B. Stalder u.a.: Von Bernern und Burgern

Cover
Titel
Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde


Autor(en)
Stalder, Birgit; Stuber, Martin; Meyrat, Sibylle; Schnyder, Arlette; Kries, Georg
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
2 Bde., 863 S.
Preis
€ 80,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans Stadler-Planzer, Attinghausen

Anlass zu dieser gross angelegten Darstellung der Burgergemeinde Bern war die 2008 erschienene Publikation von Katrin Rieder „Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert“1. Die 2004 an der Universität Bern eingereichte Dissertation löste ein grosses Medienecho aus. Aus der informativen Arbeit fanden selektiv gewisse Aspekte, insbesondere die thesengeleitete Darstellung der Verbindung zwischen Exponenten der Burgergemeinde Bern und rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften in den 1930er- und 1940er-Jahren, grosse Aufmerksamkeit. Die Burgergemeinde reagierte zuerst defensiv. Dann entschied sie sich zu einem aktiven Beitrag in Form einer umfassenden historischen Darstellung ihrer Geschichte und Gegenwart.

Unter der Aufsicht eines wissenschaftlichen Beirates, der von Christoph von Werdt, Kleiner Burgerrat und selber Historiker, geleitet wurde, fand sich ein Autorengremium von fünf Historikerinnen und Historikern aus Bern und Basel zusammen. Zu ihm gehörten aus Bern Birgit Stalder, bekannt unter anderem als Koautorin des vierbändigen Lehrbuches „Schweizer Geschichtsbuch“, und Martin Stuber, tätig am Historischen Institut der Universität Bern und Redaktor der Berner Zeitschrift für Geschichte; aus Basel Sibylle Meyrat und Arlette Schnyder, beide waren hervorgetreten mit verschiedenen Publikationen zu lokalgeschichtlichen Themen aus dem Raume Basel, und Georg Kreis. Letzterem wurde das Spezialthema „Berner Burger und Burgergemeinde im politischen Umfeld der 1930er- und 1940er-Jahre“ übertragen.

Um es vorweg zu nehmen: Das Ergebnis der nun vorliegenden minutiösen Untersuchungen über die politische Haltung der Berner Burgergemeinde in der Zwischenkriegszeit lässt sich folgendermassen zusammenfassen: Man kann von einer Tabuisierung durch Verschweigen oder Bagatellisieren der stark rechten Positionierung gewisser Bernburger sprechen. Zu einzelnen teils überraschenden Namen, etwa zum Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt oder zum Historiker und Journalist Peter Dürrenmatt, liegen nun genauere Informationen vor. Eine institutionelle Verbindung der Burgergemeinde mit nationalsozialistischen Gruppen liegt nicht vor. Gedenkfeiern rechtsextremistischer Kreise im Münster oder im Casinosaal 1934 und 1935, bei denen Hakenkreuze der NSDAP die Dekoration hergaben, muten heute allerdings fragwürdig an.

Das Werk stellt die Burgergemeinde Bern nach den einschlägigen Tätigkeitsfeldern systematisch dar. Thematisiert werden die institutionelle Entwicklung, der Personenverband der Burger, die Güter der Burgergemeinde sowie ihre Kultur- und Sozialpolitik. Dazu wenige Beobachtungen: Im schweizerischen Vergleich ist auffällig, dass die Scheidung von Burger- und Einwohnergemeinde mit den entsprechenden politischen Veränderungen erst 1832 erfolgte. Das rührt von der Beständigkeit des alt verwurzelten stadtbernischen Patriziatsgehabe her. Doch mit dieser Trennung verbunden war ebenso die Weiterführung oder Neuübernahme öffentlicher Aufgaben. Die Burgergemeinde war in manchen Belangen, im Bauwesen etwa sowie in der Kultur- und Sozialpolitik, Partnerin der Stadt. Dies ist bis heute so geblieben. Die Entfaltung der alt bernischen Patriziatsgesellschaft zur heutigen Bürgerschaft ist übersichtlich dargestellt und mit grafisch aufbereiteten Statistiken veranschaulicht. Die seit 1798 neu aufgenommenen Bürger machen heute fast zwei Drittel aus. Es sticht aber ins Auge, dass der elitäre Zug des alten Patriziats nicht verschwunden ist. Die Arbeiterschicht macht noch immer einen marginalen Teil der Berner Bürgerschaft aus.

Viel Raum nimmt die Darstellung der Nutzung und Verwaltung der Burgergüter, bestehend aus Allmenden, Wald und Domänen, ein. Während diese Güter einst der Selbstversorgung in einer immer auch landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft dienten, bestimmen heute gemeindeeigene Mietimmobilien, Bodenrechte und Naherholungsangebote in Wäldern diesen Verwaltungsbereich. Die Burgergemeinde öffnete in den 1840er-Jahren mit dem Bau der Nydeckbrücke hoch über dem Fluss das enge Stadtgebiet in der Aareschlaufe in die Landschaft hinaus. Dies ist ein Vorgang, der der Schleifung der Befestigungsmauern um Städte, etwa in Solothurn, gleichkommt. Die ursprünglichen Landwirtschaftsbetriebe gibt es immer noch, aber sie haben in Vermögensbilanz und Erfolgsrechnung nur mehr einen geringen Stellenwert. Die nämliche Entwicklung lässt sich in sehr vielen anderen Korporationen feststellen. Wo jedoch das bäuerliche Element noch tonangebend ist, etwa in der Schwyzer Oberallmeindkorporation oder in der Korporation Uri, bilden Pachtliegenschaften und vor allem Alpen bis heute den wichtigsten Wirtschaftszweig.

Das Kapitel über die Kulturpolitik der Burgergemeinde, in dem die Geschichte bedeutender Institutionen wie des Naturhistorischen Museums, des Historischen Museums, der Burgerbibliothek und der Stadtbibliothek, des Casinos, des Kunsthauses und die Förderung von Kunstprojekten und Kulturschaffenden dargestellt wird, gleicht einer allgemeinen Geschichte von Wissenschaft, Kunst und Kultur im Raume Bern der letzten Generationen. Gleiches kann von der Sozialpolitik der Burgergemeinde gesagt werden. Sie schuf Waisenhäuser, das Burgerspital für Einkommensschwache und manche weitere Einrichtung im Dienste der Fürsorge. Die Institutionen gehen teils in die Frühe Neuzeit zurück, sie wurden aber immer zeitgerecht weiterentwickelt und erneuert. So verfügt die Burgergemeinde heute über eine beachtliche Kompetenz in sozialen Fragen, die sie zur wichtigen Partnerin der Stadt macht. Aus schweizerischer Sicht augenfällig ist die Rolle, die die dreizehn alten Zünfte wahrnehmen. Sie sorgen selber für in Not geratene Mitglieder. Das Fürsorgewesen geschieht hier ausserhalb staatlicher Strukturen im kleinen Netzwerk der Zunftgemeinschaft.

Das Autorenteam streut gekonnt Einzelereignisse und mikrogeschichtliche Aspekte ein: eine Biographie, ein hervorstechendes Gebäude, eine schief gelaufene Gesetzgebung und anderes mehr. Es sind viele solcher Kleinthemen, gestalterisch hervorgehoben als eigene Textbausteine und Rosinen ähnlich eingereiht, ohne dass sie den Haupttext störten.

Schwerpunkt der Darstellung bilden das 19. und 20. Jahrhundert, die Zeit also seit 1832, als die Burgergemeinde im institutionellen Sinne geschaffen wurde. Bei manchen Themen schauen die Autorinnen und Autoren in die Frühe Neuzeit zurück. Wünschenswert wäre, wenn über die zentrale Frage der Entstehung der Allmendgenossenschaft Bern, die wohl in den Zeitraum der Stadtgründung zurückreicht, und über die ebenso gewichtige Frage der innigen Verbindung der Allmendnutzung und -verwaltung mit der allgemeinen Verwaltung des Stadtstaates Bern ausholender informiert würde.

Ein abschliessendes Kapitel stellt die Burgergemeinde Bern in den schweizerischen Kontext. Die Autorinnen und Autoren wandten sich damit einem sehr grossen Forschungsfeld zu. Die überaus reiche Literatur ist meist nur im lokalen Umfeld bekannt. Solche Korporationen werden heute jedoch auch in der internationalen Forschung, nicht nur der Geschichte, sondern auch der Ökonomie, thematisiert. So setzt sich das Buch ebenfalls mit dem 1990 erschienenen Werk „Governing the Commons“2 der Umweltökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom auseinander. Anhand von Fallbeispielen werden Vergleiche gezogen: In der Bodenpolitik etwa werden St. Gallen und Graubünden miteinander verglichen und jene der Burgergemeinde Bern in diesem Lichte charakterisiert. Das sehr reiche Kapitel bietet Anregungen für weitere Vergleichsarbeiten.

Das Werk, bestehend aus zwei stattlichen Bänden und 863 Seiten umfassend, ist ansprechend gestaltet und reich illustriert. Alte Darstellungen und neue Bilder, vor allem Fotografien, ergänzen den Text stets am passenden Ort. Hilfreich ist zudem das Personenregister. Kein Verzeichnis besteht jedoch für die benutzten Archive und Archivbestände; lediglich in der Einleitung werden die untersuchten Quellen allgemein thematisiert.

Das Autorenteam erbrachte in kurzer Zeit eine beeindruckende Leistung und legt eine gewichtige Publikation vor. Die Burgergemeinde, und allgemein die Allmendgenossenschaften und Koporationen, sind nicht nur für die Geschichte der Stadt und des Kantons Bern bedeutend. Die Thematik ist überall in der Schweiz präsent und will, wenn noch keine zuverlässigen Arbeiten getätigt worden sind, in jedem Kanton, ja in den meisten Gemeinden erhellt und dargestellt werden. Das Werk „Von Bernern & Burgern“ wird der Forschung bei Fall- und vergleichenden Studien als zuverlässiges Auskunfts- und Hilfsmittel von Nutzen sein.

Anmerkungen:
1 Katrin Rieder, Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2008.
2 Deutsche Fassung: Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Staat und Markt, übers. v. Ekkehard Schöller, Tübingen 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
21.10.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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