Y. Zimmermann: Schaufenster Schweiz

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Titel
Schaufenster Schweiz. Dokumentarische Gebrauchsfilme 1896–1964


Herausgeber
Zimmermann, Yvonne
Erschienen
Zürich 2011: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
581 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Mirco Melone

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Die Ergebnisse der von Yvonne Zimmermann herausgegebenen Studie Schaufenster Schweiz. Dokumentarische Gebrauchsfilme 1896–1964 bedienen ein bisher vernachlässigtes Feld der Filmgeschichtsschreibung. Das gilt auch noch fünf Jahre nach ihrem Erscheinen. Mehr noch: Die Ergebnisse korrigieren bisherige Narrative zur Schweizer Filmgeschichte, in denen dokumentarische Gebrauchsfilme bisher höchstens marginal Beachtung fanden. Darum lautet das ambitioniert formulierte Ziel der Studie «eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des dokumentarischen Films in seinen Produktions-, Verwendungs- und Adressierungszusammenhängen des Tourismus, der Industrie, der Volksbildung und der Schule» zu schreiben (S. 16). Denn den Anhängern des Autorenfilms sei es gelungen, ihre Vorstellung von Dokumentarfilmen zu festigen und «frühere, beziehungsweise andere Formen und Praktiken so nachhaltig zu diskreditieren, dass die Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz vor 1960 in weiten Teilen bis heute nicht geschrieben wurde» (S. 15). Die geneigte Leserschaft bekommt die Fronten also gleich zu Beginn klar aufgezeigt.

Die vorliegende Studie resultiert aus dem Forschungsprojekt Ansichten und Einstellungen: Zur Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz, das von 2002 bis 2006 am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich durchgeführt wurde. Aus in- und ausländischen Archiven werteten die Autoren einen Quellenkorpus von über 1200 Filmen aus. Der methodische Fokus war dabei ein doppelter: Einerseits wurden mit seriellen Analysen bildliche Motive, narrative Strukturen und rhetorische Strategien der Filme unter die Lupe genommen. Andererseits wurden ihre Herstellungs-, Vertriebs- und Rezeptionsverhältnisse über zusätzliche Schriftquellen wie Nachlässe, Firmenunterlagen, Dokumente zur staatlichen Filmpolitik sowie Zeitungen und Zeitschriften durchleuchtet. Entstanden ist ein umfangreicher, die konzeptionellen und historischen Kontexte des dokumentarischen Gebrauchsfilms darlegender erster Buchteil, auf den drei historische Analysen übergeordneter filmischer Themenfelder folgen: die von Pierre-Emmanuel Jaques erforschten Reise- und Tourismusfilme, die von der Herausgeberin untersuchten Industriefilme sowie die von Anita Gertiser analysierten Schul- und Lehrfilme.

Die grosse Stärke und Einzigartigkeit der Studie liegt im gemeinsamen Fokus der Autoren auf das «Aufführungsereignis» (S. 17). Dadurch geraten nicht nur das in der Filmgeschichtsschreibung lange bevorzugte Kino, sondern eben auch alternative Orte – die «non-theatrical exhibition»1 – wie Messen und Ausstellungen, Schulen, Fabriken, Vereinslokale, Gaststätten, Gemeindesäle oder Turnhallen in den Blick. Dort nutzten die Film-Auftraggeber die für sie produzierten Filme als «mediale Werkzeuge» (S. 45) unter anderem zur Werbung, Erziehung, Firmenkommunikation oder zur Unterhaltung. Überzeugend schälen die Autoren heraus, wie die «Multifunktionalität» (S. 79) der Gebrauchsfilme ihre Rezeption bestimmte: Die unterschiedlichen, flüchtigen Bedeutungen der Filme wurden über ihre jeweiligen Herstellungs- und Nutzungskontexte festgelegt. Mit diesem Interesse für die sozialen und ökonomischen Gebrauchszusammenhänge der Filme in verschiedenen Milieus rücken Zimmermann, Jaques und Gertiser auf produktive Weise in eklatante Nähe zu Bourdieus Sozialstudien zur Fotografie.2 Sie offenbaren den Lesern damit die medialen Infrastrukturen, also die Zusammenhänge der Herstellung, der Gestaltung und des Einsatzes von Gebrauchsfilmen – ein Aspekt, der auch bei der Analyse anderer Medienformen nicht selten verdeckt bleibt, jedoch abseits der medialen Inhalte auf Bedeutungen einwirkt.

Gerade dieser Fokus auf die Rahmenbedingungen des Gebrauchsfilms vor der Einführung der Eidgenössischen Filmförderung 1963 deckt auf, wie sehr die historiografisch bisher vernachlässigte Gebrauchsfilm-Produktion die wirtschaftliche, technische und personelle Grundlage der gesamten schweizerischen Filmbranche war. Tourismusverbände wie die Schweizerische Verkehrszentrale oder die schweizerische PTT, Unternehmen wie Nestlé und Maggi sowie Institutionen für schulische Bildung wie der Schweizerische Schul- und Volkskinematograph oder die SAFU Zürich alimentierten mit ihren Aufträgen Filmlabore, technische Geräte für Postproduktion und sicherten Ausbildung und die Beschäftigung qualifizierter Mitarbeiter, die letztlich auch den freien Film ermöglichten. Dieses «einheitliche Produktionsmilieu» begünstigte die «Zirkulation von Stoffen, technischen Mitarbeitern und Schauspielern» (S. 300). Es bestand eine Durchlässigkeit zwischen freien und Auftragsfilmen: Schauspieler waren sowohl in kommerziellen Kinofilmen, als auch in Auftragsproduktionen zu sehen; Regisseure, Cutter, Komponisten und Kameraleute betätigten sich auf beiden Seiten. Die vorliegende Studie liest sich daher auch als ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Mediums Film in der Schweiz.

Den Blick hinter das filmische Bild reichern die Autoren mit Filmbild-Analysen an, die der Studie ihren Titel gaben. Ihre Kernthese lautet, dass dem dokumentarischen Gebrauchsfilm aufgrund der Masse der Filme und ihrer weiten Verwendung im In- und Ausland eine nationale Schaufensterfunktion zukam. Die für dieses medial konstruierte Selbst- und Fremdbild des Landes genutzten Motive scheinen seit Beginn der Filmgeschichte äusserst beständig zu sein, sind sie doch auch heute noch omnipräsent: Berglandschaften, Handwerk, Bräuche, Volkssportarten. Die historischen Veränderungen fanden abseits bildlicher Sujets statt. Beispielsweise über Anleihen bei fiktionalen Erzählstrukturen des Spielfilms, die Jaques ab den 1930er Jahren für den Tourismusfilm diagnostiziert. Oder der von Zimmermann angeschnittenen, seit den 1950er Jahren eingesetzten fiktionalen Vertonung von Industriefilmen. Das repetitive Beibehalten der Motive, die gleichzeitig mit immer wieder angepassten Erzählstrategien erneuert wurden, verstärkte eine stereotype Rezeption der Schweiz. Für die Leserschaft erhellend ist der ikonologisch scheinbar gemeinsame Nenner der dokumentarischen Gebrauchsfilme, der sich um ein bildrhetorisch inszeniertes Spannungsfeld zwischen Tradition und Modernisierung gruppiert. Jaques schreibt vom «Bild einer doppelten Schweiz» (S. 206): Das Schaufenster zur Schweiz zeigt ein Land zwischen traditionellen Berg- und Brauchtumsmotiven und modernen, innovativen technischen Bildmotiven wie Eisenbahnen, Städten und Fabrikanlagen – eine Metapher für den dokumentarischen Gebrauchsfilm vor 1964, wie sie aktueller kaum sein könnte.

Es bleibt abschliessend festzuhalten, dass die Autoren ihrem einleitend reklamierten Anspruch durchwegs gerecht werden: Schaufenster Schweiz bietet «eine Grundlage für eine Mediengeschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz» (S. 15–16). Zwar atmet die Studie merklich die Luft der Legitimierung gegenüber gängigen filmwissenschaftlichen Narrativen und Ansätzen, weil sie mit dem dokumentarischen Gebrauchsfilm eben eine Gattung stark macht, die bisher vernachlässigt wurde. Dennoch dürften die hier versammelten Ergebnisse zumindest für die Historiografie des schweizerischen Films einen interessanten Wendepunkt darstellen, der auch in die Bereiche anderer prägender Medienformen des 20. Jahrhunderts, beispielsweise der Fotografie, ausstrahlen wird. Gelesen als «Entwurf einer Landkarte, der das Feld absteckt und vermisst, Topografien skizziert und Markierungen setzt, die Orientierungshilfen und Wegweiser für weitere Forschungen bieten können» (S. 23), liefert die gelungene Studie gerade für eine transnationale Verflechtungsgeschichte zahlreiche Anknüpfungspunkte, um länderübergreifende Praktiken sowie Tendenzen in Form, Funktion und Verwendung des dokumentarischen Gebrauchsfilms vergleichend zu analysieren und zu historisieren.

1 Anthony Slide, Before Video. A History of the Non-Theatrical Film, Westport 1992.
2 Pierre Bourdieu, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a.M. 1981.

Zitierweise:
Mirco Melone: Rezension zu: Yvonne Zimmermann (Hg.), Schaufenster Schweiz. Dokumentarische Gebrauchsfilme 1896–1964, Zürich: Limmat Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 489-491.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 489-491.

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