N. J. Bettlé: Wenn Saturn seine Kinder frisst

Cover
Titel
Wenn Saturn seine Kinder frisst. Kinderhexenprozesse und ihre Bedeutung als Krisenindikator


Autor(en)
Bettlé, Nicole J.
Reihe
Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit 15
Erschienen
Bern 2013: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Simone Zweifel

Die auf die Frühe Neuzeit fokussierte Dissertation von Nicole J. Bettlé befasst sich mit «Kinderhexenprozessen». Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Prozesse aus dem Gebiet der heutigen Schweiz. Als «Kinderhexenprozesse» definiert die Autorin Fälle, die Personen im Alter von einem bis vierzehn Jahren betrafen (162). Ihr Überblick, der nach Kantonen gegliedert ist, basiert auf der bereits bestehenden Forschung zu Hexenprozessen, aus der Bettlé die «Kinderhexen»-Fälle kompilierte. Diese Sammlung, die sehr breit gehalten ist – insgesamt werden 127 Fälle beschrieben –, stellt denn auch ihr wichtigster Beitrag zur Forschung dar. Anhand dieser Fälle geht sie folgenden Fragen nach: «1) Wie war es möglich, dass die Beseitigung der Nachfolgegeneration sowohl im Glauben als auch im Recht seine Berechtigung erhielt? und 2) Ist auch bei Kindern und Jugendlichen eine Zunahme an Melancholie- und Suizidfällen auszumachen?» (28). Auf diese Fragen geht sie im letzten Teil ihrer Arbeit ausführlicher ein.

Im ersten Teil beschäftigt sich Bettlé mit «Vorstellungswelten: Volkstümliche[n] und christliche[n] Glaubensvorstellungen». Hier werden verschiedene Imaginationen und Vorstellungen von Dämonischem und Teuflischem präsentiert. Unterschiedliche Rechtsvorstellungen sowie «Hexereidelikt und kindliche Straftäter» sind Thema des zweiten Teils. Angesprochen werden Kirchenrecht und weltliches Recht, Inquisition und «Kanonische Literatur» sowie die europäische und die schweizerische Rechtslage (97–127). Nach dieser breiten Einführung steht das Kind als Rechtsobjekt, Rechtsperson sowie «im Hexenprozess» im Vordergrund (127–160). Dieses Kapitel gibt einen interessanten Einblick in die Rechtsgeschichte, wobei nicht immer klar wird, von welchem Raum und welcher Zeit die Rede ist. Im dritten Teil geht die Autorin ausführlicher auf «Kinderhexenprozesse» in der Schweiz ein, im vierten Kapitel will sie sich mit «Kinderhexenprozessen» «in Europa und der Neuen Welt» befassen, aber die Quellenauszüge aus der «Neuen Welt» haben den Weg in die Publikation nicht gefunden. In ihren Konklusionen stellt die Autorin u.a. fest, dass die «Hexenprozesse [...] keine Randerscheinung der Erwachsenenverfahren, sondern Teil der Hexenverfolgung» (268) waren und dass zeitgenössische Personen oft vom eigenen Umfeld der Hexerei beschuldigt wurden (267). Anhand der von ihr untersuchten Fälle kann sie auch feststellen, dass verdächtige Kinder meist zuerst über ihre «Verführung» befragt wurden, wobei häufig Familienangehörige als Verführende genannt worden seien (269). Wegen der Familie seien auch viele Kinder in Verruf geraten, «Hexenkinder» zu sein (271). Des Weiteren schreibt Bettlé, dass «sich Fremd- und Selbstbezichtigungen immer wieder gegenseitig ablösten» und dass die Grenze zwischen «Besessenheit» und «Hexerei» fliessend gewesen sei (273f). Als häufigste Strafen nennt die Autorin die Hinrichtung sowie den Ausschluss aus der Gesellschaft (276f).

Im fünften Teil geht Bettlé ausführlicher ihren in der Einleitung gestellten Fragen nach. Hier äussert sie die historisch-psychologische These, dass aufgrund von «Überbevölkerung» ein «Platzmangel» entstehe, der Angst auslöse und zu «Angst-Aggressionen» führe (335). Eine solche Angstabwehr könne den Suizid auslösen (336). Zauberei- und «Hexerei»-Auffassungen würden Angstzeiten darstellen, dies seien Zeiten, in denen «ein ganzes Kollektiv in Erregung» versetzt sei (338). Auf dem Höhepunkt solcher Krisen würden Kinder «geopfert», dies sei «zwar gerne tabuisiert, ist aber an und für sich nichts Neues» (339). Damit scheint sie ihre beiden Fragen beantworten zu wollen: Mit der Angst und der Krise. Die Antwort auf die zweite Frage, jene nach der Zunahme von Melancholie- und Suizidfällen bei Kindern und Jugendlichen, findet sich nach der Autorin in den Protokollen der Hexenverfahren, aber auch in den zeitgenössischen Gelehrtendiskursen: «Denn als im 17. Jh. die Kinderhexenprozesse auf ihrem Höhepunkt standen, registrierte man auch erstmals eine zunehmende Zahl an Gemütserkrankungen und Selbsttötungen unter Kindern und Jugendlichen» (412). Wer das registrierte, bleibt jedoch ebenso unklar wie die Frage, inwiefern dieses Phänomen, wenn es denn tatsächlich existierte, mit den von Bettlé gesammelten «Kinderhexen»-Fällen zusammenhing.

Insgesamt bietet Nicole J. Bettlé einen reich illustrierten Überblick über Hexen-Bilder verschiedener Epochen und behandelt unterschiedliche Themen rund um «Kinderhexenprozesse». Doch was sind eigentlich «Hexenkinder»? Die bereits angesprochene Definition findet sich erst auf 162: «Die hier im Mittelpunkt stehenden Kinder waren alle zwischen 1–14 Jahre alt, als sie als vermeintliche Täter resp. Bezauberte in ein Hexereiverfahren verstrickt wurden. Diese altersbezogene Komprimierung ergab sich aus nachvollziehbaren Gründen, denn der philologischen Deutung zufolge definiert der Begriff ‹Kind› (germ.) ‹den Menschen von seiner Geburt bis zum 14. Lebensjahr›» (162; Bettlé zitiert hier den «Der Grosse Brockhaus», Bd. 6, Wiesbaden 1955, 373). Zwar gibt die Autorin an anderer Stelle weitere Begründungen zur Altersangabe, aber nicht zu ihrer Entscheidung, die Definition ihres Gegenstands anhand eines beliebigen modernen Lexikoneintrags vorzunehmen. Wie bereits angesprochen, handelt es sich bei den von Bettlé ausgewählten Quellen nur um Sekundärquellen, «um die Einträge verschiedenster (insbes. Schweizer) Auto¬ren des 18.–21. Jhs.» (163). Die Autorin verlässt sich folglich ausschliesslich auf die bisherige Forschung (164). Dies ist deshalb schade, weil in einigen Archiven (z.B. in St. Gallen) durchaus noch unausgewertete Quellen zum Thema zu finden wären. Bettlé konstatiert selbst, dass die Angaben oft unvollständig seien und viele Fragen unbeantwortet blieben; dieser Tatsache soll – so ihre Aussage – «soweit wie möglich durch eine grosse Anzahl entgegen gewirkt werden» (164). Eine große Anzahl hilft jedoch auch nicht weiter, wenn im Quellenteil keine Analyse der zugrundeliegenden Dokumente, geschweige denn eine Quellenkritik (z.B. mit Bezugnahme auf die Textgattungen, die bei Hexenprozessakten von höchster Relevanz sind) geboten wird: Hier werden Geschichten von «Hexenkindern» erzählt. Inwiefern diese von ZeitgenossInnen als «Hexen» wahrgenommen wurden, oder dass gewisse Aussagen mög-licherweise auch aufgrund von Folter oder wegen spezifischer Fragen von Verhörenden zustande gekommen sein könnten, wird nicht reflektiert. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Kombination aus mangelnden Belegen und pauschalen Verallgemeinerungen: Vielfach werden Aussagen gar nicht, oder nur mit Bildern (u.a. 62, 396), Sagen (u.a. 130) oder Bibelzita-ten (u.a. 44) belegt – und durch die wiederholten Verwendungen von Au¬drücken wie «seit jeher» (29, 37, 55, 66) oder «schon immer» (48, 84, 87) bleibt in vielen Fällen unklar, auf welchen Raum oder Zeitraum sich die Autorin bezieht. Diese Punkte führen dazu, dass viele Aussagen der Autorin, aber auch ihre These und die darauf gegebenen Antworten für die Lesenden kaum nachvollziehbar sind.

Zitierweise:
Simone Zweifel: Rezension zu: Nicole J. Bettlé, Wenn Saturn seine Kinder frisst. Kinderhexenprozesse und ihre Bedeutung als Krisenindikator (=Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit 15), Bern [et al.], Peter Lang, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 550-551.