D. Krämer: «Menschen grasten nun mit dem Vieh».

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Titel
«Menschen grasten nun mit dem Vieh». Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17


Autor(en)
Krämer, Daniel
Reihe
Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 4
Erschienen
Basel 2015: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 98,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rolf Graber, Universität Zürich

Vor zweihundert Jahren hat ein Vulkanausbruch in Indonesien die Welt in eine Krise gestürzt. Gedenkdaten lösen jeweils Forschungsaktivitäten aus, die wesentlich zur Erweiterung des Wissens über ein historisches Ereignis beitragen. Während das Werk von Wolfgang Behringer „Tambora und das Jahr ohne Sommer“1 die globalen Auswirkungen dieser Klimakatastrophe in einer eindrücklichen und facettenreichen Darstellung vor Augen führt, hat sich Daniel Krämer zum Ziel gesetzt, eine Gesamtdarstellung der letzten grossen Hungerkrise in der Schweiz vorzulegen, die den Schritt vom globalen Auslöser zu den lokalen Folgen vollzieht und einem interdisziplinären Ansatz verpflichtet ist. Die aus einer Dissertation an der Universität Bern entstandene Studie ist zugleich eine Synopsis bisheriger kantonaler und regionaler Forschungsarbeiten.

Anhand der Wahrnehmung des englischen Vizegouverneurs Sir Thomas Stamford Raffles führt Krämer anschaulich an das auslösende Ereignis heran: Den Ausbruch des Vulkans Tambora, der die Energie von etwa drei Millionen Hiroshima-Bomben freisetzt und 150 Kubikkilometer Gestein und Asche in die Stratosphäre schleudert. Dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Vulkanausbruch auf der östlich von Java gelegenen Insel Sumbawa und dem „Jahr ohne Sommer“ in Europa, ist Raffles allerdings noch nicht bekannt. Diese Erkenntnis ist erst der modernen Klimaforschung zu verdanken.

In sechs ausführlichen Kapiteln wird eine multiperspektivische Annäherung ans Thema Hunger vollzogen. Ziel der „langen Reise“ ist der Entwurf eines konzeptionellen Modells zu den Strukturen des Hungers und dessen visuelle Darstellung in Mangelernährungskarten für die Schweiz in den Jahren 1817/1818. In einer sehr ausführlichen Einleitung werden historische Überblicksdarstellungen, internationaler und nationaler Forschungsstand sowie neue studentische Forschungsarbeiten an der Universität Bern vorgestellt und dadurch ein „Hungerpanorama“ entworfen. Das zweite Kapitel liest sich wie ein Plädoyer für theoriegeleitetes Arbeiten und referiert kenntnisreich und detailliert verschiedene Theorieansätze, die sich im weitesten Sinne auf die Erklärung und Bewältigung von Hunger und Hungerkrisen beziehen. Die heterogenen Ansätze, die von der klassischen Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus über Edward P. Thompsons „moral economy“ bis zum „Entitlement Ansatz“ von Amartya Sen reichen, werden unter Kategorien wie Nahrungsangebotstheorien, Ökonomische Theorien und „neue Hungersnöte als politisches Versagen“ subsumiert. Es fragt sich allerdings, ob eine derart ausführliche Darstellung der Forschungspositionen und -kontroversen für die Erarbeitung eines Modells zu den konzeptionellen Strukturen des Hungers wirklich notwendig ist. Das dritte Kapitel ist der methodischen Einbettung der Thematik gewidmet und umfasst eine kurze Darstellung der Entwicklung der Historischen Klimatologie sowie der Klimawirkungsforschung, durch die auch die Frage nach der Verletzlichkeit vergangener Gesellschaften wieder vermehrt ins Blickfeld gerückt wurde. Da die Hungerjahre in eine krisenhafte Übergangsphase fallen, enthält das vierte Kapitel einen auf kompetenter Auswertung älterer und neuerer Forschungsliteratur basierenden Überblick zu den politischen Entwicklungen in der Mediations- und Restaurationszeit. Zudem werden säkulare Prozesse wie Agrarmodernisierung und Protoindustrialisierung sowie der dadurch ausgelöste soziale Wandel kurz erörtert. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Problem der Messbarkeit des Hungers. Indikatoren wie Temperaturanomalien, Preisentwicklung, demographische Daten, Kriminalitätsrate und Körpergrösse der 15-jährigen Männer werden anhand regionaler Studien vorgestellt und deren Relevanz diskutiert. Krämer kann plausibel aufzeigen, dass diese Indikatoren nicht ausreichen, um Hunger zu messen, weil er von einer Reihe intervenierender Variablen beeinflusst wird und Hungerkatastrophen nicht unabhängig von Raum, Zeit und Kontext betrachtet werden können. Zudem stellt sich das Problem, dass diese Daten nicht flächendeckend für die ganze Schweiz erhoben worden sind. Um den gesamten Raum zu erfassen und ein Bild von der regionalen Betroffenheit vermitteln zu können, greift Krämer auf die eidgenössische Volkszählung von 1860 zurück, die Kohorten auf Bezirksebene abbildet: Die Bevölkerungseinbussen können flächendeckend dargestellt werden, da sich die Auswirkung der Krise in der Grösse der Kohorten der Jahrgänge 1817/18 niederschlägt. In Kombination mit bereits existierenden Karten zu den Ökozonen um 1800, der Protoindustrialisierung um 1820 und der Bevölkerungsdichte um 1800 werden zwei Mangelernährungskarten vorgelegt, aus denen wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden. Die Mangelernährungskarte von 1817 zeigt, dass klimasensible Weinbaugebiete, dicht besiedelte, protoindustrialisierte Gebiete der Ostschweiz, Gebiete im Jura, in denen sich die Uhrenindustrie ausgebreitet hat, sowie grössere Städte, hier in erster Linie die Unterschichten, besonders stark von der Krise betroffen sind. Verantwortlich für den hohen Grad der Verletzlichkeit grosser Teile der Ostschweiz sind die starke Marktintegration, der niedere Selbstversorgungsgrad und der Strukturwandel in der Textilherstellung, der auf den Übergang von der Hand- zur mechanischen Spinnerei zurückzuführen ist. Die Analyse zeigt, dass Verletzlichkeit durch historisch gewachsene Produktionsstrukturen sowie durch verschiedene soziökonomische Faktoren beeinflusst wird und einfache monokausale Erklärungsmuster untauglich sind. Dieses Bild wird durch die Mangelernährungskarte von 1818 noch schärfer konturiert. Wieder zeichnet sich das schon für die Krise von 1690 von Markus Mattmüller2 im Hinblick auf die Mortalität beobachtete Ost-West-Muster ab. Auffällig ist erneut die hohe Verletzlichkeit der Ostschweiz in Zusammenhang mit strukturellen Problemen der Protoindustrie. Im Gegensatz dazu erweisen sich die peripheren inneralpinen Gebiete als widerstandsfähiger, was auf geringe Marktintegration und autarke Produktion mit hohem Selbstversorgungsgrad zurückzuführen ist. Zudem ist ein Nord-Süd-Muster zu beobachten, das meteorologische Ursachen hat. Die feucht-kalte Luft staute sich an den Alpen und die Alpensüdseite war weniger von den intensiven Regenfällen betroffen.

Die Studie erhebt zwei Ansprüche: Im Haupttitel wird eine umfassende Darstellung der Hungerkrise von 1816/17 angekündigt, im Untertitel eine theoretische und methodische Einführung in die historische Hungerforschung. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, dass der letzteren Absicht zu viel Gewicht eingeräumt wurde. Anstelle der weit ausholenden auf profunder Literaturkenntnis basierenden Exkurse zu theoretischen und methodischen Fragen wäre eine stärkere Konzentration auf das Hauptthema wünschenswert gewesen. Zudem führen die multiperspektivischen Annährungen ans Thema zu Wiederholungen. Wie Krämer selbst konzediert, werden wesentliche Aspekte wie die Teuerungspolitik und das Verwaltungshandeln der Regierungen ausgespart (S. 95 u. 443f.). Die obrigkeitlichen Krisenbewältigungskonzepte sind 1816/17 immer noch ins Spannungsfeld von physiokratischer Freihandelsdoktrin und protektionistischer Marktsteuerung einzuordnen, ein Vergleich mit 1770/71 wäre sinnvoll gewesen.3 Auch wenn die Verwaltungspraxis der einzelnen Kantone bisher noch schlecht erforscht ist, zeigen Hinweise, wie etwa die Tatsache, dass die Staatsrechnung des Mediationskantons Thurgau ausgerechnet in der Krise einen Gewinn ausweist (S. 58), und der Regierung „das Sparen mehr am Herzen lag als das Wohl der Bevölkerung“ (Kommentar von Theodor von Greyerz um 1918), wie wichtig eine Beschäftigung mit diesem Themenfeld gewesen wäre. Ausgespart bleiben auch kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte wie die Krisenbewältigungsstrategien der betroffenen Bevölkerung, die Veränderungen in der Krisenerfahrung und -wahrnehmung, kollektive Reaktionen und Erinnerungskultur. In Bezug auf die Heimarbeiter macht die Bemerkung hellhörig, dass nicht alle ihr Schicksal mit „dumpfer Ergebenheit“ getragen, sondern noch „freche Forderungen“ erhoben hätten (S. 412, Anm. 195). Dies deutet auf Erwartungshaltungen gegenüber dem Staat und auf sozial-moralische Ansprüche auf ein Existenzrecht hin, deren genauere Analyse interessant gewesen wäre. In diesem Zusammenhang steht auch die Frage im Raum, inwieweit dieses Insurrektionspotential dazu führte, dass einzelne Regierungen die Strategie einer „moralischen Ökonomie von oben“ (Hans Medick) verfolgten, um Unruhen zu vermeiden. Neben den ausgewerteten zeitgenössischen Erfahrungsberichten von Peter Scheitlin und Ruprecht Zollikofer hätten autobiographische Quellen weitere Aufschlüsse zu den genannten Themenfeldern gebracht. Trotz dieser Defizite ist Daniel Krämer eine allgemein gut lesbare Darstellung gelungen, die neue Massstäbe setzt und substantielle Erkenntnisse zur letzten grossen Hungerkrise in der Schweiz bringt.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München 2015.
2 Markus Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte der Schweiz. Teil I: Die frühe Neuzeit, 1500–1700, Basel 1987.
3 Vgl. etwa Rolf Graber, Protektionistische Marktsteuerung oder physiokratische Freihandelsdoktrin. Zum Verhalten städtischer Obrigkeiten der Alten Eidgenossenschaft während der Hungerkrise 1770/72, in: Michael Fischer / Marita Gilli / Manfred Jochum / Anton Pelinka (Hrsg.), Aufklärung, Freimaurerei und Demokratie im Diskurs der Moderne (Festschrift zum 60. Geburtstag von Helmut Reinalter), Frankfurt am Main 2003, S. 129–142.

Redaktion
Veröffentlicht am
12.04.2017
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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