

Titel
Die Schweiz in Europa. Antithese, Modell oder Biotop?


Autor(en)
Altermatt, Urs
Erschienen
Frauenfeld 2011: Huber Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Josef Inauen, Universität Freiburg i.Ue.

Für den Historiker Urs Altermatt ist die Schweiz «nicht nur ein Abbild Europas im Kleinen, sondern auch ein Laboratorium, sozusagen ein Biotop, in dem historische Entwicklungen Europas erprobt werden». Er erhielt für das hier angezeigte Buch den durch eine Internet-Umfrage ermittelten «Europapreis 2011» der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz.

Mit «Europa» und den Entwicklungsformen des Nationalstaates hat sich der seit 1980 an der Universität Fribourg lehrende und 2010 emeritierte Professor für Zeitgeschichte häufig beschäftigt, unter anderem im zu einem eigentlichen «Klassiker » gewordenen «Das Fanal von Sarajevo. Ethnonationalismus in Europa», erschienen 1996 in Zürich.

Seine Abschiedsvorlesung am 7. Juni 2010 in der Aula Magna der Universität Fribourg hielt er zum Thema «Verschweizerung Europas ohne die Schweiz?»; diese erschien zusammen mit verschiedenen Beiträgen und Interviews, welche den Forscher, Lehrer und Rektor Urs Altermatt vorstellten und würdigten, 2010 unter dem Titel «Religion, Politik, Gesellschaft im Fokus» bei Academic Press in Fribourg, herausgegeben von Franziska Metzger und Markus Furrer. Die Abschiedsvorlesung nahm er – stark erweitert – an erster Stelle des Europa-Bandes wieder auf. Zu Recht weist er auf die Ambivalenz des Begriffs «Verschweizerung» hin und auf die grundlegenden Änderungen in Europa nach 1989, etwa dass der Kleinstaat Schweiz ins Mittelfeld der nach Grösse geordneten europäischen Staatenwelt aufstieg. Bei der Grundfrage «Helvetischer Sonderfall oder verschweizertes Europa» weist Urs Altermatt auf verschiedene Entwicklungsparallelen hin. Zur Stellung der Schweiz in Europa fordert Urs Altermatt, dass sie den Status eines Mitakteurs bekomme. «Ich meine», schreibt der Verfasser, «dass die Zeit für eine andere Europapolitik jenseits des Bilateralismus gekommen ist.» (S. 43) Das Allerschlimmste wäre für ihn ein Denkverbot in Bezug auf die Mission der Schweiz in Europa.

Die Essays des ersten Teils des Buches beschäftigen sich mit Europa, jene des zweiten mit der Schweiz in Europa. Altermatt hatte sich schon in jungen Jahren mit dem Thema beschäftigt und es liess ihn nicht mehr los. An der Universität Freiburg trug er als Rektor entscheidend zur Schaffung des interdisziplinären Zentrums für Europastudien bei. In den 1990er Jahren verbrachte er lange Zeit als Gastprofessor im ehemaligen Ostblock.

Die Essays im ersten Teil stellt er unter den Titel «Europa im permanenten Prozess der Neukonstruktion» und widmet sich zuerst der Frage «Was wird aus Europa ohne Gegner?» Hier analysiert er die Orientierungskrisen nach 1989 und beschreibt Europas beschwerlichen Weg zur Einigung.

Im Essay «Europa – ein variables Konstrukt» wird deutlich, dass die Grenzen im Osten und Süden umstritten und oft unklar waren. Noch nach 1989 bestimmte der Westen, was zum – westlich geprägten – Kerneuropa zählte. Die Frage ist heute noch offen, was sich im Ukrainekonflikt deutlich zeigt. Ebenso umstritten ist die Frage, wie christlich Europa sei. Dem Nationalitätenprinzip in Europa geht er im Essay «Das multiethnische Europa und seine Staatenwelt» nach und stellt dabei die politische Integration und kulturelle Diversität als Strategien für die Integration von Minderheiten dar.

Ein Thema, das Urs Altermatt im Laufe seiner Lehr- und Forschungstätigkeit immer wieder beschäftigt hat, ist die Sprachenfrage. Dieser ist das Essay «Funktionale Mehrsprachigkeit vor dem Hintergrund des Sprachnationalismus» gewidmet. Einem zentralen Anliegen entspricht sein Essay «Plädoyer für die Staatsbürger-Nation»: Staatsbürger-Nation statt ethnische Abstammungsgemeinschaft, mehrere Identitäten, Demos als Träger der Volkssouveränität statt Ethnos, Citoyen und Bourgeois – so die Programmatik Altermatts.

Im zweiten Teil des Buches vereinigt der Autor Essays zur Rolle der Schweiz für Europa: Antithese oder Modell? Und als erstes nimmt er das Thema der schweizerischen Mehrsprachigkeit als einen für Europa paradigmatischen Fall auf, wobei allerdings die Schweiz in manchen Beziehungen in Europa zu einem Normalfall geworden sei. Und trotzdem ist das, was für die Schweiz so wichtig ist, dass nämlich ethnische, religiöse und sprachliche Grenzen nicht mit den politischen übereinstimmen, für Europa nach wie vor ein wichtiges Paradigma, auch die Tatsache, dass in der Schweiz der Sprachenschutz nicht personal, sondern territorial zum Tragen kommt. Ist die Schweiz nun ein Modell für Europa? Urs Altermatt meint, dass sich von der Schweiz aus Thesen für Europa aufstellen liessen, unter anderem diejenige der doppelten Loyalitäten: einer politischen und einer kulturellen. Im Kapitel «Neutraler Kleinstaat als Passivmitglied der EU» kommt Altermatt zum Schluss, dass sich die Politik des autonomen Nachvollzugs für die Schweiz mehr und mehr als Nachteil erweise und dass die Abgabe von gewissen Souveränitätsrechten im integrierten Europa mit geteilten Souveränitäten mehr Vor- als Nachteile bringen würde. Die politischen und nationalen Parallelen verdeutlicht Altermatt dann am Beispiel Österreich, mit dem er sich im Laufe seiner reichen Forschungsarbeit mehrfach auseinandergesetzt hat.

«Warum bricht die Schweiz nicht auseinander?», so lautet die Schlussfrage Altermatts. Angesichts der heftigen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Schweiz, die schon im 17. Jahrhundert die von den Kirchenvätern übernommene, an die Schweiz angepasste Aussage «Helvetia regitur providentia Dei et confusione hominum» zum geflügelten Wort zur Charakterisierung der Schweiz werden liessen, ist diese Frage mehr als berechtigt. Urs Altermatt weist auf die Mechanismen der nationalen Integration und schliesslich darauf hin, dass die Schweiz ein Konglomerat von wechselnden Minderheiten war und ist. Er verschweigt aber nicht Tendenzen, welche eine Gefahr für den nationalen Zusammenhalt sein könnten, zum Beispiel das Streben, Französisch als erste Fremdsprache durch Englisch zu ersetzen.

Im Epilog schliesslich beantwortet Urs Altermatt die im Titel gestellte Frage: Die Schweiz ist in und für Europa Antithese, Modell und Biotop. Die Schweiz gehört zwar zu den fortschrittlichsten und am stärksten globalisierten Gesellschaften des Westens, andererseits zeigten sich in ihr die Ängste vor der Globalisierung und die Abwehr des Fremden teilweise früher als anderswo.

Die Essays Altermatts geben ein umfassendes Bild der Geschichte und Gegenwart Europas und der Beziehungen der Schweiz zu Europa. Das Buch zeigt einmal mehr, wie sehr dem Autor die europäische Geschichte, aber auch die europäische Aktualität, präsent ist. Von dieser Fülle an Wissen zu profitieren, ist für jeden Leser, welcher sich mit der Geschichte Europas und der aktuellen Debatte über Europa und den Platz der Schweiz in Europa beschäftigt, ein Gewinn und ein Vergnügen.

Zitierweise:
Josef Inauen: Rezension zu: Urs Altermatt, Die Schweiz in Europa. Antithese, Modell oder Biotop? Frauenfeld/Stuttgart/Wien: Verlag Huber, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 495-497.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 495-497.

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