F.Hitz u.a. (Hrsg.): Bündner Politik und Gebietsstruktur

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Titel
Gemeinden und Verfassung. Bündner Politik und Gebietsstruktur gestern, heute, morgen


Herausgeber
Hitz, Florian; Christian, Rathgeb; Marius, Risi
Erschienen
Chur 2011: Südostschweiz Buchverlag
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Max Hilfiker

Nicht nur in Graubünden bekunden kleinere Gemeinden zunehmend Mühe, genügend Mittel und qualifiziertes Personal für ihre immer komplexeren Aufgaben zu finden. Die Vereinigung mit andern Gemeinden ist eine bewährte Lösung, die in jüngster Zeit immer häufiger gewählt wird; eine Gebietsreform steht auch auf der Agenda des Kantons. Dies war Anlass zu einer öffentlichen Tagung, die das Institut für Kulturforschung Graubünden ikg am 5./6. November 2010 in Chur veranstaltete. Unter dem Titel «Verfassungsentwicklung und Gemeindewesen in Graubünden» diskutierten Historiker, Juristen sowie ein Betriebsökonom aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Das vorliegende Buch enthält die neun Refe rate in chronologischer Anordnung und thematisch gegliedert.

Die ersten zwei stellen die historische Forschung sowie Definitionen zur Gemeinde vor, aber auch europäische Zusammenhänge und die zeitgenössische Staatstheorie: Peter Blickle schaut zurück auf eine 30-jährige Debatte zu Kommunalismus und Republikanismus, die er massgeblich geprägt hat: Kommunalismus als Kampf um Autonomie gegenüber feudalen Herrschaftsrechten – Republikanismus als Anwendung dieses Prinzips auf grössere Verbände und letztlich Staaten. Diese europäische Bewegung erreichte nur in der Schweiz, den Niederlanden sowie den USA die Republikbildung.

Jon Mathieu sieht Gemeinde als sozialen Prozess, der verschiedene Realitäten abdeckt. Die Veränderungen und Tendenzen, die sich in den Gemeinden wie in den Drei Bünden vom 16. bis 18. Jahrhundert abzeichneten, fasst er in Begriffe wie Kommunalisierung und Dezentralisierung, aber auch Integration und Zentralisierung. Solche Entwicklungen gingen oft auf äussere Anstösse wie Reformation und Aufklärung zurück. Die europaweite «Staatsbildung von unten» war vor allem in Graubünden äusserst erfolgreich.

Konkrete Gemeindebildung beschreiben die zwei folgenden Beiträge: Immacolata Saulle Hippenmeyer verfolgt unter dem Titel Von Pfarreruntertanen zu Kirchgenossen die «Kommunalisierung der Kirche» (Blickle) im Spätmittelalter. Die Kirchgemeinde wuchs zusammen mit der Dorfgemeinde, und nach der Reformation wurde der frei gewählte Pfarrer zum Lohnempfänger. Dies führte bei den Reformierten zu einer Verschlechterung der Seelsorge und bei den Katholiken zu einem deutlichen Autoritätsverlust des Bischofs.

Prisca Roth untersucht einen Machtkampf innerhalb des Hochgerichts Bergell. Hier stritten nach der Übergabe der bischöflichen Hoheitsrechte an das Tal die zwei Grossgemeinden Sopraporta (Vicosoprano) und Sottoporta (Soglio) um die Wahl des gemeinsamen Ammanns (Podestà) und des Gerichts. Als diese Frage zugunsten Soglios geregelt war, brach der Kampf um gleiche Rechte innerhalb Sottoporta aus, wo Bondo dauerhaft benachteiligt blieb. Solche Ausmarchungen führten auch anderswo in den Drei Bünden zu einer Schwächung der Gerichtsgemeinden (heute Kreise) zugunsten der Nachbarschaften (Dörfer).

Zwei weitere Beiträge überprüfen politische Theorie und Praxis im 18. Jahrhundert: Florian Hitz skizziert Verfassungstradition und Republikanismus anhand der Publikation «Graubündnerische Grundgesetze» von 1767. Ein Vergleich mit früheren und späteren Drucken zeigt, dass die Bündner Verfassung ein selbstreferenzieller Prozess war, in dem wichtige Dokumente des formativen 16. Jahrhundert stets neu aufgelegt wurden. Kriegerische Standesversammlungen als Urheber solcher Gesetze bildeten ein demokratisches Korrektiv zur herrschenden Oligarchie und veranlassten wohl auch die Publikation von 1767. Der anonyme Herausgeber und Kommentator, wahrscheinlich Ulysses von Salis-Marschlins, versucht mit seinem zeittypischen patriotisch-aufgeklärten Diskurs die oligarchische Praxis zu rechtfertigen.

Den Weg zur Konkordanz analysiert Adrian Collenberg anhand der Wahlprotokolle der Ilanzer Landsgemeinde im 18. Jahrhundert. Sie dienten nicht zuletzt der Sicherung und Wiederherstellung des konfessionellen Gleichgewichts und des politischen Proporzes zwischen den Nachbarschaften. Im 18. Jahrhundert wurden die Geschworenen lokal gewählt oder verlost und an der Landsgemeinde nur noch vereidigt. Diese verkam somit zur Wahlbestätigungsbehörde, und Korruption war unvermeidlich. Die «Bsatzig» verlief nun meist harmonisch, da das Stimmvolk passiv war. Als ritueller Kontrollgang mit Wein und Fest wirkte sie integrativ, zementierte aber auch das paternalistische Verhältnis von unten und oben: Konkordanz als blosse bürokratische Tradition.

Als nächstes untersuchen zwei Juristen die Entwicklung der Verfassung und des Gemeindewesens im 19. und 20. Jahrhundert sowie die heutigen Probleme: Christian Rathgeb stellt fest, dass die aktuellen Strukturen aus Elementen des Freistaates und der Helvetik entstanden, die zusammengeführt und weiterentwickelt wurden. Die Verfassung von 1892 war bis 2003 in Kraft und vermied es wie ihre Vorgänger, das Gemeindewesen grundsätzlich zu regeln. Die strukturelle Zersplitterung geht auf die Kantonseinteilung von 1850/51 zurück. Sie zählte die Nachbarschaften auf, ohne gleichzeitig deren Kompetenzen zu regeln. So wurden 224 politische Gemeinden anerkannt, die weitgehende Kreiskompetenzen an sich gerissen hatten. Schon ein Zeitgenosse kritisierte, dass wenig Leute auch wenig Intelligenz und Geld bedeute. Sein Argument ist immer noch aktuell: 2010 führten 90 von 180 Gemeinden Fusionsgespräche, und eine Volksinitiative schlägt nur noch 50 Gemeinden vor.

Frank Schuler gibt einen Überblick über den langen Weg zu einem Gemeindegesetz. Auf ein solches wurde schon in den Verfassungen von 1854 und 1892 hingewiesen. Aber erst im Notstand des Zweiten Weltkriegs wurde es in Angriff genommen und kam 1974 im dritten Anlauf beim Volk durch. Die Funktionsfähigkeit der Gemeinden wird vor allem durch den Finanzausgleich und die Auslagerung von Aufgaben in übergemeindliche Organe gesichert. Auch die neue Verfassung von 2003 verankerte bloss die Realität: Der Kanton zählt 178 Gemeinden, 39 Kreise, 11 Bezirke, 13 Regionalverbände und über 400 Gemeinde- und andere Zweckverbände.

Für seinen Ausblick in die Zukunft beschreibt Simon Theus als Koordinator aller Gemeindereformprojekte beim Kanton die vielfältigen Aspekte von Gemeindefusionen. Gründe sieht er vor allem in den Leistungsgrenzen des Milizsystems, denn die durchschnittliche Grösse einer Bündner Gemeinde ist mit 1000 Einwohnern die kleinste der Schweiz, und 22 Gemeinden zählen weniger als 100 Einwohner. Die Auslagerung von zentralen Aufgaben in Gemeinde- und Regionalverbände unterhöhlt die demokratische Mitbestimmung und die finanzielle Autonomie. Theus zählt die wichtigsten Kriterien für eine optimale Gemeindelandschaft auf und postuliert eine einzige Ebene zwischen Kanton und Gemeinden mit 5–8 Regionen. Der Kanton unterstützt Zusammenschlüsse durch Förderbeiträge, lenkt die Entwicklung aber auch mit einem Förderplan, um die ideale Zahl von 30 bis 50 Gemeinden zu erreichen. Ein Plädoyer für starke und selbständige Gemeinden, welche die lange Tradition der Gemeindeautonomie sinnvoll fortführen, beschliesst das Buch.

Die massgeblichen Historiker und Fachleute bieten aus unterschiedlicher Perspektive ein in dieser Schärfe und Konzentration einmaliges Profil des Bündner Gemeindewesens (und -unwesens). Didaktisch geschickt aufgebaut, werden die Erkenntnisziele klar benannt; einprägsame Schlussfolgerungen beenden die Referate oder stellen den Bezug zur aktuellen politischen Debatte her. Belege und Quellen schliessen an die Artikel an. Was die Untertitel betrifft, nimmt die Vergangenheit einen überragenden Platz ein, während die Gegenwart in den drei letzten Beiträgen hauptsächlich als Ungenügen erscheint. Hier hätte die «Nahaufnahme » einer (fiktiven) Kleingemeinde die Problematik und Statistik noch anschaulicher gemacht. Die Zukunft verheisst eine radikale Reform, aber auch deren pragmatische, indirekte Umsetzung. Die politische Auseinandersetzung zu Gebietsreform und Gemeindewesen bleibt etwas blass, da die Position der Parteien fehlt. Unscharf ist das Verhältnis Gemeinden und Verfassung, da auch die neuste Revision es vermeidet, die Aufgaben abschliessend festzulegen. Bei einer Sammlung von Referaten zu einem solch weiten Feld lassen sich Überschneidungen und Wiederholungen kaum vermeiden. Dennoch ist das Buch sehr leserfreundlich und mit aussagekräftigen Bildern, Karten und Tabellen sowie Verzeichnissen und Autorenporträts ansprechend gestaltet.

Zitierweise:
Max Hilfiker: Rezension zu: Florian Hitz, Christian Rathgeb, Marius Risi (Hg.): Gemeinden und Verfassung. Bündner Politik und Gebietsstruktur gestern, heute, morgen. Chur, Südostschweiz Buchverlag 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 168-171

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 1, 2012, S. 168-171

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