G. Kreis: Die Geschichte der Schweiz

Cover
Titel
Die Geschichte der Schweiz.


Herausgeber
Kreis, Georg
Erschienen
Basel 2014: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sandro Guzzi-Heeb, Histoire Moderne, Lausanne

Braucht die Schweiz eine neue nationale Geschichte? Jede Generation, heisst es, muss ihre eigene Geschichte schreiben; mit den eigenen Fragen und Interessen neu an die eigene Vergangenheit herangehen. In diesem Sinn ist es sicherlich richtig, dass verschiedene Historikerinnen und Historiker aus der heute an den Universitäten aktiven Generation, unter der Leitung von Altmeister Georg Kreis, ihre eigene Geschichte der Schweiz vorlegen. Dies umso mehr, als Bücher zur nationalen Geschichte in einer breiteren Öffentlichkeit Konjunktur haben und die sogenannten nationalen Mythen – Stichwort Marignano – nach wie vor heftige politische und kulturelle Debatten auslösen.

Das neue Werk stellt der interessierten Leserschaft ein aktualisiertes Wissen zur Verfügung, von ausgewiesenen Spezialisten erarbeitet, das sicherlich zu einer Bereicherung und Versachlichung der heutigen politisch-kulturellen Diskussionen führen kann. Das ist ein grosses Verdienst.

Das dicke Buch umfasst elf chronologisch konzipierte Hauptkapitel und mehrere wesentlich kürzere thematische Kapitel, welche zusammenfassend wichtige Aspekte der Schweizer Geschichte abhandeln (Demografie, Tourismus, Neutralität, Armee als Beispiele). Dazu kommen ein Geleitwort von Roger de Weck – hätte es eigentlich nicht ein/e Vertreter/in des Bundesrates sein sollen? –, eine kurze Einführung des Herausgebers und ein Anhang mit Bibliografie, Registern und einem Glossar. Interessanterweise wird jedes Hauptkapitel mit einer Übersicht zum Stand der Forschung abgeschlossen, welche die historiografische Tradition kritisch würdigt und neue Tendenzen aufzeigt.

Anders als bei früheren nationalen Geschichten hat der Herausgeber aufmerksam darauf geachtet, dass Frauen angemessen als Autorinnen zum Zug kommen – sie zeichnen für etwa die Hälfte der Beiträge verantwortlich – und dass auch die verschiedenen Landessprachen und Kulturen adäquat repräsentiert sind. Die Texte sind reich mit Bildern, Tabellen und Grafiken illustriert: Laut Herausgeber stellt die «modernisierte Präsentationsform» auch eine der wesentlichen Neuerungen des Buchs dar.

Was bringt jedoch diese Schweizer Geschichte an Neuigkeiten oder an Innovationen? Ein Vergleich mit früheren vergleichbaren Werken, und insbesondere mit der 1983 veröffentlichten Geschichte der Schweiz und der Schweizer, drängt sich diesbezüglich auf. Das dreibändige und in drei Landessprachen publizierte Opus hatte ganz klar einen programmatischen Charakter. Es ging u. a. darum, die Impulse aus der damals noch tonangebenden französischen Sozialgeschichte aufzunehmen und für die Erforschung der Schweiz nutzbar zu machen.

Eine solche klare methodische oder historiografische Ausrichtung fehlt heute beinahe gänzlich. Die verschiedenen Autorinnen und Autoren haben sich bemüht, neue methodische Impulse und Anregungen in ihren Kapiteln aufzunehmen – insgesamt mit Erfolg –, eine neue gemeinsame Linie kommt jedoch nicht zum Ausdruck. Auch die aktive Beteiligung mehrerer Historikerinnen am Projekt hat beispielsweise zu keiner spürbaren Aufwertung der Frauen- oder Geschlechtergeschichte geführt.

Unter dem Strich, und ohne Überraschung, kann allenfalls eine deutliche Abkehr von der vor dreissig Jahren noch vorherrschenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte beobachtet werden. Damit geht eine spürbare Aufwertung der Kulturgeschichte einher, welche in den letzten Jahren international deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Mit einigen diskutablen Ergebnissen. Einerseits wurden grundlegende Aspekte der Vergangenheit – wie etwa die Demografie oder die für die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit bestimmende Geschichte der Landwirtschaft – weitgehend in kurze, spezialisierte Kapitel verbannt. Auf der anderen Seite tauchen gewisse alte kulturgeschichtliche Themen wieder auf, die als teils überholt hätten gelten können, wie die vermeintliche Herausbildung einer «nationalen Identität» im 16. Jahrhundert (Randolph Head). Dabei würde man gerne erfahren, was zu dieser Zeit die «Nation» eigentlich war und was eine (nationale) Identität im Kontext sich erst herausbildender territorialer Staaten genau bedeutet.

Die einzelnen chronologischen Hauptkapitel sind – soweit der Rezensent es beurteilen kann – interessant und informativ. Dass sie insgesamt in ihrem Aufbau recht konventionell ausfallen, ist wohl mehr die Konsequenz eines etwas traditionellen und rigiden Gesamtkonzepts als die Intention der Autorinnen und Autoren. Es ist nicht leicht, in fünfzig bebilderten Seiten ein halbes oder ein ganzes Jahrhundert zu behandeln und dabei neue Akzente zu setzen. Auch die thematischen Kurzkapitel sind meistens recht interessant, wenn auch manchmal etwas knapp angesichts der darin angeschnittenen komplexen Themen und Probleme.

Insgesamt haben wir es mit einem soliden, nützlichen Werk zu tun, das für die nächsten Jahre eine obligate Referenz für die Wissenschaft und für das weitere Publikum sein wird. Dies ist, wie gesagt, ein grosses Verdienst.

Im Nachhinein hätte man sich etwas mehr Mut seitens des Herausgebers wünschen können. Dass die Politik im neuen Buch wieder einen so zentralen Stellenwert erhält, wie Georg Kreis in seiner Einleitung unterstreicht, erscheint weniger als eine methodische Parteinahme der Autorschaft denn als das Ergebnis eines recht konventionellen Aufbaus, der sich stark an der herkömmlichen Periodisierung und an der bekannten nationalen Narration orientiert.

Formal ist das Werk sicher ansprechend gestaltet, wobei die vom Herausgeber in Aussicht gestellten Neuerungen, verglichen mit der Geschichte der Schweiz und der Schweizer, als gar nicht so neu erscheinen. Grundsätzlich ist das Erscheinungsbild der zwei Werke ähnlich – ausser dass die früheren drei Bände etwas leichter und handlicher waren.

Trotzdem ist es schade, dass Die Geschichte der Schweiz vorderhand nur auf Deutsch erscheint; es wäre wichtig, dass alle Landesteile über eine neue aktuelle und solide geschichtliche Grundlage verfügen, über die sie diskutieren oder sich streiten könnten. Offenbar fehlt heute für solche «nationale» Werke eine offizielle Unterstützung. Was dem immer wieder zelebrierten nationalen Zusammenhalt sicherlich nicht zugutekommt.

Zitierweise:
Sandro Guzzi-Heeb: Rezension zu: Kreis, Georg (Hrsg.): Die Geschichte der Schweiz. Basel: Schwabe 2014. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 71 -73.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 71 -73.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit