B. Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg

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Titel
Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten, Überleben, Verweigern


Autor(en)
Ziemann, Benjamin
Erschienen
Essen 2013: Klartext Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Der seit 2005 an der Universität Sheffield lehrende Historiker aus der Bielefelder Schule hat seine grosse Untersuchung zum Verhältnis von Front und Heimat 1997 publiziert und bereits zuvor, 1994, zusammen mit Bernd Ulrich einen Dokumentenband zum Frontalltag im Ersten Weltkrieg veröffentlicht. Jetzt fokussiert er seine jüngste Publikation auf das Problem der Gewalt. Die vorgenommene Dreiteilung der Thematik – Gewaltpraxis, Gewaltverweigerung und Gewaltverarbeitung – leuchtet ein. Aber sie spannt einen derart weiten Bogen, dass manches bloss knapp angesprochen werden kann. Im Abschnitt zum Beispiel über die Deutungsmuster beschränken sich die Ausführungen über die religiösen Deutungen des Krieges («Strafgericht Gottes», etc.) auf zwei Seiten (39/40). Es bietet sich, was den Forschungsdesign betrifft, das Bild nicht der Schützen- sondern der Sondierungsgräben an. Im Französischen würde man von «pistes» sprechen, es sind aber eher Flecken in einem sehr weiten Feld.

Zum einen Teil sind es ältere, neu aufbereitete Texte, zum anderen Teil handelt es sich um Erweiterungen und Ergänzungen. Die so genannte Flughöhe wechselt mehrfach abwechselnd von eher synthetisierenden und abstrakten zu wiederum sehr detailreichen und konkreten Passagen. Nach der starken Einleitung flachen die weiteren Ausführungen fast linear ab und enden in einem völlig offenen, jede Abrundung entbehrenden Schluss. Andererseits nimmt der Autor wichtige Relativierungen und Korrekturen bestehender Vorstellungen vor, etwa der Theorien des «enjoying of killing» oder des «Todestriebs». Gegen pauschalisierende Thesen zeigt er auf, dass individuelles wie kollektives Verhalten stark von der Situation und dem Kontext abhängen und sich auch hinsichtlich der «Kriegsschauplätze». Neben den bekannten Vorgängen in Belgien tauchen die weit weniger bekannten Gewaltexzesse in Serbien auf. Man wird daran erinnert, dass eine wichtige Zielsetzung von Kriegen neben den territorialen Gewinnen in der «körperlichen Verheerung des Gegners» besteht, der Hauptteil des Tötens jedoch über die Fernwaffe der Artillerie erfolgte und der Anteil der Grabenkämpfe mit Pistole, Bajonett und vor allem mit Handgranaten wesentlich geringer war, als man sich vorstellt. Weniger wichtig als die verstreut ebenfalls vermittelten Gefallenen- und Verwundetenzahlen sind die Quellen, die etwas zur Praxis des Tötens und zur Einstellung zu dieser Art von «Arbeit» aussagen. Ein eigenes Kapitel ist Ernst Jüngers Tagebuchaufzeichnungen 1914–1918 gewidmet, die von den bekannten «Stahlgewitter»-Publikation von 1920 erheblich abweichen. Andere, sehr textnahe gehaltene Rekapitulationen gelten einigen Selbstzeugnissen von «einfachen Soldaten» im Sinne einer «Militärge- von unten», da tauchen kleine Hinweise auf das Gebetsverhalten von Soldaten auf. Ebenfalls in einem etwas eigenartigen Verhältnis zu anderen Teilen des Buches ist die ausführliche Analyse zweier literarischer Bestseller zum Etappenmilitarismus im besetzten Belgien und Nordfrankreich. Ein spezieller Abschnitt ist dem Umgang mit sich ergebenden Geg-nern gewidmet. Ziemann zeigt überzeugend auf, dass man auch da kaum generalisierende Aussagen machen kann, dass das Verhalten in hohem Mass von den konkreten Verhältnissen abhing, dass abwechselnd Emotion und Rationalität im Spiel sein konnten und das Schicksal der sich ergebenden Kämpfer auch von den Abführungsmöglichkeiten und vom Interesse an einer nachrichtendienstlichen Auswertung der Gefangengenommenen abhing.

Die Untersuchung gilt weitestgehend den Verhältnissen auf deutscher Seite. Dann und wann, aber sehr unsystematisch, wird mit nichtdeutschen (britischen, französischen, italienischen) Verhältnissen verglichen, was die Aussagekraft punktuell wesentlich erhöht. Im Kapitel der Gewaltvermeidung gehen die Ausführungen speziell auf die elsässischen «Kriegsunfreiwilligen» ein und tauchte die Schweiz als eine der möglichen Fluchtdestinationen von Deserteuren auf (96). Das Kapitel zur Gewaltverarbeitung verhandelt die Frage, inwiefern im Krieg bei der Truppe eingetretene Brutalisierung in der Nachkriegszeit weitergewirkt hat. Dieser bestehenden und auch nicht ganz falschen Vorstellung hält der Verfasser aber die Beobachtung entgegen, dass ein Teil der in den ersten Weimarer Zeit aufgetretenen Gewalt in den Nachkriegsjahren selbst begründet war. Was von vielen Publikationen gesagt werden kann, gilt bei dieser anregenden Arbeit in besonderem Mass: Sie muss in den Köpfen der Leser weiterbearbeitet werden.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Benjamin Ziemann, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten, Überleben, Verweigern, Klartext Verlag, Essen, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 515-517.

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