S. Galle: Kindswegnahmen

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Titel
Kindswegnahmen. Das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge


Autor(en)
Galle, Sara
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
712 S.
Preis
€ 62,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Luzern

Zwischen 1926 und 1973 entrissen Verantwortliche des privaten „Hilfswerks für die Kinder der Landstraße“ Familien der fahrenden Minderheit der Schweiz (Jenische) 586 Kinder, um sie zu „sesshaften“ und „arbeitsamen“ Menschen zu erziehen. Angegliedert war das „Hilfswerk“ der Stiftung Pro Juventute und unterstützt wurde es maßgeblich von der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Ziel war es, die sogenannte „Vaganität“ zu bekämpfen und die „Lebensweise des fahrenden Volkes“ langfristig zu zerstören. Die Verantwortlichen der Pro Juventute arbeiteten dazu eng mit lokalen Vormundschaftsbehörden zusammen.1

Relativ früh befasste sich eine kritische Öffentlichkeit mit den Geschehnissen rund um die Thematik der „Kinder der Landstraße“. Die bereits seit den 1970er-Jahren auf das begangene Unrecht aufmerksam machenden und in der Schweiz seit 1998 als nationale Minderheit anerkannten Fahrenden erhielten so eine Vorreiterfunktion in der Beschäftigung mit der administrativen Versorgung, was sich auch in der historischen Aufarbeitung zeigt. Andere von der administrativen Versorgung ebenfalls betroffene Gruppen rückten weit später in den Blick einer aufmerksam gewordenen Öffentlichkeit, was nicht zuletzt mit der Möglichkeit der Organisation von Opfergruppen zusammenhängt.2 Nicht zu übersehen ist im Falle der Jenischen aber auch, dass die Kritik an den Fremdplatzierungen lange Zeit durch Behörden und öffentliche Meinung erfolgreich abgewehrt wurde. Eine kritische historische Aufarbeitung der „systematischen, rassistisch begründeten Fremdplatzierung jenischer Kinder“3 wurde erst gegen Ende der 1990er-Jahre staatlich finanziell unterstützt. Im Mittelpunkt standen historische Studien zur Aufarbeitung der Akten der Stiftung im Bundesarchiv sowie der schweizerischen „Zigeunerpolitik“ zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland.4

Sara Galle führt mit ihrer voluminösen und konzis verfassten Studie, die als Dissertation an der Universität Zürich 2014 angenommen worden ist, diese Forschung weiter. Sie richtet den Fokus auf die Kindswegnahmen des „Hilfswerks für die Kinder der Landstraße“ der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge. Sie legt damit nicht nur einen breiten und umfassenden Überblick vor, es sind zwei besonders erwähnenswerte Ansätze, die das Buch auszeichnen und über die bisherigen Studien hinausgehen.

Einmal ist es ein breit vernetzender Ansatz, der den Handlungsspielraum der Beteiligten und Betroffenen ausleuchtet und aufzeigt, wie dieser durch Strukturen, Normen, Diskurse und Praktiken des Fürsorge- und Vormundschaftswesens eines Landes geprägt war, das durch föderalen Aufbau und Subsidiarität innerhalb eines schwach ausgebauten Sozialstaats gekennzeichneten war (S. 629). Neben klassischen Bereichen und Bezügen zu den institutionellen Rahmenbedingungen, worin auch die Gründerfigur des Hilfswerks, Alfred Siegfried, eingebaut ist, erhalten Themen ein Gewicht, die bis anhin noch weniger ausgeleuchtet worden sind: Systematisch geht Sara Galle den normativen Grundlagen wissenschaftlicher Aussagen und politischer Strategien nach, so wie sie sich an den untersuchten Fällen präsentieren. Das Kapitel zu den Darstellungen der „Kinder der Landstraße“ in Werbeschriften, Diplomarbeiten und in der Schweizer Presse lenkt den Fokus auf den gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Ausgeleuchtet wird ferner die Rolle der Psychiatrie in der Fürsorgepraxis und unter „Grenzen der Aktion ‚Kinder der Landstraße‘“ werden die Handlungsräume von Eltern, Vormündern und Behörden sichtbar. Damit finden sich auch Antworten auf die Kernfrage, wie es dazu kommen konnte, dass eine private Stiftung bei Behörden Anträge stellte. Der Erfolg des „Hilfswerks“ war wesentlich von Spenden von Privatpersonen, Firmen und Vereinen abhängig.

Weiter ist es der historische Ansatz dieser Studie, der es ermöglicht, die verschiedenen Ebenen zusammenzubringen und eine Antwort auf die Fragen zu finden, welche Familien von der „Aktion Kinder der Landstraße“ betroffen waren. Analysiert wird aber auch, wie die Kindswegnahmen begründet wurden und welche Rolle betroffenen Eltern und beteiligten Behörden zukam. In der detailreichen und vielfältigen Studie finden sich entsprechend reichhaltige neue Erkenntnisse, wobei auch Paradoxien ausgeleuchtet werden: So erwies sich die von der Stiftung lange Zeit verbreitete Darstellung, sie sei im Auftrag der schweizerischen Landesregierung (Bundesrat) gegründet worden, als Mythos. Wie Sara Galle aufzeigen kann, war es in erster Linie das Ziel, die überforderten Gemeinden von ihren Aufgaben zu entlasten. Diese wiederum mussten angesichts der hohen Kosten, die eine Wegnahme der Kinder aus ihren Familien für das Gemeindebudget mit sich brachte, von Anfang an von der Aktion der „Kinder der Landstraße“ überzeugt werden. Neben einer in Aussicht gestellten Kostenbeteiligung durch das „Hilfswerk“ und weiteren Unterstützungen war die Vorstellung prägend, dass die Kinder nur durch eine Fremdplatzierung zu „brauchbaren Gliedern“ der Gesellschaft werden könnten. Solche Vorstellungen wurden durch die Wissenschaft gestützt und Medien popularisierten die wissenschaftlichen Erklärungsmuster, die sich mit den stereotypen Vorurteilen wie auch schichts- und geschlechtsspezifischen Stigmata gegenüber „Vaganten“ deckten. Mehr als ein Fünftel der Mündel des „Hilfswerks“ standen unter heilpädagogischer Beobachtung oder waren in einer psychiatrischen Klinik platziert. Psychiater diagnostizierten anlagebedingte Persönlichkeitsstörungen, Schwachsinn und Psychopathie. Dennoch will Sara Galle nicht von einem „kulturellen Genozid“ sprechen, denn bei den Entscheiden der Vormundschaftsbehörden spielten mit einer Ausnahme eugenisch motivierte Erwägungen keine Rolle (S. 653). So lässt sich eher von einem „systematischen Beispiel einer fürsorgerischen Sozialdisziplinierung in der Schweiz“ sprechen, wie es der zu Beginn der Studie zitierte Urs Germann formuliert (S. 30).

Das Ziel des Leiters des „Hilfswerks“, Alfred Siegfried, der trotz seiner Verurteilung als Sexualstraftäter später als Berufsvormund tätig war und dessen Hartnäckigkeit und Disziplin wohl mit seiner Vergangenheit und Verurteilung zu deuten ist, war es denn auch, die Familien aufzulösen. Auffallend oft, wie dies Sara Galle zeigen kann, verfehlte Siegfried jedoch sein Ziel. Damit werden die Grenzen der Aktion „Kinder der Landstraße“ sichtbar, die in erster Linie mit den begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen erklärt werden können. Dies minderte jedoch den Druck auf die betroffene Gruppe nicht. Breit war der gesellschaftspolitische Konsens, der von konservativen wie auch progressiven Kräften unterschiedlicher politischer wie auch konfessioneller Zugehörigkeiten und regionaler Herkunft getragen worden ist, den als „Vaganten“ eingestuften Familien die Kinder zu entziehen (S. 75). Es sind diese gesellschaftsanalytischen Bezüge mit den Netzwerken, Diskursen und Praktiken, die die Studie von Sara Galle besonders auszeichnen. Damit setzt sie wichtige Leitplanken für die Forschung zu weiteren betroffenen Gruppen administrativ Versorgter, die mit „Fürsorge und Zwang“5 konfrontiert waren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Martin Lengwiler u.a., Bestandsaufnahme der bestehenden Forschung in Sachen Verding- und Heimkinder. Bericht zuhanden des Bundesamts für Justiz EJPD, Basel 2. April 2013, S. 30.
2 Markus Furrer, Erinnerung und Aufarbeitung – am Beispiel der Untersuchung der Vorkommnisse in Kinderheimen im Kanton Luzern, in: Peter Gautschi / Barbara Sommer Häller (Hrsg.), Beiträge von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen, Schwalbach/Ts. 2014, S. 218–231.
3 Vgl. dazu: Thomas Huonker, Zum Forschungstand betreffend Fremdplatzierung in der Schweiz, in: Markus Furrer u.a. (Hrsg.), Fürsorge und Zwang: Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850–1980, Basel 2014, S. 39–50, hier S. 43.
4 Zu den weiteren Publikationen siehe: Walter Leimgruber / Thomas Meier / Roger Sablonier, Das Hilfswerk für die Kinder der Landstraße. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv, Bern 1998, hrsg. vom schweizerischen Bundesarchiv; Thomas Huonker / Regula Ludi, Roma, Sinti und Jenische, schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, hrsg. von der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bern 1999 / Zürich 2001.
5 Markus Furrer u.a. (Hrsg.), Fürsorge und Zwang. Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850–1980. Entre assistance et contrainte: le placement des enfants et des jeunes en Suisse 1850–1980, Basel 2014.

Redaktion
Veröffentlicht am
01.02.2017
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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