P.-P. Bänziger u.a. (Hrsg): Histories of Productivity

Cover
Titel
Histories of Productivity. Genealogical Perspectives on the Body and Modern Economy


Herausgeber
Bänziger, Peter-Paul; Suter, Mischa
Erschienen
London 2016: Routledge
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
£ 120.00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Daniel Monninger, SFB/TRR "Dynamiken der Sicherheit", Philipps-Universität Marburg

Kulturgeschichtliche Zugriffe auf die moderne Wirtschaft und modernes Wirtschaften erfreuen sich seit einiger Zeit verstärkter Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft.1 Der vorliegende, von Peter-Paul Bänziger und Mischa Suter herausgegebene Sammelband, der auf eine Tagung an der Universität Basel im Jahr 2014 zurückgeht2, macht diese Ansätze für ein internationales Publikum zugänglich und erweitert sie zugleich um eine spezifische Perspektive: einen körperhistorischen Zugriff auf Produktivität. Der Band kann somit als Fortsetzung und Erweiterung der Ideen gelesen werden, die unter der Überschrift „Fordismus“ bereits das Eröffnungsheft der Zeitschrift „Body Politics“ informierten, das ebenfalls von Bänziger herausgegeben wurde.3

Die neun empirischen Beiträge sind in zwei chronologische Blöcke (Frühneuzeit/19. Jahrhundert sowie 20. Jahrhundert) geteilt, die jeweils von einem knappen Überblick von Bänziger und Suter eingeführt werden, ergänzt durch ein kurzes Nachwort von Andrew Zimmerman. In der Einleitung umreißen die Herausgeber, unterstützt von Marcel Streng, das avisierte Forschungsfeld und seine Perspektiven. „Productivity“ wird dabei, mit Walter B. Gallie, als „essentially contested concept“ (S. 1) eingeführt, das gerade aufgrund seiner Umkämpftheit eines der zentralen Themen der Geschichte der modernen Ökonomie habe werden können. Produktivität ist hier zunächst Quellenbegriff, auf den das Erkenntnisinteresse gerichtet ist, wie er „both a guiding concept of economic thought and the framing principle of a variety of economic practices“ (S. 2) werden konnte. Der „Körper“ hingegen soll konzeptionell als „interface“ (ebd.) verstanden werden, das die historisch verschiedenen Aspekte und Bedeutungsebenen der Produktivität verbindet. Mit dem auf Foucault rekurrierenden Regime-Begriff ist eine genealogische und konstruktivistische Perspektive auf Produktivität verbunden, die es bewusst vermeidet, „any conceptual a priori“ (S. 12) vorzugeben und stattdessen den „border traffic between fields of knowledge and domains of practice” (S. 10f.) in den Blick bekommen möchte.

Diese konzeptionelle Offenheit führt mit ihrer (bewussten) Unschärfe des Begriffs „Produktivität“ dazu, dass ein roter Faden nur schwer erkennbar bleibt und der Band weitgehend auf die Qualität der Einzelbeiträge zurückgeworfen wird, die munter zwischen „productivity“ als Quellenbegriff und als Analysekategorie springen. Nicht immer ist dabei ein direkter Bezug zu einer körperhistorischen Analyse von „regimes of productivity“ auszumachen. Die Einzelbeiträge überzeugen überwiegend als Texte, jedoch nicht in allen Fällen als genuin körperhistorische Beiträge zum Thema Produktivität.

Das ist nicht zuletzt insofern bedauerlich, als sich die Einleitung selbst auf mehreren Seiten einer höchst instruktiven Begriffs- und Konzeptgeschichte der Produktivität widmet. Sie mündet in drei Schlüsse, die zusammengenommen das Hauptargument des Bandes bilden sollen: Erstens habe sich die Reichweite des Produktivitätskonzepts von der Mitte des 18. bis ins 20. Jahrhundert zunehmend erweitert. Zweitens hätten die ökonomischen Wissenschaften die Verbindung zwischen Produktivität und deren materiellen Grundlagen (Boden, Körper, Objekte) im Prozess der Theoretisierung und statistischen Modellierung zunehmend gelockert. Trotzdem sei, drittens, die körperliche oder materielle Dimension der Produktivität nie ganz verschwunden.

Es ist angesichts der konzeptionellen Weite des Regime-Begriffs und seiner genealogischen Betonung von Diskontinuitäten durchaus bezeichnend, dass der Band mit einem Aufsatz von Justus Nipperdey beginnt, der zunächst beschreibt, wie im frühneuzeitlichen Diskurs der „bioeconomics“ der menschliche Körper unsichtbar gemacht wurde – um dann von „population“ zu handeln. Obwohl mit der „Produktivität“ auch das andere Leitkonzept des Bandes nur durch indirekte Verwandtschaft („growth“) als Analysekategorie Verwendung findet, gelingt Nipperdey eine elegante Volte, die die thematische und analytische Leerstelle hinsichtlich „Produktivität“ und „Körper“ kreativ nutzt, um ein neues Argument zu formulieren: Gerade aufgrund der Abwesenheit eines genuinen Produktivitätskonzepts seien Produktionssteigerungen nur über mehr Arbeitsstunden von zusätzlichen Arbeitern möglich gewesen. Insofern galt: „the productive element was the procreating body“ (S. 37).

Leider gelingt der anspruchsvolle Spagat zwischen eigenen Forschungsinteressen und der nicht immer ausreichend festen konzeptionellen Klammer des Bandes nicht allen Beiträgen gleichermaßen. Dies zeigt sich bereits in den beiden Aufsätzen, die den geographischen Fokus auf den afrikanischen Kontinent ausdehnen. Dabei gerät, im Falle von Cassandra Mark-Thiesens Beitrag zum „lazy African“-Mythos im 19. Jahrhundert, der die Ausschließung afrikanischer ArbeiterInnen aus einem europäischen Produktivitäts-Diskurs anhand der Kriterien „race“ und „gender“ behandelt, Produktivität zum weitgehend unbestimmten Container-Begriff. Produktivität wird hier schlicht mit einer (protestantischen) „work ethic“ (S. 53) oder, noch allgemeiner, mit europäischen Vorstellungen von wertschaffender Arbeit gleichgesetzt. Noch einen Schritt weiter in der Emanzipation von den analytischen Vorgaben des Sammelbandes geht Tristan Oestermann, der sich in einem gründlich recherchierten und quellengesättigten Beitrag über Gummi-Produktion und -Handel in Westafrika mit dem Hinweis begnügt, die historischen Akteure hätten den Begriff „Produktivität“ schlicht nicht verwendet. Auch mit körperhistorischen Überlegungen hält er sich nicht weiter auf.

Es finden sich jedoch auch Beiträge, die die Produktivitätsfrage aus körperhistorischer Perspektive anvisieren. Sandra Maß macht mit ihrem Beitrag zur monetären Erziehung von Kindern im 19. Jahrhundert Produktivität explizit als Analysekategorie nutzbar und charakterisiert diese als implizit in den Körper des Kindes eingeschriebene Norm. Ziel sei die Formung von Kindern zu „productive citizens“ (S. 87) gewesen, wobei sich die Ideale dieser Form von Produktivität im Laufe des 19. Jahrhunderts von „benevolence“ zu „consumption“ verschoben hätten. Die monetäre Erziehung habe sich dabei dreier Techniken bedient, die auf den Körper und die Regulierung von Emotionen zielten: „the construction and bodily control of needs, learning and training how to use money adequately and, finally, acquiring knowledge about money“ (S. 75). François Jarrige gelingt es mit einer brillanten Studie zum nur auf den ersten Blick randständigen Bäckereiwesen im 19. Jahrhundert in Frankreich, die Mikroebene des Bäckerkörpers mit weitreichenden sozialen Veränderungen, in diesem Fall den Aufstieg des „new productivist regime of industrial capitalism“ (S. 107), zu verweben. Indem er aufzeigt, dass in den Backstuben die Metapher des „menschlichen Motors“ keine Rolle spielte, kann Jarrige die fast zum Zitier-Klischee verkommene Großdeutung Anson Rabinbachs gegen den Strich bürsten.4 Nur langsam habe sich das moderne Regime abstrakter Produktivitätskalkulationen gegenüber „craft-based working methods founded on the appreciation of the body“ (S. 93) durchgesetzt.

Gleichermaßen überzeugend stehen auch die ersten beiden Beiträge zum 20. Jahrhundert (Teil II) im langen Schatten Rabinbachs und seiner thermodynamisch konnotierten Körper. Nina Mackert gelingt mit ihrer Analyse der „calorie“ als Maßeinheit zur Quantifizierung des Verhältnisses von Nahrung und Produktivität ein instruktiver Blick auf das „regime of productivity“ in den USA in der „Progressive Era“. Die Kalorie wird dabei als Teil eines umfassenden Dispositivs vorgeführt, das einen leistungsfähigen Körper zur gesellschaftlichen Norm erhob. Insofern galt: „the calorie is productive“ (S. 117). Alexa Geisthövels Blick auf die deutsche Arbeitstherapie der 1930er-Jahre handelt hingegen von der Verabschiedung der Leitmetapher des „human motors“ und seiner Rationalisierung zugunsten lebender Systeme und ihrer Anpassungsfähigkeit. Diese produktiven Körper seien hinsichtlich ihrer „sufficiency“ statt absoluter „efficiency“ optimiert worden (S. 136).

Monika Streule widmet sich anhand von Wohnungsbau und Stadtplanung in Mexiko-Stadt zwischen 1940 und den 1970er-Jahren der Produktion spezifischer, in diesem Fall urbaner Körper. Sie verfolgt die räumlichen und körperlichen Dimensionen eines städtischen „developmentalist regime of productivity“, das aus den drei zentralen Leitmotiven ökonomisches Wachstum, Urbanisierung und nationalistische Modernisierungsideologie bestanden habe, bevor der „developmentalism“ von zunehmendem „authoritarianism“ abgelöst worden sei (S. 158). Leider bleibt weitgehend unklar, inwiefern das „developmentalist regime“ ein Produktivitätsregime darstellte, zumal, wie Streule selbst einräumt (S. 158, 168), der Produktivitätsbegriff in den zeitgenössischen Debatten nicht zentral war und die konzeptionellen Bezüge in einer analytisch überdeterminierten Welle aus –ismen („urbanism“, „productivism“, „developmentalism“, S. 163) unterzugehen drohen.

Anhand der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommenden Motivationspsychologie in der Bundesrepublik Deutschland widmet sich Lukas Held den Wandlungen des Diskurses von der Produktivität „in the sense of a balance sheet analysis“ zur Produktivität „in the sense of potentiality“ in den 1970er-Jahren (S. 185), womit in erster Linie eine temporale Verschiebung von der Vergangenheit auf zukünftige Produktivität im Unternehmenskontext einherging. Der Beitrag bietet einen erfrischenden Blick auf den Aufstieg psychologischen Wissens und seines Einflusses auf Produktivitätskonzepte, wenngleich sich über Verortung und Reichweite der These eines Paradigmenwechsels trefflich streiten ließe.5

So bleibt der Eindruck eines Bandes, dessen beeindruckende thematische Breite auf Kosten analytischer Kohärenz geht. Das Kalkül der Herausgeber, sich ihrem Gegenstand „from the margins inward“ (S. 4) nähern zu wollen, geht dort auf, wo sich die BeiträgerInnen von der körperhistorischen Perspektive inspirieren lassen, um einen Beitrag zur Konzeptgeschichte der Produktivität zu leisten. Obwohl dies nicht durchgängig der Fall ist, handelt es sich bei den „Histories of Productivity“ um eine insgesamt anregende Sammlung an Beiträgen, die auf produktive Fortsetzungen hoffen lässt.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch sei hier auf die beiden Forschungsgruppen „Geschichte des Wirtschaftens“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) und „Ökonomisierung des Sozialen“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (Köln) verwiesen. Einen gelungenen Überblick bieten der Sammelband von Christof Dejung / Monika Dommann / Daniel Speich Chassé (Hrsg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, sowie das von Monika Dommann, Daniel Speich Chassé und Mischa Suter herausgegebene Special Issue: Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37,2 (2014). Programmatisch bereits Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004.
2 Produktive Körper. Aktuelle Forschungen zur Körpergeschichte des Ökonomischen, 05.06.2014 – 07.06.2014 Basel, in: H-Soz-Kult, 27.04.2014, https://www.hsozkult.de/event/id/termine-24806 (08.01.2019). Tagungsbericht: Produktive Körper. Aktuelle Forschungen zur Körpergeschichte des Ökonomischen, 05.06.2014 – 07.06.2014 Basel, in: H-Soz-Kult, 22.09.2014, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5561 (08.01.2019).
3 Peter-Paul Bänziger (Hrsg.), Fordismus, in: Body Politics. Zeitschrift für Körpergeschichte, 1,1 (2013), http://bodypolitics.de/de/archiv/?ausgabe=13 (08.01.2019).
4 Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley 1992.
5 Dass das Konzept der Motivation in den 1960er-Jahren neu gewesen sei (S. 180), ist zumindest für den angelsächsischen Sprachraum angesichts einflussreicher früherer Ansätze nicht haltbar. Siehe Abraham H. Maslow, A Theory of Human Motivation, in: Psychological Review, 50,4 (1943), S. 370–396. Zur Relevanz Maslows für die Arbeitswelt des Kalten Kriegs etwa Bill Cooke / Albert J. Mills / Elizabeth S. Kelley, Situating Maslow in Cold War America. A Recontextualization of Management Theory, in: Group & Organization Management 30 (2005), S. 129–152.