G. Pfleiderer u.a. (Hrsg.): Religions-Politik I.

Cover
Titel
Religions-Politik I.. Zur historischen Semantik europäischer Legitimationsdiskurse


Herausgeber
Pfleiderer, Georg; Alexander, Heit
Erschienen
Zürich 2013: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nicolai Hannig, Fakultät für Geschichtswissenschaft Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

«Entscheidung», «Souveränität», «Menschenwürde», «Europa» und «Recht» sind die Schlüsselbegriffe, entlang derer die Fellows einer kleinen Forschergruppe die Verbindungen von Religion und Legitimität ergründet haben. Hervorgegangen ist der hier zu besprechende Sammelband aus einer rund zweijährigen Arbeit im Forschungskolleg Forschungskolleg des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik/Collegium Helveticum-Basel an der dortigen Universität. Er enthält fünf ausführliche Beiträge, in denen die Autorinnen und Autoren jeweils einen dieser «Grossbegriff(e) politischer Semantik» (7) analysieren, indem sie ihn auf religiöse Kodierungen hin befragen und gleichzeitig legitimationstheoretisch beleuchten. Hinzu kommen eine Einleitung, die die Forschungsthesen systematisiert, in ihrer Gliederung jedoch an der Trennung der fünf Begriffe festhält, sowie eine Einführung in die Thematik des Bandes, die die historischen und gesellschaftlichen Kontexte der semantischen Analysen skizziert.

Diese Einführung – von allen fünf Autoren gemeinsam verfasst – kontextualisiert überwiegend für das 20. und 21. Jahrhundert, greift jedoch, sofern es um Prozesse der europäischen Nationswerdungen geht, bis ins 18. Jahrhundert zurück. Dass die Kirchen und andere Religionsvertreter in den Nationsbildungen nicht nur eine Rolle spielten, sondern zum Teil weitreichende Einflusssphären hatten, deuten die Autoren mehrfach an, etwa wenn sie auf Mehrfachnutzungen christlicher Ikonografien verweisen, die sowohl Sache der Kirchen als auch Sache frühneuzeitlicher Staaten waren. Damit spielen sie auf einen fundamentalen Wandel in der Herrschaftslegitimation an, den allerdings nur der Beitrag von Thomas Maissen explizit aufgreift. Des Weiteren machen die Autoren insgesamt fünf Grenzdiskurse aus, in denen sie religiöse Kommunikation zwischen Bürgern und Staat vermuten. Neben zivilreligiösen und ethischen Bereichen identifizieren sie zudem die transnationale Migration, die Tiefengrammatik von Wertesystemen sowie die Europäische Union als solche untersuchungswürdigen Diskursebenen. Die jeweiligen Akteure bleiben dabei zunächst jedoch unbekannt.

Im ersten empirischen Beitrag postuliert Helmut Zander zunächst eine enge Verbindung zwischen der europäischen Ideengeschichte des Toleranzkonzeptes und der Christentumsgeschichte. Grundlage dieser Zusammengehörigkeit sei eine Religionszugehörigkeit, der grundsätzlich eine Entscheidungsmöglichkeit, keine Determination eingeschrieben sei. Seit der Spätantike habe sich durch das Christentum die Option etabliert, sich weitgehend unabhängig für eine Religion entscheiden zu können, obgleich dies immer wieder zu Konflikten führte. Für Zander erscheint damit – in vergleichender Perspektive mit dem Hinduismus und Buddhismus – die enge Verflechtung von Religion und Entscheidung als Charakteristikum christlicher Religion. Festzuhalten bleibt aber auch, dass es sich über die Jahrhunderte hinweg hierbei zumeist um eine Tradie¬rung innerhalb elitärer Diskurse handelte, die der Praxis familialer Tradierung in vieler Hinsicht entgegenstand.

Thomas Maissen wendet sich dahingegen dem neuzeitlichen Konzept der Souveränität zu, das stets danach strebe, die Funktionalität von Herrschaft konstitutionstheoretisch aufzuladen. Er beschreibt «die frühneuzeitliche Transformation des Politischen als Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols» und legt dabei besonderes Augenmerk auf dessen Deutung in zeitgenössischen Bildquellen (75). Vorrangig erkennt Maissen dabei eine Ikonologie des Familiären und der Sexualität innerhalb der neuen politischen Bilderwelt christlicher Prägung, die zugleich die politische Grundbeziehung von Souverän und Repräsentant prädestinierte.

Arnulf von Scheliha fragt anschließend nach dem Wandel legitimatorischer Bedeutung von Religion für den demokratischen Staat und rückt dabei die begrifflichen Konnotationen von Nation und Menschenwürde in den Vordergrund. Dies mag zunächst verwundern, zählen beide Konzepte doch nicht notwendig zur Riege reli-giöser Begriffe (sofern es solche überhaupt geben mag). Doch von Scheliha vermag zu zeigen, wie sie im Zuge der Debatten etwa in der Frankfurter Nationalversammlung bzw. in gegenwärtigen Legitimationsdiskursen muslimischer Intellektueller eine deutlich religiöstheologische Aufladung erfuhren, die zuweilen markante In- und Exklusionseffekte zeitigte. So verwerfe die EU gegenwärtig den Laizismus und bevorzuge ein «Modell, das den spezifischen Interessen und zivilgesellschaftlichen Aufgaben der Religionsgemeinschaften Rechnung trägt», ganz bewusst ohne dabei bestimmte religiöse Gemeinschaften und Traditionen zu bevorzugen (240).

Otto Kallscheuer fragt in seinem rund 100 Seiten starken Beitrag, inwieweit sich die Europäische Union in einer Legitimationskrise befinde. Zunächst beobachtet er, wie sich während der Griechenlandkrise eine auffallende Machtverschiebung bemerkbar machte, und zwar vom Europäischen Parlament selbst hin zu eher informellen Gremien. Zugleich identifiziert Kallscheuer Tendenzen einer Psychologisierung von Souveränitätskonzepten, die eher theologische Deutungen verdrängt haben. Letztlich endet seine Analyse in einer generellen Offenheit, die dem gegenwärtigen Europa zwar mangelnde Koordination und fehlendes Selbstvertrauen attestiert, aber dennoch eine erfolgreiche Identitätsbildung in Aussicht stellt, zumal gerade jene Krisenzeiten und die damit verbundenen Reflexionen zur Wesensfindung dienen.

Abschließend untersucht Rja Sakrani den Wandel islamischer Rechtskulturen in Europa und versucht dabei, den Begriff der «Geltungskultur» rechtsphilosophisch zu unterfüttern. Ist also, so fragt sie gleich zu Beginn in Anspielung auf den arabischen Frühling, «an die Stelle der Religion im idealtypischen Legitimationsmodell islamischen Rechts und islamischer Herrschaft ein anderer Legitimationsproduzent getreten?» Auch diese Frage bleibt, ähnlich wie bei Kallscheuer am Ende offen. So begegneten sich traditionalistische Eliten und andere Autoritäten, für die der europäische Raum vor allem ein Kriegsgebiet sei, sowie liberale Protagonisten eines EuroIslam mittlerweile fast auf Augenhöhe. Was sich daher anbahne, sei ein «dritter Weg», der zu einer Minoritätenjurisprudenz führe, sei sie islamisch oder sei sie islamkonform.

In ihrer Einführung fragen die Herausgeber, was sich aus den Analysen der einzelnen Beiträge für den religiösen Legitimierungsbedarf unserer heutigen Gesellschaft folgern ließe. Eine Antwort deuten sie dabei bereits selbst an. So ori-ntiere sich der Legitimierungsbedarf an einem spezifischen, historisch wandelbaren Subjektverständnis, für das freie Entscheidungen, genauso wie delegierbare Souveränität, durch gemeinsame Prägun-gen etablierte Sozialität und Menschenwürde als «unveräusserlicher Höchstwert» kennzeichnend seien. Als Leser mag man diesem freilich kaum überraschenden Resümee gerne zustimmen, auch wenn die Frage, wer Legitimität letztlich stiftet, damit offen bleibt. Jene Legitimitätsstifter finden sich in den Diskursanalysen der einzelnen Beiträge jedoch wieder. Ihr Profil muss der Leser allerdings eigenständig zusammensetzen. Die beeindruckende Dichte aller Beiträge liefert eine außerordentlich breite Grundlage dafür.

Zitierweise:
Nicolai Hannig: Rezension zu: Georg Pfleiderer/Alexander Heit (Hg.), Religions-Politik I. Zur historischen Semantik europäischer Legitimationsdiskurse, TVZ, Zürich, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 527-529.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit