P. Feut (Hrsg.): Kronleuchter vor der Jungfrau

Cover
Titel
Kronleuchter vor der Jungfrau. Mürren – eine Tourismusgeschichte


Herausgeber
Feuz, Patrick
Erschienen
Baden 2014: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Amacher Hoppler

Die von Patrick Feuz herausgegebene Tourismusgeschichte des Dorfes Mürren beschreibt die Entwicklung Mürrens zwischen dem 18. und 21. Jahrhundert. Der Fokus liegt auf der touristischen Entwicklung, sodass die Hotels und Bahnen oft in den Vordergrund treten. Trotzdem ist das Buch keine Infrastrukturgeschichte, denn die Zusammensetzung, Vorlieben, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Ideen der Touristen werden ebenso wie – etwas weniger explizit – das Leben der Dorfbewohner und -bewohnerinnen erläutert.

Der chronologische Aufbau wird von zwei Spezialkapiteln durchbrochen. Einerseits kontextualisiert Roland Flückiger-Seiler die architektonischen Aspekte der Mürrener Hotels, anderseits zeigt Daniel Di Falco, wie Mürren für die Touristen auf Stichen, Bildern, Postkarten, Broschüren und Plakaten dargestellt wurde. Diese beiden Spezialkapitel ermöglichen einen Blick von aussen, der die in den beiden chronologischen Kapiteln mehrheitlich evozierte Innensicht kontrastiert. Diese Innensicht beruht auf reichhaltigem Quellenmaterial – Interviews mit Einheimischen, Publikationen des Verkehrsvereins und der Mürrenbahn bzw. der Schilthornbahn, publizierten Reiseerfahrungen der ersten Touristen und Touristinnen, lokalhistorischen Abhandlungen und Talchroniken. Erstaunlicherweise sind diese Quellen aber nicht in Fuss- oder Endnoten angegeben, sondern in einer kommentierten Bibliografie zusammengefasst.

Ohne sie explizit zu benennen, veranschaulicht das Buch die Erkenntnisse und Thesen aus der Tourismusgeschichte. Antoniettis These, dass der Tourismus anfänglich eine Industrie von Fremden für Fremde war, 1 wird durch die Erfahrung Mürrens bestätigt. Als auch einige Mürrener Hotels bauten oder übernahmen, verheirateten sie sich «übers Kreuz» mit andern Schweizer Hotelier-Dynastien wie beispielsweise der Familie Müller aus Gersau, die auch auf der Rigi, einem der touristisch bekanntesten Berge der Schweiz zu dieser Zeit, Hotels besass. Neben der elektrischen Beleuchtung, die von den Hoteliers pionierhaft zur Unterhaltung der Touristen und Touristinnen installiert wird, gehört auch die Kommerzialisierung der Alpen und die Bewirtschaftung der Berge zum tourismushistorischen Kanon. Während das Schilthorn vergleichsweise früh zur Touristenattraktion aufstieg – 1864 gab es bereits einen gut angelegten Pfad, auf dem die Touristen auf Pferden befördert werden konnten –, erfuhr Mürren in seiner Entwicklung bekannte tourismushistorische Phänomene: Widerstand aus der Heimatschutzbewegung beim Bau der 1891 eröffneten Mürrenbahn und der 1967 eröffneten Schilthornbahn, eine holprige Einführung der Wintersaison im Jahre 1909, einen wider Erwarten grossen inländischen Gästestrom im Zweiten Weltkrieg, Finanzierungsprobleme beim Bau der Schilthornbahn in den 1960er-Jahren und das Entstehen der Ferienwohnungen und Chalets in den 1950 / 60er-Jahren, die sich wegen der hohen Infrastrukturkosten (Wasser, Strom, Kehricht) und der kalten Betten allerdings als zweischneidig erweisen. Bemerkenswert ist, dass Mürren stets autofrei blieb und diese Eigenschaft stets positiv deutete – auch in den autofreundlichen 1960er-Jahren! Der Parkraum in Lauterbrunnen wird vom Mürrener Kurdirektor allerdings schon mal als «unterentwickelt» beklagt (S. 201).

Als Veranschaulichung der schweizerischen Tourismusgeschichte könnte man diese Mürrener Tourismusgeschichte also bezeichnen, die nicht mit Bildern, Exkursen und lebensprallen Schilderungen geizt. Auch wenn der vom Soziologen Urry festgestellte, von der Tourismusgeschichte jedoch überholte «tourist gaze» (touristischer Blick) als theoretische Grundlage für Di Falcos Beitrag dient, vermittelt das Buch die Entwicklung Mürrens zur heute bekannten Tourismusdestination auf der Höhe des heutigen tourismushistorischen Wissensstandes. Angesichts der Fülle an Hoteliers, Bahn-Initiatoren, Finanzleuten, berühmten Gästen und Kurdirektoren wäre eine grafische oder tabellarische Übersicht über die wichtigsten Personen hilfreich gewesen. Die Exkurse sowie die gehaltvollen Bildlegenden, die eine Kürzest-Lektüre «den Bildern entlang» ohne inhaltliche Fehlleitung ermöglichen, machen diese kleine Lücke allerdings teilweise wett. Dank seiner ausgesprochen hohen Lesbarkeit kann dieses Buch interessierte Laien ansprechen. Aber auch Fachhistoriker und -historikerinnen finden viele gut gewählte und hervorragend kommentierte Bilder und eine umfassend aufgearbeitete Geschichte eines schweizerischen Tourismusortes, auf die man dank relativ kurzer Kapitel einfach zurückgreifen kann.

1 Antonietti, Thomas: Bauern. Bergführer. Hoteliers. Fremdenverkehr und Bauernkultur. Zermatt und Aletsch 1850 – 1950. Baden 2000, 52, 58, 128, 130. Siehe auch: Barton, Susan: Healthy living in the Alps: the origins of winter tourism in Switzerland, 1860 – 1914, Manchester 2008, 42.

Zitierweise:
Anna Amacher Hoppler: Feuz, Patrick (Hrsg.): Kronleuchter vor der Jungfrau. Mürren – eine Tourismusgeschichte. Mit Beiträgen von Patrick Feuz, Roland Flückiger-Seiler, Sarah Nowotny und Daniel Di Falco. Baden: Hier und Jetzt 2014. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 55-56.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 2, 2015, S. 55-56.

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